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Anja Bossen. Foto: Christian von Polentz, transit
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Stille Nacht – ein Lied für Quereinsteiger

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Eine neue Folge des musikalischen Weihnachtsmärchens
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Kurz vor Beginn des neuen Schuljahres feiert Pia Pauper ihren 50. Geburtstag – den schönsten, den sie je hatte. Denn zum allerersten Mal kann sie alle ihre Freunde und Bekannten einladen und auch die Geburtstagstorte selbst bezahlen. Früher, als sie noch Klavierlehrerin an der Musikschule „Guldenfern & Preker“ war, haben immer ihre Schüler zusammengelegt und ihr eine Geburtstagstorte geschenkt. Allerdings haben sie die Torte dann mit Pia zusammen auch selbst aufgegessen, und für die Freunde und Bekannten blieb kein Krümel übrig.

Aber seit zwei Jahren ist alles anders. Pia Pauper ist jetzt nämlich nicht mehr Musikschullehrerin, sondern Quereinsteigerin an einer Grundschule. Die Regierung sucht ganz viele Musiklehrer für die Schulen, damit der Musikunterricht nicht immer ausfällt und die Eltern deswegen sauer auf die Regierung sind und aus lauter Frust die BfD (Blond für Deutschland) wählen. Die hat nämlich versprochen, dass der Musikunterricht unter einer BfD-geführten Regierung ganz bestimmt nie mehr ausfallen wird und nur noch blonde Lehrer unterrichten dürfen. Pia fragt sich, wo die BfD so viele blonde Lehrer herbekommen will, aber das interessiert die meisten Leute nicht wirklich.

Eigentlich wollte Pia Pauper viel lieber Klavierlehrerin bleiben, denn sie war unheimlich gern an der Musikschule und hatte auch immer tolle Klavierschüler, die bei „Jugend musiziert“ gewonnen haben. Aber jetzt findet sie es doch ganz schön, dass sie ihr Gehalt auch bekommt, wenn sie mal krank ist oder Ferien sind oder ein Schüler fehlt. Früher hat sie nach dem Unterrichten immer bei Aldi ausgeholfen und am Wochenende das „Neu-Reichhaller Tageblatt“ ausgetragen, aber man wird ja schließlich nicht jünger. Also hat sie sich bei der Regierung gemeldet und durfte auch sofort in einer Grundschule anfangen, allerdings nicht in Neu-Reichhall. Sie muss jetzt immer ein bisschen fahren, um zur Mozart-Beethoven-Schule nach Niederbarm-Elend zu kommen. Als Pia Pauper den Namen der Schule auf dem Schreiben von der Regierung gesehen hat, war sie trotz der Fahrerei ganz begeistert, denn sie dachte, dass an einer Schule mit diesem Namen Klassische Musik bestimmt ganz wichtig wäre. Und Pia kann ganz viele Stücke von Mozart und Beethoven richtig gut auf dem Klavier spielen. Als sie noch Musikschullehrerin war, hat sie nämlich jede Nacht vier Stunden geübt, wenn sie mit dem Aufpacken bei Aldi und dem Zeitungaustragen fertig war.

Am ersten Tag

An ihrem ersten Tag in der Mozart-Beet­hoven-Schule war dann aber alles ganz anders, als Pia vorher gedacht hatte. Als sie sich in der 4b vorgestellt und „Frau Pauper“ an die Tafel geschrieben hat, hat sie vor lauter Aufregung das „a“ in ihrem Namen vergessen. Weil sie das aber nicht gemerkt hat, hat sie sich gewundert, warum die Schüler alle anfingen zu lachen, bis sie nicht mehr konnten. Manche fielen vor Lachen sogar mit ihrem Stuhl um! Rico und Kevin fingen an, mit dem Po zu wackeln und ganz laute Pupsgeräusche mit dem Mund zu machen. Dazu riefen sie ganz laut: „Frau Puper kann super Pupse!“ Da ist Pia knallrot geworden und wollte am liebsten aus der Klasse rennen. Auf sowas ist sie in dem einwöchigen Vorbereitungskurs in Schulpädagogik von der Regierung nicht vorbereitet worden, und an der Musikschule wäre das ganz sicher nie passiert! Da musste sie ihren Namen überhaupt nicht anschreiben, und selbst wenn sie einen so blöden Fehler gemacht hätte, hätten ihre Schüler ihr ganz höflich gesagt, dass sie das „a“ vergessen hat und nicht über sie gelacht und Pupse nachgemacht.

