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Blick ins Innere des Transducer-Flügels von Steingraeber. Foto: J. M. Koch
Blick ins Innere des Transducer-Flügels von Steingraeber. Foto: J. M. Koch
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Tasten nach anderen Welten

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Neue Klavierwerke mit technischen und digitalen Applikationen · Von Rainer Nonnenmann
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Größer, höher, tiefer, schneller, lauter … Die bau-und spieltechnischen Entwicklungen des Pianofortes seit Ende des 18. Jahrhunderts sind vom selben Optimierungs- und Effizienzdenken geprägt wie das bürgerliche Wirt­schaftssystem. Beethoven, Liszt, De­bussy, Busoni, Ives, Rachmaninow, Bartók und andere griffen die von Klaviermanufakturen erweiterten Spiel- und Klangmöglichkeiten dankbar auf, um die ins­trumentalen und pianistischen Ausdrucksbereiche ihrerseits durch neue Klavierwerke über das bis dato Übliche zu strapazieren. Während der letzten hundert Jahre scheint sich der Konzertflügel indes kaum mehr verändert zu haben. Die schwarze Hochglanzpolitur wurde zum äußeren Sinnbild für die innere Standardisierung von Materialien und Bauart. Neben globalen Marktführern gibt es immer weniger Fabrikate und Unterschiede hinsichtlich Aussehen, Mechanik, Spielkultur, Registern, Klangfarben. Gleichwohl finden technische Entwicklungen weiterhin statt, mit Glasfaser oder Kohlenstoff sowie mit Elektronik, digitalen Schnittstellen, Transducern, Video, Internet und Social Media.

Meilensteine der jüngeren Klaviergeschichte waren die Ausdehnung der gleichschwebenden Temperatur zum Total aller Frequenzen mittels Ringmodulatoren in Karlheinz Stockhausens „Mantra“ für zwei Pianisten (1970) sowie die Entwicklung des MIDI-Flügels seit Anfang der 1980er-Jahre. Ein übliches Klavier erhält ein „Musical Instrument Digital Interface“, eine MIDI-Schnittstelle, die als zentrales Steuerelement entweder von außen kommende elektronische Signale über einen mechanischen Wandler in kinetische Energie umsetzt, die mit feinster Anschlagsdifferenzierung die Mechanik des Flügels zu steuern vermag, oder die umgekehrt auf den Tasten Gespieltes in digitale Daten verwandelt, mit denen nachgeordnete Computerprogramme wahlweise Noten, Audio- oder Videoereignisse generieren, transformieren oder als vorgefertigte Patches abrufen. Neben Kabelanschlüssen verfügen MIDI-Klaviere inzwischen auch über drahtlose Funkübertragung, was sie noch mobiler und interaktiver verwendbar macht. Die Übertragung zwischen Klavierspiel und Elektronik erfolgt allerdings nur scheinbar in Echtzeit, sondern knapp eine Millisekunde verzögert, was bei vielen schnellen Anschlägen hörbar werden kann.

Hyperreales Klavier

In jüngster Zeit weiten vor allem die Digital Natives den alten Kosmos Klavier durch neue Medien zum Universum. Malte Giesen (*1988) komponierte sein „Konzert für hyperreales Klavier und Orchester“ (2016–2018) für den Pianisten Sebastian Berweck und einen Yamaha TransAcoustic-Flügel mit MIDI-Controller und Laptop. Der Solopart steigert sich nach ruhigem Beginn zu hochvirtuos über die Tas­tatur fliegenden Läufen und Intervallketten. Ab Takt 88 sind dagegen nur starre Oktaven anzuschlagen, während im Orchester düstere Moll-Akkorde anrollen. Der romantische Topos des einsamen Solisten gegenüber dem großen Kollektiv wird beschworen und zugleich durch verschiedene Synthesizer-Funktionen konterkariert. Bei entkoppelter Klaviermechanik und eingeschalteter Repeater-Funktion genügt es, den Finger auf eine Taste zu legen, und schon wird der Ton automatisch wiederholt: beliebig oft, beliebig schnell, durch Physical-Modelling-Software auch mit beliebig variierter Anschlagsart, Dynamik, Klangfarbe, Stimmung, Tonhöhe, Oktavlage, Verhallung, Harmonisierung. Außerdem können optische Sensoren das Fingerspiel in MIDI-Signale und komplexe Samples umwandeln. Unter den Händen des Pia­nisten entfaltet das Klavier auf diese Weise ein expansives Eigenleben. Minimaler spieltechnischer Aufwand bewirkt plötzlich maximale Virtuosität, Dichte und Geschwindigkeit. Das Instrument mutiert zum „hyperrealen“ Überklavier.

