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Percussion-Instrumentarium, wie es an der Grundschule verwendet wird.
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Umfassender Auftrag, unklare Ressourcen

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Zur Situation des Musikunterrichts an Bayerns Grundschulen
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„Zahlenchaos: Wie viele Lehrer fehlen in Bayern wirklich?“* – Bezieht man diese Frage auf den Musikunterricht an Bayerns Grundschulen, dann stellt man schnell fest: Die Frage ist schwer zu beantworten. Das ist problematisch, denn: Musikunterricht im Klassenverband der Grundschule ist gleichermaßen Grundlage und Herzstück musikalischer und kultureller Bildung.

„Zahlenchaos: Wie viele Lehrer fehlen in Bayern wirklich?“1 – Bezieht man diese Frage auf den Musikunterricht an Bayerns Grundschulen, dann stellt man schnell fest: Die Frage ist schwer zu beantworten. Das ist problematisch, denn: Musikunterricht im Klassenverband der Grundschule ist gleichermaßen Grundlage und Herzstück musikalischer und kultureller Bildung.

Nur im Klassenunterricht erreicht man praktisch alle Kinder, unabhängig von den Möglichkeiten und Neigungen in ihren Elternhäusern und dem sozialen Umfeld der Schule. Entsprechend umfassend ist der Bildungsauftrag dieses Unterrichts: Im Zentrum stehen das Erlernen musikalischer Kompetenzen und der Erwerb von Orientierungswissen darüber, was man mit Musik alles machen kann. Kinder sollen verschiedene Arten des Umgangs mit Musik ausprobieren können und erfahren, wie Musik ihr Leben bereichern kann.
Zusätzlich kann und soll Musik in der Schule aber auch einen erheblichen Beitrag zum sozial-emotionalen Lernen leisten: So ermöglicht gemeinsames Singen oder Tanzen positive gemeinsame Erlebnisse, die verbinden. Besonders gut beobachtbar ist dies jedes Jahr im Sommer während des „Aktionstags Musik in Bayern“, wenn Zehntausende bayerischer Schulkinder gemeinsam mit ihren Lehrkräften, mit Kindergartenkindern und älteren Menschen musizieren. Begegnung in und durch Musik findet aber auch ganz unspektakulär beim Begrüßungslied im täglichen Morgenkreis statt. Im schulischen Musikunterricht können Kinder neue Wege kennenlernen, Musik zum emotionalen Ausdruck und zum Ausgleich zu nutzen. Gerade an der Schnittstelle von Musik, Bewegung und Szenischem Spiel gibt es dafür großes Potenzial: Hier lässt sich wunderbar ausprobieren und üben, eigene Gefühle und Befindlichkeiten auf verschiedene Weise auszudrücken, sich auf die Äußerungen anderer einzulassen und sie zu verstehen. Dazu gibt es seit Jahrzehnten bewährte Modelle, beispielsweise aus der Rhythmik, sowie ein stetig wachsendes Reservoire an grundschulspezifischen Unterrichtsmaterialien.

Ebenfalls bereits bestens erprobt und bewährt ist der Einsatz von Musik und musikalischen Aktivitäten, wenn es um sprachliches Lernen geht – im Deutschen wie für den Englischunterricht. Buchstabenlieder helfen beim Lesen- und Schreibenlernen. Chorisches Sprechen trainiert die richtige  Aussprache fremder Wörter. Das Singen von Liedern stellt eine lustvolle Art dar, neue Vokabeln zu lernen und zu festigen. Wer sozial-emotionales und sprachliches Lernen in der Grundschule fördern möchte, sollte musikalischen Aktivitäten breiten Raum zugestehen – nicht nur in einer oder zwei Wochenstunden Musikunterricht, sondern auch als wichtiges Element an anderen Stellen im Schultag. Damit das alles Hand und Fuß hat, braucht es Lehrkräfte, die entsprechende Konzepte kennen, anwenden und weiterentwickeln können.

Wer unterrichtet?

Wie ist es damit in Bayern bestellt? Konkreter gefragt: Wie gut ist die Unterrichtsversorgung im Fach Musik an Bayerns Grundschulen? Und: Findet der Unterricht in der erforderlichen Qualität statt? Beide Fragen lassen sich nicht eindeutig beantworten, öffentlich zugängliche Zahlen aus Kultusministerium und Landesamt für Statis­tik geben aber einige Anhaltspunkte. Demnach stehen Bayerns Grundschulen im Vergleich mit anderen Bundesländern2 gar nicht so schlecht da, was die potenzielle Versorgung der Schulen und Klassen mit fachlich qualifizierten Musiklehrkräften betrifft – zumindest rein rechnerisch.

