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Hochschulmagazin der nmz.
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Stress lass nach

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Zum Einfluss von Atemtraining auf das Musizieren
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Musiker*innen sind gefordert, körperliche und mentale Höchstleistungen zu erbringen. Sie können dabei von Atemtrainings profitieren, die im Spitzensport, bei Spezialeinheiten von Militär, Polizei sowie anderen Einsatz- und Notfallkräften international bereits etabliert sind. Über die Atmung lässt sich Bewusstsein für (Stress-)Belastungen kultivieren, um richtig darauf zu reagieren und Überlastung bis hin zu Burnout zu vermeiden. Daneben kann über die Atmung verhindert werden, dass Stress überhaupt entsteht (etwa durch Lampenfieber). Dort wo sich die Entstehung von Stress nicht vermeiden lässt, bietet die Atmung Möglichkeiten zur besseren Stressverarbeitung.

Auf Initiative von Roman Rindberger wird vom Verfasser seit April 2019 an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien forschungsorientierte Lehre zur Unterstützung von Musiker*innen und Künstler*innen durch Atemtraining betrieben. Im Rahmen dieser Lehre wurde mit ausgewählten Studierenden anhand von Messungen bestimmt, wo Stress beim Musizieren und im Alltag auftaucht. Des Weiteren wurde gemessen, ob Mangelzustände von Sauerstoff und Nährstoffen aufgrund von schlechten Atemgewohnheiten auftreten und welche Belastung diese darstellen. Aufbauend auf den Messergebnissen wurde für jede*n Teilnehmer*in ein individuelles Atemtraining zusammengestellt und durchgeführt.

Im Rahmen der vom Verfasser betreuten Masterarbeit von Christoph Skuk wurde von November 2020 bis Januar 2021 eine umfangreiche empirische Studie unter den Studierenden der MUK durchgeführt. Von den damals 958 inskribierten Studierenden haben 164 den Fragebogen vollständig ausgefüllt. Dabei wurden Daten über Gesundheitszustand, atembezogene gesundheitliche Probleme, Verhaltensmuster im Umgang mit Stress und Ausgleichsaktivitäten erhoben. Aus dieser Studie lassen sich interessante Erkenntnisse über die Stressbelastung und den Umgang der MUK-Studierenden mit Stress gewinnen.

Stressbelastung

Ein wichtiger Indikator für Stress ist die Schlafqualität. Jede*r dritte Studienteilnehmer*in gibt an, nach dem nächtlichen Schlaf nicht gut ausgeruht zu sein. Auch gesundheitliche Probleme können ein Indikator für Stressbelastungen sein und einen Beitrag zur Verschlimmerung leisten. 40 Prozent der Studienteilnehmer*innen haben Muskelschmerzen; 29 Prozent sind leicht ermüdbar; knapp jede*r Vierte gibt an, unter schlechter Konzentration und Gedächtnisschwierigkeiten zu leiden; 17 Prozent geben an, dass mit der Atmung Schmerzen oder Verspannungen verbunden sind. Diese besorgniserregenden Ergebnisse zeigen, dass Stressbelastungen bereits für den musikalischen Nachwuchs ein großes Thema sind.

Die Polyvagaltheorie kann anhand der Struktur des autonomen Nervensystems eine Erklärung für diese hohen Zahlen und die große Stressbelastung von Musiker*innen liefern. Musik ist Kommunikation; eine Voraussetzung für Kommunikation ist die Aktivierung des vorderen Zweigs des Vagusnervs. Dieser wird aber abgeschaltet, wenn der Körper in den Kampf- oder Fluchtmodus wechselt oder erstarrt. Die Fähigkeit aus dem Kampf- oder Fluchtmodus auszusteigen (sich herunterzuregulieren), kann daher für das Gelingen der Berufsausübung von extrem großer Bedeutung sein (Stichwort: Lampenfieber). Wenn diese Regulation nicht funktioniert, entsteht sofort ein Problem. Dadurch verstärkt sich der Leistungsdruck noch.

Stress und Leistungsdruck werden auch anhand der Atmung sichtbar. Auf die Frage, ob Stress die Atmung der Studienteilnehmer*innen beeinflusst, antworten 67 Prozent mit Ja. Von jenen, die mit Ja geantwortet haben, treten die Probleme am häufigsten in Zusammenhang mit Solo-Auftritten (70%) auf und zu 64 Prozent vor oder nach einem Auftritt. Aber auch beim Unterricht (23%) und bei Gruppenauftritten (19%) sind die Zahlen beachtlich. Dass Stress so klar in der Atmung wahrnehmbar zum Ausdruck kommt, liegt an den Wirkungen der sogenannten Stressreaktion auf die Atmung. Umgekehrt kann über die Atmung Einfluss auf die Stressreaktion genommen werden. Daraus ergeben sich verschiedene Möglichkeiten zur Stressbewältigung.

Stressbewältigung

Die negativen gesundheitlichen und leistungseinschränkenden Wirkungen von anhaltendem und chronischem Stress sind hinlänglich bekannt. Die Zahlen aus dem letzten Abschnitt sprechen eine deutliche Sprache. Sie zeigen, wie wichtig es für Musiker*innen ist, Stresskompetenz zu entwickeln, um Erkrankungen vorzubeugen. Diese Erkenntnis wird noch dadurch verstärkt, dass die Stressregulationsfähigkeit mit zunehmendem Alter abnimmt. Probleme im Umgang mit Stress werden tendenziell im Laufe der Zeit größer und nicht kleiner. Bei der Erhebung wurden die Studierenden gefragt, ob sie zur Stressbewältigung auf Alkohol, Zigaretten, Medikamente oder Essen zurückgreifen. Fast die Hälfte der Studienteilnehmer*innen beantwortete diese Frage mit Ja. Die größte Bedeutung kommt dabei mit 33 Prozent dem Essen aus Stress zu, gefolgt von Rauchen und Alkohol mit je 16 Prozent und Medikamenten mit 5 Prozent.