Als sie kurz davor war, loszuheulen, hatte sie plötzlich eine Idee. Rico hat nämlich auch noch frech grinsend gefragt, ob sie jetzt in Musik immer so Pupsgeräusche machen könnten, das wäre voll geil. „Das ist es!“, dachte Pia. Schließlich hatte sie im Lehrplan gelesen, dass sie die Lebenswelt der Schüler immer in ihre Unterrichtsplanung einbeziehen sollte, und da hat sie mit der Klasse aus den Pups-Geräuschen von Rico und Kevin einen Kanon mit Mouth-Percussion gemacht. Alle Schüler waren total begeistert und haben super mitgemacht. Am Ende konnten sie ihn sogar vierstimmig. Pia war mächtig stolz auf sich. Aber da hatte sie noch keine Ahnung, dass ihr diese Idee noch viel Ärger einbrocken würde. Leider hat der Pups-Kanon den Kindern nämlich so gut gefallen, dass sie ihn auch den anderen Lehrern vorgemacht haben. Die fanden das gar nicht lustig. Pia musste deswegen zu einer Lehrerkonferenz, und alle waren sauer auf sie, weil sie meinten, dass sie den Ruf der Mozart-Beethoven-Schule geschädigt habe. Obwohl Pia genau aufzählen konnte, welche Kompetenzen die Kinder erworben hatten, wurde sie vom Schulleiter dazu verdonnert, zum Ruf der Schule künftig positiver beizutragen. Schließlich hätte sie ja weder Pädagogik noch Didaktik studiert und man habe schon genug Arbeit mit den ganzen Quereinsteigern, da brauche man nicht noch so neumodische Ideen.

„Na gut“, dachte Pia kleinlaut, „dann mache ich jetzt eben was über Mozart und Beethoven“. Sie hat nochmal ganz viel Klavier geübt und wollte den Kindern die Mondschein-Sonate und den zweiten Satz aus dem Klavierkonzert Nr. 20 von Mozart vorspielen. Aber schon nach fünf Takten musste sie aufhören. Chantal und Kira fingen an zu gähnen und die Augen zu verdrehen, Kevin und Rico wollten lieber wieder den Pupskanon machen und auch der Rest der Klasse fing an rumzumaulen. „Boah, krass langweilig“ meinte Trixi. „Ja, langweilig, laaangweilig, laaaaaangweilig, echt jetzt“, fielen alle anderen ein. „Wie könnt Ihr das sagen, wenn Ihr nicht mal eine Minute zuhört?“ fragte Pia empört, „und überhaupt – Mozart und Beethoven gehören zu den berühmtesten Komponisten, die jemals gelebt haben! Diese Musik ist nicht langweilig!“ „Kompo-was? Haben die bei DSDS gewonnen, kennich gar nich“, wollte Ibrahim wissen. „Mozart, klar kennich, der war doch taub, kein Wunder, dass das voll lahmarschig klingt“, murmelte Patrick. Da meinte Lilly erbost: „Ej Alta, Mozart is nich lahmarsch, is voll lecka! Bringt meine Oma immer mit, so runde Dinger mit grün drin!“. Mozart – taub – lecker – Oma? Pia war verwirrt.

Dann fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Ibrahim verwechselte Beet­hoven und Mozart, hatte aber schon mal was über Beethoven gehört. Lilly aß öfter Mozartkugeln, die ihre Oma ihr mitbrachte, und hielt Mozart für einen Konditor. Ibrahim guckte regelmäßig DSDS und dachte, dass Musiker generell aus Castingshows hervorgehen.

