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Emmanuel Nunes und Sylvain Cambreling. Foto: Charlotte Oswald
Emmanuel Nunes und Sylvain Cambreling. Foto: Charlotte Oswald
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Über reißende Flüsse und geteilte Landschaften

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Zum Tod des großen portugiesischen Komponisten Emmanuel Nunes
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Vor vier Monaten erlebte man Emmanuel Nunes noch voller Energie und Spannkraft bei den Kammermusiktagen in Witten. Dort wurde sein neuestes Werk mit dem Titel „Peter Kein – eine akustische Maske“ uraufgeführt. Es entstand nach Texten aus Elias Canettis „Blendung“. Vier Sätze für Ensemble und Live-Elektronik, in denen Sprachphänomene, Sprachrhythmik, Sprachkommunikation, Sprachmelodik kompositorisch erkundet werden. Was sich trocken didaktisch anhört, präsentierte sich als das absolute Gegenteil: als bewundernswert souverän und eindringlich in Klang überführte Musik. Emmanuel Nunes selbst wachte mit dem SWR-Experimentalstudio Freiburg und dessen Leiter Detlef Heusinger über den elektronischen Part des Werkes, das kurz darauf noch eine weitere, triumphal gefeierte Aufführung in Zürich erfuhr.

Umso größer war die Bestürzung über die kürzliche Nachricht, dass Emmanuel Nunes in Paris gestorben ist. Nunes, 1941 in Lissabon geboren, war und bleibt einer der eigenwilligsten und aufregendsten Komponisten unserer Zeit, der in Deutschland zwar immer wieder aufgeführt wurde – vor allem auf den Festivals neuer Musik –, aber rätselhafterweise nie die Präsenz etwa eines Boulez oder Stockhausen erreichte, an deren Kompositionskursen er in den frühen sechziger Jahren teilnahm. Immerhin erhielt Nunes für mehrere Jahre, zwischen 1986 und 1992, einen Lehrauftrag an der Musikhochschule Freiburg, war auch Dozent bei den Darmstädter Ferienkursen. Danach lehrte er als Professor für Komposition am Conservatoire National Supérieur de Musique in Paris. Da Nunes immer wieder Kompositionsaufträge von den wichtigsten Musikfestivals und Rundfunkanstalten erhielt, entstand im Laufe der Jahre ein umfangreiches Œuvre, das Orchesterwerke, Kammermusik, Vokalkompositionen und auch eine Oper umfasst. Gerade Letztere, nach Goethes „Märchen“ konzipiert und betitelt, offenbart fast alles über die Musikästhetik von Nunes: Der reißende Fluss, der zwei Landschaften trennt, den man nur in einer Richtung mit einer Fähre überqueren kann, während man für den Rückweg den Rücken einer Schlange oder den Schatten eines Riesen besteigen muss, erinnert an die Prüfungswege in der „Zauberflöte“ und deren Symbolik. Die Tiere, Pflanzen und Menschen bewegen sich meist sehr langsam durch den Klang-Raum, den Nunes für sein „Elementenspiel“ und für die „Verwandlungen“ gleichsam erbaut. Eine Musik voller Klangphantasien, Farben, komplexer Strukturen, in der die Musikwelten der Vergangenheit zwar aufscheinen, aber ebenso aufregend gegenwärtig klingen – nicht zuletzt durch die mit höchstem Raffinement eingesetzte Live-Elektronik, die sich mit den Vokal- und Instrumentalklängen nahtlos verbindet.

Das gesamte Schaffen von Emmanuel Nunes kennt keine Trennung in alte Musik und Moderne. Sie kündet von der Kontinuität in unserer Musikgeschichte, zu der auch scheinbar radikale ästhetische Umbrüche gehören, die sich irgendwann wieder in die Geschichte einstellen. Das Werk von Nunes steht als Beweis dafür. Das macht seine bleibende Bedeutung aus.

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