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Via Streaming alle Probenschwierigkeiten überwinden: das Vierimpuls Quartett. Foto: Holger Kurtz
Via Streaming alle Probenschwierigkeiten überwinden: das Vierimpuls Quartett. Foto: Holger Kurtz
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Synchronizität in Zeiten des Streamings

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Wie ein Quartett die Entfernung München-England überbrückt
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Zwei noch junge Musiker, die sich nie getroffen haben, stehen am gleichen Punkt in ihrem Leben, als sie beschließen, etwas gegen die drohende Auflösung ihrer Ensembles zu unternehmen. Einer von ihnen entwickelt eine Software, die der andere zehn Jahre später entdeckt, um damit eintausend Kilometer zu überbrücken.

Der Entwickler

In dem Jahr, als sich Italien nicht nur für die Fußball-WM in Deutschland qualifizierte, sondern auch noch Weltmeister wurde, sah sich nicht nur die deutsche Nationalelf mit einem zu frühen Ende konfrontiert. Auch Volker Fischer musste Abschied nehmen. Einen Abschied, wie ihn wohl jeder Schüler einmal erlebt: das Ende der Schule. Doch damit nicht genug: „Man trifft sich in der Abiturszeit, gründet eine Band und dann verstreuen sich die Bandmitglieder in ganz Deutschland zum Studieren“, erinnert sich Volker heute zurück. Diese anfänglich als „Fermate“ verkleidete Endnote einer Bandhistorie kennen viele Musiker, die in Bands aktiv sind. Volker  tauschte nun aber nicht einfach die Menschen hinter den Instrumenten aus oder suchte sich eine neue Band, sondern entwickelte eine Lösung für dieses Problem. Eine, die zehn Jahre später ein Münchner Streichquartett vor der Auflösung retten sollte.

Die Entdecker

Konrad sitzt in einem Labor im Trinity College in Cambridge. Seit 2015 promoviert er dort als Graduate in Physik zu dem Thema „Ultrakalte Quantengase in optischen Gittern”, doch heute ist er nicht deswegen hier. Das Labor bietet etwas, das die Kopfhörer auf seinen Ohren und die Bratsche in seiner linken Hand rechtfertigen: starkes WLAN. Es ist 19.00 Uhr, gleich geht es los.

„Es ist 20.00 Uhr, gleich geht es los“, denken sich hingegen Minh, Miriam und Charlotte. Sie sitzen sich mit ihren Streichinstrumenten gegenüber und spielen sich ein. Gemeinsam heißen sie Vierimpuls Quartett und proben gleich das achte Streichquartett von Shostakovich. Abgesehen davon, dass sie alle Medizin studieren statt Musik, nichts Ungewöhnliches.

Die Lösung

Was nun zeitgleich passiert, ist technisch nicht ganz einfach. Über die an den Instrumenten angebrachten Mikrofone werden die Audio-Signale über ein Interface und ein MacBook an die Software „Jamulus“ weitergegeben. Diese Open Source Software wurde 2006 von Volker nach dem Abitur entwickelt, um seine Band zusammenzuhalten. Statt jedes Audiosignal an alle Musiker zu senden, werden die einzelnen Signale in Echtzeit an einen gemeinsamen Server übertragen. Von dort werden sie sowohl nach Cambridge in Konrads Kopfhörer als auch in die Monitorboxen in Minhs Wohnzimmer gesendet, wo gerade drei Viertel des Quartetts sitzen.

Mit dieser Konstellation probt das Vier­impuls Quartett regelmäßig über die Entfernung München–England. Als Konrad für sein Auslandsstudium München verließ, suchte das Quartett nach einer Lösung, um dennoch gemeinsam proben zu können. Zwei Jahre hat es gedauert, die richtige Hardware und Software zu konfigurieren, um die Latenz der Audioübertragung möglichst gering zu halten. Denn Quartettspiel ist klingende Präzisionsarbeit. Auch schnelle Staccato-Partien mussten sauber klingen, da ein synchrones Zusammenspiel sonst nicht möglich war.

Ein zentrales Konzept im Quartettspiel ist die Anpassung jedes Instrumentes an die Variationen in der Interpretation der anderen. In einer Untersuchung der University of Birmingham von 2014 wurde diese Synchronität untersucht: „Wie sich zeigte, synchronisieren erfahrene Musiker ihr Spiel unbewusst immer etwa ab dem gleichen Maß der Abweichung. Ist diese erreicht, spielen sie den nächsten Ton gerade so viel länger oder kürzer, dass die Abweichungen sich nicht weiter aufschaukeln können.“ (Quelle: nach Podbregar, Bild der Wissenschaft)

Ist die Latenz der Audio-Übertragung zu hoch (sprich, gibt es eine zu große Verzögerung), so führt dies zu unerwarteten Abweichungen, die das bewegliche Konstrukt überspannen. Dieser Umstand bringt den Rhythmus ins Wanken und macht das gemeinsame Spiel unmöglich. Nicht-Musiker kennen dieses Problem durch Anbieter von Video-telefonie über das Internet (zum Beispiel Skype): Verzögert sich die Übertragung, fällt man dem Gegenüber ins Wort – das Gespräch wird zur Qual.

Um die Internetverbindung nicht unnötig zu belasten, wird von Konrad kein Bild übermittelt. Die interne Kommunikation des Streichquartetts funktioniert daher über gemeinsames Atmen. Für einen Zuschauer ist diese Abstimmung nur schwer wahrnehmbar; es scheint fast so, wäre der exakte Zeitpunkt festgelegt, an dem Konrad mit seiner Bratsche einsetzt.

Während das Vierimpuls Quartett an der Perfektionierung ihres Konstruktes arbeitet, um Verzögerungen möglichst gering zu halten, ist Volker Fischer bereits den nächsten Schritt gegangen. Seine Software rettete zwar das Vierimpuls Quartett vor der Auflösung, konnte jedoch nicht seine eigene Band zusammenhalten. Trotz der digitalen Möglichkeit fehlte es letztlich an genügend freier Zeit zum Proben. Doch seit fünf Jahren hat sich über „Jamulus“ eine völlig neuartige Band konstituiert. In seiner Band ist nicht nur ein einziger Musiker zugeschaltet, sondern alle Ensemblemitglieder einzeln.

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