Pia war ganz schön verzweifelt, denn ihr war nicht klar, wie sie dieses kollektive Klassenwissen in neue Bahnen lenken sollte. Bis ihr die rettende Idee kam: Sie würde bis Weihnachten eine Unterrichtssequenz zum Thema „Weihnachten im Hause Mozart und Beethoven“ machen. Dabei könnte sie mit den Kindern auch gleich noch ein paar Lieder für die Weihnachtsaufführung einüben. Dann würde auch bestimmt nicht wieder die Diskussion vom letzten Weihnachten losgehen. Da wäre die Weihnachtsaufführung nämlich fast geplatzt. Pia wollte mit den Kindern „Stille Nacht“ und noch ein paar andere Weihnachtslieder aus anderen Ländern einüben und hatte die Kinder gebeten, die Texte zu Hause zu lernen. Zuerst standen die Eltern von Merve auf der Matte und sagten zu Pia, Merve dürfe keine Weihnachtslieder singen, weil sie Muslima sei. Dann kam Emilias Vater in die Schule und beschwerte sich ebenfalls. Er und seine Familie seien Veganer und unterstützten die Ausbeutung von Ochs und Esel durch die Kirche auf keinen Fall, und er wolle auch nicht, dass Emilia durch das Singen von „Stille Nacht“ dafür instrumentalisiert werde. Als nächste kam die Mutter von Lysanne-Carolyn und drohte Pia eine Klage an – wegen der Diskriminierung von Mädchen an den Stellen „holder Knabe im lockigen Haar“ und „Gottes Sohn“ in „Stille Nacht“. Als dann noch Richard-Percevals Vater kam, von dem jeder in der Schule weiß, dass er einen wichtigen Posten in der BfD hat, und wollte, dass die Kinder nur Lieder auf Deutsch singen, wusste Pia schließlich nicht mehr weiter. „Da muss ich wohl ans Ministerium schreiben“, dachte sie, „denn wie soll ich das nur alles unter einen Hut bekommen?“

Verwirrende Antwort

Aber die Antwort vom Ministerium verwirrte sie nur noch mehr: „Interkulturelle Kompetenz wird im gesamten Land großgeschrieben, ob in Neu-Reichhall oder in Niederbarm-Elend. Gegenseitige Toleranz und Respekt vor dem jeweils anderen sowie die Fähigkeit zur religiösen und außerreligiösen Perspektivenübernahme sind am Ende der 4. Klasse von jedem Schüler verbindlich auf Niveau Z nachzuweisen. Zur Erreichung dieses Ziels besteht bezüglich Ihres Vorhabens unseres Erachtens die Möglichkeit, mit den Kindern Weihnachtslieder zu singen, die es in allen Kulturen und Religionen gibt. Darüber hinaus sehen wir ein breites Potenzial zur Förderung kreativer und interkultureller Kompetenzen, indem die Kinder gemeinsam einen eigenen Weihnachts-Klassensong rappen. Dabei können sie ihre individuell unterschiedlichen Erfahrungen mit und Auffassungen über Weihnachten einbringen, sie in einer von gegenseitigem Vertrauen und Respekt geprägten Atmosphäre argumentativ erörtern und sachgerecht begründen.“ Pia dachte sofort daran, dass sich die vertrauensvolle Atmosphäre bisher auf dem Fußboden abgespielt hatte und die sachgerechten Argumente in ausgerissenen Haarbüscheln und blauen Flecken bestanden. Schließlich waren in Niederbarm-Elend in jeder Klasse mindestens fünf Kinder mit dem Förderschwerpunkt emotionale-soziale Entwicklung, die hatten es nicht so mit dem Argumentieren. Das hatte Pia bei ihrer Bewerbung aber keiner gesagt.