Auch an diesen Zahlen wird ersichtlich, wie wichtig Stresskompetenz ist. Im Umgang mit Stress können die folgenden drei Strategien unterschieden werden:

  • Stressvermeidung: Stressoren aus dem Weg gehen oder sie zeitlich verschieben
  • Stressentstehung: verhindern, dass Stress überhaupt entsteht
  • Stressverarbeitung: körperliches Verarbeiten von Stress (z. B. durch Sport)

Stressvermeidung

Eine wichtige Voraussetzung für Stressvermeidung ist die Fähigkeit, Stress körperlich wahrzunehmen. Erst das Bewusstsein ermöglicht es, selbstverantwortlich die richtigen Entscheidungen zu treffen. Das zeigt sich an Methoden wie der von der US Navy verwendeten COSC Methode (Combat and Operational Stress Control). Die bewusste Atmung führt direkt in die Körperbeobachtung und stellt damit ein Instrument für Stresswahrnehmung und -vermeidung zur Verfügung. In der Arbeit mit den Studierenden lieferten neben der Schulung der Wahrnehmung die bereits erwähnten Messungen des autonomen Nervensystems Erkenntnisse zur Stressvermeidung. Oft zeigten sich während des Musizierens sehr ausgleichende und gesundheitsfördernde Werte. Wobei es vielfach mit steigendem Schwierigkeitsgrad zu deutlich niedrigeren Werten und Stress kam. Bei musikalisch besonders erfolgreichen Teilnehmer*innen zeigten sich interessanterweise mit steigendem Schwierigkeitsgrad bessere Werte.

Stressentstehung

Die Entstehung von Stress zu verhindern, bedeutet, bei der Stressreaktion anzusetzen. Als Stressreaktion werden jene körperlichen Prozesse bezeichnet, die bei einer Kampf- oder Fluchtreaktion ausgelöst werden. Die Stressreaktion bewirkt eine Verflachung und Beschleunigung der Atmung. Bewusste, langsame Bauchatmung kann die Stressreaktion unterbinden und so beispielsweise Angst verringern oder sogar vollständig beseitigen. Eine Technik der bewussten, langsamen Bauchatmung ist das kohärente Atmen. Dazu wurde die Kohärenzfrequenz jedes*r Studenten*in bestimmt. Oft wird eine Frequenz von sechs Atemzügen pro Minute einfach angenommen. In dieser Frequenz kann dann mit Hilfe einer App am Smartphone in den Bauch geatmet werden. In der Arbeit mit den Studierenden konnten damit hervorragende Ergebnisse erzielt werden. Armin Kerschbaumer schreibt in seiner Bachelorarbeit über die erste Anwendung von kohärentem Atmen kurz vor einem Auftritt: „Ich hatte vom ersten Moment an auf der Bühne, ein völlig anderes Wahrnehmungsbild, da jegliche Aufregung, welche sich sonst üblicherweise in den Minuten vor dem Auftritt angestaut hat, einfach nicht präsent war und ich viel befreiter und ohne wirklich starke Symptome meine Leistung abrufen konnte.“

Stressverarbeitung

Atemübungen wie das kohärente Atmen können auch dabei helfen, die durch die Stressreaktion entstandenen Spannungen im Körper im Nachhinein zu lösen. Eine weit verbreitete Form der atembezogenen Stressverarbeitung ist Sport. Über 70 Prozent der Studienteilnehmer*innen gaben an, regelmäßig Sport zu betreiben. Die Frage, ob ruhige, ausgleichende Aktivitäten (z. B. Yoga, Meditation etc.) betrieben werden, beantworteten 57 Prozent mit Ja. Die Messungen mit den Studierenden haben bezüglich Stressverarbeitung und Ausgleich gezeigt, dass Sport und ruhige, ausgleichende Aktivitäten oft so ausgeübt werden, dass bestehende Belastungen des autonomen Nervensystems verstärkt statt ausgeglichen werden. Sport so auszuüben, dass er Regeneration und Leistungsfähigkeit optimal unterstützt, ist also nicht selbstverständlich und will gelernt sein. Dabei zeigten sich auch bei der Auswahl der richtigen Ausgleichsaktivität/Sportart große Unterschiede zwischen den Studierenden. Bei einigen Studierenden wirkten Krafttraining oder Fußball spielen mit sehr hohem Puls besonders ausgleichend. Bei anderen Studierenden Yoga oder ein ruhigeres Training am Stepper/Crosstrainer. Die Wirkung von Lauftraining hing stark von der Intensität ab, brachte aber bei den meisten Messungen gute Ergebnisse.

Die Erkenntnisse der forschungsorientierten Lehre zur Unterstützung von Musiker*innen durch Atemtraining veranschaulichen eindrucksvoll, wie wichtig es ist, die Studierenden nicht nur in ihrer musikalischen, sondern auch in ihrer körperlichen Weiterentwicklung zu unterstützen und auf zukünftige Arbeitsbedingungen und Herausforderungen vorzubereiten. Wissenschaftlich fundiertes Atemtraining bietet die Möglichkeit, Stresskompetenz zu entwickeln, um den hohen körperlichen und mentalen Anforderungen, die an Musiker*innen gestellt werden, gelassen und freudvoll entgegentreten zu können. Dazu ist es notwendig, Lehrende und Studierende für das Thema zu sensibilisieren. Gleichzeitig sollte die Vermittlung von Stresskompetenz von musikalischen Bildungseinrichtungen und Universitäten in die Ausbildung integriert werden.

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