Wiedergegeben werden die elektronischen Klänge über Körperschallwandler am Resonanzboden – dazu gleich mehr –, so dass sie wie rein akus­tische Klänge aus dem Flügel kommen. Das Orchester beschwört unterdessen mit tonalen Wendungen, pathetischen Durchbruchs- und Schlussgesten die traditionelle Gattung des symphonischen Klavierkonzerts. Ganz entfernt klingt auch Schumanns Klavierkonzert an. Giesen thematisiert damit die ebenso romantische wie moderne Erfahrung von Fremdheit und Selbstentfremdung. Analog zu Arthur Rimbauds „Ich ist ein Anderer“ macht auch sein Klavierkonzert das Seelenins­trument und Lyrische Ich der Romanik zu einem Anderen. Am Ende brilliert nicht der Solist mit seinem Können, sondern die autonom gewordene Musikmaschine. Die technische Überlegenheit der Apparatur über den sichtlich untätigen Menschen demonstriert eindrücklich der Schlusston, der durch Repetitionsfunktion immer schneller angeschlagen wird, bis sich die Impulsfolge zu einem kontinuierlichen Ton verdichtet.

Transducer-Flügel

Serienweise in Klavieren verbaute Elektronik dient in der Regel bloß dazu, das Instrument entweder wie ein Player Piano selbstständig spielen zu lassen oder aus Rücksicht auf Nachbarn stumm zu schalten, um den Klang über Kopfhörer wiederzugeben. Zudem werden elektronische Klänge gewöhnlich über Lautsprecher hörbar gemacht. Wie beim TransAcoustic-Flügel von Yamaha integrierte dagegen auch die Bayreuther Klaviermanufaktur Steingraeber auf Anregungen von Robert HP Platz (*1952) bis zu fünf Transducer in den Resonanzboden eines MIDI-Flügels. Diese schon seit den 1960er-Jahren verschiedentlich in Musik eingesetzten Klangwandler machen Schwingungen nicht über eine Membran hörbar, sondern mittels mechanischer Vibrationen derjenigen Flächen, Objekte und Materialien, auf die sie gesetzt werden. Die mediale Trennung von Instrument und Elektronik wird so tendenziell aufgehoben.

Für das 2017 der Öffentlichkeit vorgestellte MIDI-Instrument von Stein­grae­ber komponierte Platz „Branenwelten 6“ für Klavier mit Live-Elektronik auf diesem Klavier (2017). Live-elektronisch transformierte Klänge erhalten hier dieselbe Abstrahlcharakteristik und Schwingungseigenschaft wie die rein akustischen Klavierklänge, so dass unmerkliche Übergänge, Verschmelzungen sowie neuartige Resonanz- und Echoeffekte zwischen beiden Dimensionen entstehen. Den Einsatz von Transducern wünschte sich auch der iranische Pianist Pooyan Aza­deh, um auf dem Klavier charakteristische Teiltöne und Intonationen persischer Musik realisieren zu können. In Verbindung mit Computer und Sound-Programmen lassen sich über die Transducer ferner historische Stimmungen sowie Viertel- oder Sechzehnteltöne realisieren, ebenso unterschiedliche Klangcharakteristiken von Cembalo, Hammerklavier oder Synthesizer. Mit der spezifischen Akustik des Klaviers moduliert, können auch alle möglichen anderen Aufnahmen von Musik, Sounds, Geräuschen und Sprachen abgespielt werden.

Video und Sensoren

Stefan Prins (*1979) spielt in seiner Werkserie „Piano Hero“ für Midi-Keyboard, Live-Elektronik und Video 1–4 (2011–2017) mit Differenzen zwischen normalem Tastenspiel und haptischen Aktionen von Händen, Hölzern, Schlägeln, Bürsten im Innenklavier, die der Pianist jedoch nicht umständlich selbst live ausführt, sondern einfach per Knopfdruck als vorproduzierte Video- und Klangsequenzen von einem zusätzlichen Keyboard einspielt. Medial bequem verfügbar, erlauben die erweiterten Pianotechniken extreme Schnelligkeiten, Dichten, Klangfarben, Lautstärke- und Komplexitätsgrade weit über das einem Pianisten aus Fleisch und Blut mögliche Maß hinaus. Simon Steen-Andersen dagegen ließ für sein „Piano Concerto“ (2014) einen Flügel aus sieben Meter Höhe fallen, um das mit Hochgeschwindigkeitskameras gefilmte Instrument nach dem verheerenden Aufschlag durch Zeitlupe- und Revers-Wiedergaben des Sturzes gleichsam wieder auferstehen zu lassen. Wie bei einem Trippelkonzert sieht und hört das Publikum bei der Aufführung dann neben dem Live-Spiel eines intakten Flügels auch per Video die Aufzeichnung der Zerstörung des Instruments sowie als audiovisuelle Projektion das ebenfalls zuvor aufgenommene Spiel des Solisten Nicolas Hodges auf dem geborstenen Klavier.

Die Pianistin Catherine Vickers präsentierte beim von ihr 2005 bis 2014 am Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe veranstalteten Festival piano+ systematisch Kombinationen von Klavier mit Elektronik, Video, Zusatzinstrumenten, Sprache, Tanz, Licht, Szene. Im letzten Festivaljahrgang spielte Rei Nakamura einige der auf 24 Nummern projektierten „Preludes“ von Christian Winther Christensen (*1977). Der dänische Komponist und Organist versteht seinen Zyklus als Hommage an die große Klaviertradition. Allerdings sind die Saiten mit Klebeband erstickt, so dass typische pianistische Figuren, Akkorde, Triller, Repetitionen und Arpeggien nur perkussives Knallen, Klappern und Trommeln bewirken. Dazu erklingen per Click-Track exakt synchronisiert Max/MSP-Patches mit bekannter Klaviermusik von Schumann, Brahms, Tschaikowsky, Rachmaninow und Debussy in teils verfremdeter Spinett- oder Mundharmonika-Färbung. Das „Prelude C-Dur“ basiert auf Chopins erster Etüde op. 10, das „Prelude c-Moll“ auf dem zweiten Präludium derselben Tonart von Bachs „Wohltemperiertem Klavier“.