Nein, dieser Ratschlag des Ministeriums half ihr nicht weiter. An die Kollegen konnte sie sich kaum wenden, die waren schließlich eh schon sauer und hatten keine Zeit. Da kam ihr die rettende Idee: Sie würde die Weihnachtslieder mit den Kindern überhaupt nicht singen, sondern nur mit Bodypercussion einstudieren. Dagegen konnte doch eigentlich niemand was einzuwenden haben. Allerdings hatte sie nur einen Wochenendkurs in Schnipsen und Patschen gemacht. Ob das für eine anspruchsvolle Interpretation wohl reichen würde? Aber dann dachte sie: „Lieber musikalische Abstriche als eine Klage am Hals“ und fing an, „Stille Nacht“ mit den Kindern zu schnipsen und zu patschen. Es ging aber nur ganz, ganz langsam voran, weil die meisten Kinder sich die richtige Reihenfolge der Schnipser und Patscher nicht länger als drei Sekunden merken konnten und sie immer und immer wieder von vorn anfangen mussten.

Ein gerührter Schulrat

Nur wenige Tage später lag in Pias Fach ein schöner bunter Werbeflyer für das Projekt „ToDuSchniPa“ („Tolerant durch Schnipsen und Patschen“). „Das kommt ja wie gerufen“, dachte Pia, denn in dem Flyer stand: „ToDuSchniPa richtet sich an Kinder mit Entwicklungsrückständen in Interpersoneller Toleranz und/oder Motorisch-Energetischer Empathie“. Die Teilnahme kostete auch nichts, denn die ToDuSchniPa-Lehrer wurden alle von der Olli-Garch-Stiftung in Neu-Reichhall fortgebildet und bezahlt. Prompt meldete Pia die Klasse an.

Als die ToDuSchniPa-Lehrerin zum ersten Mal in die Klasse kam, konnte Pia kaum glauben, wer da vor ihr stand: Das war doch tatsächlich ihre ehemalige Flöten-Kollegin Pecunia Piepenlos von der Musikschule „Guldenfern & Preker“. Pecunia erzählte ihr, dass sie wegen der Ganztagsschule kaum noch Flötenschüler habe und deswegen letztes Jahr die Fortbildung zur ToDuSchniPa-Lehrerin absolviert habe. Und das merkte man auch: Schon nach vierzehn Stunden konnten die Kinder die erste Strophe von „Stille Nacht“ korrekt patschen und schnipsen.

Am Tag der Weihnachtsaufführung kam ein wichtiger Mann vom Ministerium in die Schule. „Ich wollte doch mal sehen, was aus Ihrem Unterrichtsvorhaben geworden ist“, sagte er zu Pia. Zum Glück legten sich die Kinder mächtig ins Zeug und schnipsten sogar die punktierte Note am Anfang von „Stille Nacht“ rhythmisch perfekt und mit innigem Ausdruck. Die Augen des Mannes glänzten vor Rührung. Tief bewegt schüttelte er Pia vor allen Leuten die Hand. „Dass wir mit unserem Quereinsteiger-Konzept dermaßen erfolgreich sein würden, war wirklich nicht absehbar“, sagte er. „Sie haben gemeinsam mit der Olli-Garch-Stiftung ein wahres Wunder an diesen Kindern vollbracht. Dass alle gemeinsam und so friedlich Weihnachtslieder aufführen würden, hätte ich mir nicht träumen lassen! Ich denke schon über eine Erweiterung des Projektes in die Sekundarstufen nach. ToDuSchniPa könnte ein neuer Leuchtturm in der musikalischen Bildungslandschaft werden.“ Inzwischen fingen Pias Augen an zu leuchten: „Was für eine großartige Idee – und dann machen wir ein Event mit 30.000 ToDuSchniPa-Schülern im Olli-Garch-Monetarium.“ Als alle weg waren, half Pia Pecunia Piepenlos noch beim Aufräumen. Zum Abschied überreichte sie Pecunia eine hübsch verzierte Torte. „Die ist für Dich ganz allein! Ich weiß doch, dass Du das sonst nie hast.“

Seit diesem Tag ist Pia überglücklich, dass sie Quereinsteigerin ist. Sie verdient jetzt so viel, dass sie nicht nur eine Torte für sich, sondern auch noch eine für Pecunia kaufen kann. Und wer weiß – wenn sie alles so macht, wie der Mann von der Regierung will, bekommt sie vielleicht sogar noch einen Job im Ministerium. Dann könnte sie sogar jeden Tag ganz allein eine Torte essen.

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