An Bayerns Grundschulen unterrichteten im Schuljahr 2021/22 insgesamt 37.613 Lehrkräfte. Nur ein Drittel arbeitete in Vollzeit (12.442, 33%), dazu kamen 2.623 Referendarinnen und Referendare (7%). In überhälftiger Teilzeit waren gut 14.000 Lehrkräfte beschäftigt (ca. 37%), weitere 20 Prozent in unterhälftiger Teilzeit. Insgesamt ergibt dies 26.391 Vollzeitstellenäquivalente (VZLE).3 Seit 2011 liegt der Anteil der Grundschullehrkräfte, die Musik studiert haben, konstant bei etwa 23 Prozent (2,5% mit Musik als Unterrichtsfach, 20,5% mit Musik als „Dritteldidaktikfach“4).5 Nimmt man vereinfachend an, dass diese Quote über alle im Beruf aktiven Alterskohorten konstant ist, dann ergäben sich etwa 660 Vollzeitäquivalente mit Musik als Unterrichtsfach und 5.410 mit Musik als Didaktikfach – also insgesamt 6.070 VZLE, die Musik im Rahmen ihres Studiums als Haupt- oder Nebenfach belegt haben. Dank der zahlreichen Nebenfach-Lehrkräfte entfallen damit auf jede der 2.411 bayerischen Grundschulen rein rechnerisch 2,5 VZLE mit Musik; umfassend ausgebildete Lehrerinnen mit Hauptfach Musik kann es allerdings rechnerisch nur an einem kleinen Teil der bay­erischen Grundschulen geben.

Wieviel wird unterrichtet?

Wie sieht es nun aber mit der Unterrichtsversorgung im Fach Musik aus? – Anders als für andere Schularten veröffentlicht das Kultusminis­pterium keine Übersicht über die wöchentlich erteilten Unterrichtsstunden je Fach und Schuljahr. Die Schulstatistik weist aber 21.223 Grundschulklassen aus. Geht man davon aus, dass sich die Klassen gleichmäßig über die Jahrgangsstufen verteilen, dann ergibt das jeweils 10.612 Klassen in den Jahrgangsstufen 1/2 und 3/4. Für die Jahrgangsstufen 3 und 4 sind in der Stundentafel je zwei Wochenstunden Musik pro Klasse angesetzt, woraus sich ein Gesamtbedarf von gut 21.220 Stunden Musikunterricht ergibt. Um diesen Bedarf vollständig abzudecken, müsste jedes der im Fach Musik ausgebildeten „Vollzeitäquivalente“ 3,5 Wochenstunden Musik in den Jahrgangsstufen 3 und 4 unterrichten. Schwierig wird die Berechnung für die Klassenstufen 1 und 2. Dort ist Musik gemeinsam mit den Fächern Deutsch, Mathematik, Heimat- und Sachunterricht und Kunst Teil des „Grundlegenden Unterrichts“. Für die Fächer steht insgesamt ein Kontigent von 16 Wochenstunden zur Verfügung, die die Lehrerin nach Bedarf auf die Fächer verteilen kann. In diesem Bereich lässt sich der Bedarf an Musikuntericht nur schätzen. Entsprechende Überlegungen bleiben hochgradig spekulativ, weil der grundlegende Unterricht in der Regel von der Klassenlehrerin gegeben wird, der Anteil an Musikunterricht sehr unterschiedlich ausfallen kann und die Wahrscheinlichkeit, dass die Klassenlehrerin Musik studiert hat, eher gering ist. Erhielte jede 1. und 2. Klasse in Bayern nur eine Wochenstunde Musik regelmäßig, ergäbe sich daraus ein Bedarf von gut 10.600 Stunden. Der abzudeckende Bedarf der Jahrgangsstufen 1 bis 4 läge dann insgesamt bei etwas mehr als 31.820 Wochenstunden. Um diesen Bedarf „fachgerecht“ abzudecken, müsste rechnerisch jedes musikalisch ausgebildete „Vollzeitäquivalent“ 5,25 Wochenstunden Musikunterricht erteilen.

Ist damit alles gut für den Grundschul-Musikunterricht im Bildungsland Bayern? – Verglichen mit etlichen anderen Bundesländern möglicherweise ja, absolut betrachtet: vermutlich eher nein. „Vollzeitäquivalente“ sind nicht gleichzusetzen mit je einer Lehrkraft, die in Vollzeit unterrichtet. Aus den oben angeführten Gründen kann niemand verlässlich sagen, wieviel Musikunterricht an Bayerns Schulen tatsächlich erteilt wird, wie sich die fachlich qualifizierten Lehrkräfte auf Schulen und Klassen verteilen und wie sich die hohe Teilzeitquote sowie das Klassenlehrerprinzip auswirken. Verlässlich festhalten lässt sich aber, dass keineswegs jede Grundschule über einen angemessen ausgestatteten Musiksaal verfügt. Nicht überall gibt es ausreichend viele und qualitativ hochwertige Musikinstrumente. Auch in dieser Hinsicht fehlen wichtige Ressourcen.

