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Unverzichtbare Wissenschaft

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Das erste Lexikon zu „Musik und Gender“ ist erschienen
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Annette Kreutziger-Herr/Melanie Unseld (Hrsg.): Lexikon Musik und Gender, Bärenreiter, Kassel u.a. 2010, 610 S., Abb., € 89,00, ISBN 978-3-7618-2043-8

Fast zweitausend Titel zu Forschungsarbeiten zum Thema nennt das soeben bei Bärenreiter/Metzler erschienene Lexikon „Musik und Gender“, das die Musikwissenschaftlerinnen Annette Kreutziger-Herr und Melanie Unseld zusammen mit 170 Autorinnen und Autoren herausgegeben haben. Da sind auch Examensarbeiten und Kongress-Berichte genannt, Material, das man normalerweise nur über aufwändige Internetrecherchen findet. Trotz dieser – wie es scheint – Riesenmenge an Veröffentlichungen fehlt bislang eine systematische Aufbereitung der Gender-Forschung in der Musik, die ja nach den feministischen Arbeiten in den siebziger Jahren von größter Wichtigkeit und Aktualität und seit den neunziger Jahren auch fest etabliert ist. Die Genderforschung versteht sich als interdisziplinäre Geschlechterforschung und gehört damit allen Wissenschaften an. Während in der älteren feministischen Phase der Schwerpunkt auf der Biografik lag – und zahlreiche Festivals für Komponistinnen folgten –, wird nun untersucht, was soziale Zuschreibungen generell eigentlich bedeuten. Die Literaturwissenschaftlerin Ingrid Neumann-Holzschuh formulierte: „Während es in der Frauenforschung darum ging, andere Texte zu lesen, geht es in den Gender-Studien darum, auch kanonisierte Texte anders zu lesen.“

Kreutziger-Herr und Unseld haben das Problem der Darstellung bestens gelöst: Diese Wissenschaft ist im Aufbruch, und schon soll ein Lexikon vorliegen, das ja normalerweise so etwas Definitives an sich hat. So fiel die Entscheidung für einen vorangehenden historischen Teil, in dem die Jahrhunderte skizziert werden. Das gibt es auch schon anderswo, aber es ist sehr plausibel, dass dieser Aspekt auch hier eingebunden wurde. Die Artikel sind ebenso kenntnisreich wie ausgesprochen spannend geschrieben – man bekommt Lust auf mehr. Auf Details kann hier nicht eingegangen werden, aber es wird deutlich, dass es Kunst und Kunstreflexion von Frauen (eingeschränkt) immer gab, dieses aber unter den herrschenden sozialen und politischen Voraussetzungen geschichtlich weder transportiert noch erfasst wurde. Denn letztlich, so Karin Hausen, wird erkennbar, dass „die Entscheidung darüber, was als geschichtsmächtig in der historischen Erinnerung aufbewahrt und was als unwichtig dem Vergessen anheim gegeben werden soll, (…) in ihren Voraussetzungen und Konsequenzen eine politische Entscheidung ist“.

Spätestens nach der Zeit der Aufklärung, in der zum ersten Mal in der Geschichte alle Menschen als gleich erklärt wurden, mussten neue Erklärungsmuster her, um die Frau aus dem Mensch-Sein weiter auszuschließen: Die Frau wurde zur Natur erklärt und war um die vorletzte Jahrhundertwende von Natur aus krank, wie uns die Schriften von Paul Möbius und Otto Weininger weis machen wollen. Das ist noch nicht lange her, und beim Lesen des Lexikons wird noch klarer als es sowieso schon ist, wie groß der Aufarbeitungsbedarf ist. 

Unter den Begriffen ist nicht nur das „Übliche“ erfasst wie Musikethnologie, Musikgeschichtsschreibung, Gattungen, Musikpsychologie, Sinfonie und dergleichen mehr – und dies stets in einer wissenschaftlich sauberen Hinwendung zum Thema „Gender“ – sondern auch Begriffe, die man sonst in einem Musik-Lexikon nicht suchen würde: „Orte“, „Wahnsinn/Hysterie“ und viele andere. Nicht ganz schlüssig ist, dass der lexikalische Teil nicht getrennt wurde in Begrifflichkeiten und Personen. Da steht dann „Filmmusik“ neben Ella Fitzgerald, „Lied“ neben „Liza Lim“ und „Kloster“ neben „Hildegard Knef“. Mir nicht verständlich ist die Aufnahme biographischer Artikel zu ausgewählten Interpretinnen wie Hilary Hahn, Kim Kashkashian, Kathleen Ferrier, Anne-Sophie Mutter, René Flemming – nach welchen Kriterien? Dafür hätte ich mir aufwändigere Biographien auf musikwissenschaftlichem Niveau gewünscht, zum Beispiel zu Fanny Hensel oder Younghi Pagh-Paan, denen man in zweieinhalb Spalten nicht annähernd gerecht werden kann. Nach meinem Dafürhalten fehlen auch Komponistinnen wie Patricia Jünger, Silvia Fómina, Ruth Crawford Seeger. Im Verhältnis zum insgesamt gelungenen Buch sind dies allerdings nur kleine Mängel.

Die Wissenschaftskommission Berlin empfahl 2007: „Forschung ohne Reflexion auf die jeweilige Bedeutung von Geschlecht (…) blendet eine existentielle Perspektive aus und weist daher Defizite auf“, und die Herausgeberin Kreuziger-Herr schreibt in ihrem Artikel „Gender Studies“ zu Recht: „Wenn im methodologischen Werkzeugkoffer von Historikerinnen und Historikern das Analyseinstrument ,Gender‘ fehlt, ist der Koffer im 21. Jahrhundert nicht vollständig gepackt.“

Wie sehr das nicht nur Wissenschaft-ler/-innen angeht, sondern genauso alle an Kultur und Musik interessierten Menschen, macht dieses gelungene, 600 Seiten starke Werk beglückend und aufregend deutlich.

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