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Tonspuren des 20. Jahrhunderts

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Zum Tod des einflussreichen Filmregisseurs Jean-Luc Godard
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Am 13. September ist ein Mann freiwillig aus dem Leben geschieden, der mit seinem Werk die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts künstlerisch entscheidend mitgeprägt hat: Jean-Luc Godard. Über sechs Jahrzehnte lang inszenierte er Klassiker des modernen Kinos: von seinem Debütfilm „Außer Atem“ bis zu seinem letzten Filmessay „Bildbuch“. Innovativ war seine Vorstellung von „Sound & Vision“, das Inszenieren der Tonspur. Und so verstand er sich als Künstler vor allen Dingen als „Compositeur“. JLG, dieses Kürzel stand für einen Solitär des europäischen Kinos.

Mit „Außer Atem“ begann grob gesagt 1960 die „Nouvelle Vague“. Ein B-Picture im amerikanischen Stil, mit Jean-Paul Belmondo als Bogart-Verschnitt und Jean Seberg als klassische Femme fatale. Ein Paris-Film, gedreht auf den Straßen der „Stadt des Lichts“, orchestriert von Martial Solal. Ein Jazzmusiker, der wie vorher sein Kollege Miles Davis bei „Fahrstuhl zum Schafott“ den Tonfall fand für diese Gangstergeschichte. Als Godard den Film drehte, gaben sich in den Pariser Studios die Jazzmusiker die Klinke in die Hand und damit setzte der Meister hier diesen Reigen nur fort. Keiner konnte damals ahnen, dass er bald ganz eigene Wege mit den Soundtracks zu seinen Filmen gehen würde.

Ein paar Filme lang sollte Michel Legrand sein Hauskomponist sein. Aber in dieser Zeit begann Godard bereits die Musik der Filme zu „zerschneiden“. Oft waren es nur noch Fetzen, die erklangen. Selbst den berühmten „Madison“ in seinem Meisterwerk „Die Außenseiterbande“ hat er mit Tonpausen zersetzt. Weil aber der „Madison“ mit Anna Karina, Claude Brasseur und Sami Frey wie eine Musicalnummer choreografiert ist, vergisst man das in der Erinnerung sehr leicht. Hört man nur die Tonspur, ist man irritiert. Sieht man Godards Bilder dazu, entdeckt man – wie im vollkommen synthetischen Musicalfilm – das „Gemachte“, wie Frieda Grafe das nennt: „Er pocht darauf, dass seine Filme als etwas Gemachtes zu verstehen sind. Aber nicht um die Glattheit sogenannter realistischer Filme Lügen zu strafen, sind seine Filme zerstückelt, zusammengesetzt und voller vorgeformter Elemente: Die dissonanten Strukturen seiner Filme entsprechen unserer heterogenen Wirklichkeit.“ Ein Eigenleben ganz besonderer Art hat dann später ein elegisches Thema von Georges Delerue für das Brigitte-Bardot-Vehikel „Die Verachtung“ geführt. Ein Godard-Fan hat es in seinen eigenen filmischen Kosmos integriert und damit sein hitziges Las-Vegas-Epos „Casino“ orchestriert: Martin Scorsese, der auf der Tonebene sicherlich viel von Godard gelernt hat.

Schnitt. Kurz nach dem Mauerfall inszenierte Godard mit seinem ehemaligen Lemmy Caution („Alphaville“-Star Eddie Constantine) und Hanns Zischler in der ehemaligen DDR seine filmische Collage „Deutschland Neu(n) Null“, ein Hörfilm aus Text- und Musikzitaten über den „Verfall“ der DDR nach dem Mauerfall. „Eine einsame Geschichte“, wie ein Insert kündet. Bei diesem Filmprojekt hat Hanns Zischler Godards „vertikales“ Prinzip entdeckt, wie er sich in der Wochenzeitung „Die Zeit“ erinnert: „Das Medium Film mag horizontal funktionieren, aber Godard denkt die Überlagerung des Bildes mit, durch Ton, Sprache, Geräusche, Musik. Er denkt in einer Vertikalität, die dem Kompositionsprinzip von Bach folgt. So wie er später in seinem Großwerk ‚Histoire(s) du cinema‘ aus der Filmgeschichte zitiert, die Bilder von anderen Bildern durchdringen und überlagern lässt, um etwas hervorzurufen, das bislang nicht in ihrer Abfolge enthalten war.“ Es war Manfred Eicher, der Ende des letzten Jahrhunderts auf ECM die Tonspur zu „Histoire(s) du cinema“ auf einer 5-CD-Box veröffentlicht hat. Vorher hatte er bereits den „Soundtrack“ zu Godards Spätwerk „Nouvelle Vague“ herausgegeben. Zwei Titel, die perfekt in das ECM-Programm passten, weil es Eicher immer auch um das Erlebnis des Hörens geht.

1968 hat Godard übrigens auch eine sehr eigenwillige Fußnote zur Geschichte der Popmusik geliefert: „One Plus One“. Zufällig war JLG bei seinem Beitrag zum „Cinemarxism“ dabei gewesen, als die Rolling Stones im Tonstudio an ihrem legendären Song „Sympathy For The Devil“ herumbastelten. Heinz Ungureit 1969 in der „Filmkritik“ dazu: „Was er aufnimmt, ist anders und klingt anders als das montierte Endprodukt der Stones; deshalb liefert er nur Arbeitsfragmente und verzichtet auf die Wiedergabe der integralen Fassung des Songs. So wie hier gezeigt, erscheinen die Stones ein bisschen wie die musikalischen Pendants zum fragmentarischen Filmmonteur Godard.“ Als die Produzenten am Ende des Films dann doch die komplette Studiofassung des Songs erklingen ließen, empfand Godard das als Vergewaltigung seines Werks.

Diese wenigen Puzzleteile sind natürlich nur die Spitze des JLG-Eisbergs. Wer tiefer in die Materie eindringen will, für den gibt es jetzt eine lohnende Lektüre. Michael Baumgartner hat soeben bei Oxford University Press eine sehr gründliche Analyse zu diesem Thema veröffentlicht: „Metafilm Music in Jean-Luc Godard‘s Cinema“. Was Sie schon immer wissen wollten über „Pseudo-Bach“, Chansons & Songs und die Rolling Stones bei Godard. Eineinhalb Jahrzehnte lang hat Baumgartner daran gearbeitet. Es ist ein Standardwerk geworden.

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