„Fachfremd“ oder „fachlich ausgebildet“?

Entgegen anders lautenden Vermutungen ist nicht automatisch gesagt, dass „fachfremd“ Unterrichtende von Musik keine Ahnung hätten. Gabriele Schellberg von der Universität Passau konnte unter anderem ermitteln, dass gut vier Fünftel der Teilnehmerinnen an der universitären Basisqualifikation Musik irgendwann im Lauf ihres Lebens Instrumentalunterricht hatten, und dass ein Fünftel sogar über recht gute musikalische Voraussetzungen verfügt, zum Beispiel aus einem Additum Musik in der gymnasialen Oberstufe  – sich aber dennoch gegen Musik und für ein anderes Unterrichtsfach entscheidet.6

Seit gut 20 Jahren gehört die sogenannte „Basisqualifikation Musik“ zum Pflichtprogramm aller angehenden GS-Lehrkräfte in Bayern, die je nach Universität sehr unterschiedlich intensiv ausfällt. Meist umfasst sie einen oder zwei Kurse mit je 1-3 Wochenstunden. Im späteren Berufsleben wird dieses Basistraining ergänzt durch ein gut ausgebautes Angebot an Fortbildungen von verschiedenen Trägern (KM, ALP Dillingen, Lehrerverbände). Das alles ermöglicht durchaus eine Reihe ansprechender musikalischer Aktivitäten mit Kindern. Alles kind- und sachgerecht umzusetzen, was der Grundschul-Lehrplan für Musik verlangt, dürfte auf dieser Basis aber dennoch nur im Ausnahmefall möglich sein.

Vollwertig ausgebildete Musiklehrkräfte haben ein deutliches größeres musikalisches Repertoire, sie wissen mehr über Musik und über verschiedene Möglichkeiten des Musiklehrens und -lernens. Zu den Zielen ihrer Ausbildung gehört, dass sie sich zu helfen wissen, wenn etwas im Unterricht nicht wie erwartet klappt. Sie können musikalische Lernprozesse über längere Zeiträume hinweg gestalten und ihren Unterricht adaptiv an die Bedürfnisse der Kinder anpassen. Außerdem verfügen sie über das notwendige Orientierungswissen, um sich neue Unterrichtsinhalte und Methoden in Musik selbst aneignen zu können und können so ihren Musikunterricht aktiv weiterentwickeln. Sie können Musik nicht nur in ihrer eigenen Klasse unterrichten, sondern auch andere Klassen mit Musikunterricht versorgen – dies allerdings ohne die Vorzüge des Klassenlehrerprinzips, das deutlich mehr Möglichkeiten eröffnet, Musik organisch in den Schulalltag zu integrieren.

Zusatzangebote als Zusatzaufgabe

In den kommenden Jahren zunehmend wichtiger werden dürfte eine weitere Aufgabe von Musiklehrkräften an Grundschulen: die der Auswahl und Koordination ergänzender musikalischer Programme, die in Ganztag oder Nachmittagsbetreuung von externen Kräften angeboten werden. Dafür braucht es neben pädagogischer und musikalischer Kompetenz auch die nötigen zeitlichen und organisatorischen Freiräume!


Anmerkungen
*    https://www.br.de/nachrichten/bayern/
zahlenchaos-wie-viele-lehrer-fehlen-in-bayern-wirklich
,Tds20Bd
2    Siehe dazu Lehmann-Wermser, A.; Weishaupt, H. und Konrad, U. (2020): Musikunterricht in der Grundschule. Aktuelle Situation und Perspektive. Online hier.
3    Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus: „Bayerns Schulen in Zahlen“ 2021/22. Online hier verfügbar.
4    In Bayern studieren angehende Grundschullehrkräfte nur ein Unterrichtsfach. Anstelle eines zweiten Unterrichtsfachs treten drei Nebenfächer, die sogenannten „Dritteldidaktikfächer“, von denen eines Kunst, Sport oder Musik sein muss (vgl. §36 (3) LPO I).  
5    Vgl. Bayer. Landesamt für Statistik, Statistische Berichte / B / III / 2 / 1. Lehrerausbildung in Bayern : Teil 1: Vorbereitungsdienst sowie Fach- und Förderlehrerausbildung. Jahrgänge 2011/12 bis 2021/22. Online hier.
6    Schellberg, G. (2016): „Mein musikalisches Selbstbewusstsein ist gewachsen!“ Wirkungen eines Pflichtseminars für Grundschullehramtsstudierende, in: Oravec, Lina & Weber-Krüger, Anne (Hg.): „Musiklernen in der Grundschule“. Impulse aus Elementarer und schulischer Musikpädagogik, Essen: Blaue Eule, 2016, S. 143–171.

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