Auch in seinem für Nakamura geschriebenen „Piano Concerto“ (2018) verlangt Christensen virtuoses Spiel, doch dürfen die Tasten nur berührt, nicht aber heruntergedrückt werden. Kontaktmikrophone entlang der Klavia­tur nehmen nur die Fingergeräusche auf, um sie zu einem hinter der Bühne verborgenen zweiten Spieler zu leiten, der passgenau zu den Aktionen der Solistin – über Kopfhörer und Bildschirm mitverfolgt – per MIDI-Keyboard vorproduzierte Klänge zuspielt, darunter fragmentierte Akkorde und Gesten aus den G-Dur-Klavierkonzerten von Beet­hoven und Ravel, die dann über einen Lautsprecher neben dem Soloklavier wie von einem „Ghost Piano“ erklingen. Man sieht pianistische Aktionen, hört aber neben tonlosem Fingertasten nur körperlos-irreale Klaviertöne aus unsichtbarer Quelle: Es herrscht totale Schizophonie.

Internet und Social Media

Alexander Schubert (*1979) zielt in seinen Kompositionen auf die Ostentation der von ihm verwendeten Mittel und Medien, um die Machart scheinbar perfekt simulierter Wirklichkeiten zu entlarven. Sein „Wiki Piano Net“ for a solo piano, internet and video (2018) besteht aus einer Homepage mit verschiedenen Tools und Anweisungen: „Wiki Piano Net is an interactive community-based piano piece developed by Alexander INOPPOR. The complete webpage of wiki-piano.net is the score to the piece.“ Der Komponist initiiert einen ebenso partizipativen wie pluralen und offenen Prozess. Mittels „Open Access“ von technischen, textlichen, klanglichen und visuellen Bausteinen (Tempi, Tonhöhen, Dauern, Dynamiken, Noten, Grafiken, Fotos, Links, Sounds, Klang- und Videozuspielungen) kann sich jeder Pianist eine individuell eigene Fassung zusammenstellen, die er dann mit einem realen Klavier samt Elektronik und Video zur Aufführung bringt.

Für das Projekt „WIReless“ (2017) des Pianisten und Komponisten Martin Tchiba (*1982) posteten mehrere Urheber kleine Klavierminiaturen auf Facebook oder Twitter. Tchiba brachte diese dann bei einem „Social-Media-Klavier-Recital“ in der Düsseldorfer Tonhalle zur Uraufführung, inklusive projizierten Tweets, Chats und Blogs der Komponisten und Besucher, die sich über Smartphones einschalten konnten. Eine andere Spielart von internetbasiertem „Social Composing“ verfolgt Brigitta Muntendorf (*1982). Ihre Serie „Public Privacy“ für Soloins­trument, Video und Zuspiel 1–6 (2013–2017) bringt jeweils einen professionellen Live-Performer in einen Quasi-Dialog mit Laieninstrumentalisten, die in YouTube-Videos ihre Lieblingsstücke covern. Im ersten Stück „Flute Cover“ für Flöte, Video und Zuspielung (2013) sind es Videos von Laien-Flötisten. Das von Sebastian Berweck bei piano+ 2013 uraufgeführte zweite Stück „Piano Cover“ für Keyboard, Zuspiel und Video (2013) zeigt anstelle von Laienpianisten auf gesplitteten Videoscreens bis zu neun E-Gitarristinnen gleichzeitig, die in ihren Wohn- oder Schlafzimmern Gitarrensolos covern. Zudem spielt der Pianist anstelle eines Klaviers ein Keyboard, da die Tastatur ohnehin lediglich als Sampler dient.

Teils synchronisiert mit typischen Gitarrengesten ruft der Pianist transformierte Drones, Repetitionen, Zupf­-, Schlag- und Scratch-Sounds aus den gecoverten Songs ab. Zudem erscheint er selbst in einem Video, wie auch alle anderen Pianisten, die Muntendorfs Stück aufführen. Die professionellen Interpreten ersetzen daher nach und nach die Videos der Laien: Pianisten covern Gitarristen, die zuvor ihre Lieblingssongs coverten. Das Resultat figuriert zur Allegorie des im Digitalzeitalter beschleunigten Verwertungskreislaufs von Material, Formung von Material, Umformung von Musik, Copy, Paste, Remix, Remake … War das Fortepiano bisher ein eigener Kosmos, ist nun nichts mehr von ihm zu sehen und zu hören. Es verschwindet. Doch die von ihm entlehnte Tastatur bleibt ein Portal zu anderen Welten.

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