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Romeo’s Imbiss statt Celan: Gordon Kampe. Foto: M. Theobald/EvS Musikstiftung
Romeo’s Imbiss statt Celan: Gordon Kampe. Foto: M. Theobald/EvS Musikstiftung
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Verpixeltes Paralleluniversum, auf Krawall gebürstet

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Der Komponist Gordon Kampe und seine erfrischend anarchische Auffassung von neuer Musik
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„Musik zu komponieren ist für mich zumeist wie ein Spiel, oft mit Dingen, die – aus der Ferne betrachtet – nicht zusammen gehören. Einige der Dinge, die in ‚sweet home‘ einfließen, sind mir sehr fremd, etwa Heimatfilmtextschnippsel, die ich beim zusammenhangslosen Surfen im Internet gefunden habe und hier als Rhythmusgeneratoren zweckentfremde. Andere sind mir sehr nah – etwa Fetzen aus Smetanas komischer Oper ‚Die verkaufte Braut‘ oder ein Löffel von IKEA, mit dem ich das Cello traktiere. Während der Arbeit an einem Stück kann alles amalgamiert werden, was nicht bei Drei auf den Bäumen ist.“

Was Gordon Kampe hier in Bezug auf sein Stück für Cello, Celesta, Klavier, Schlagzeug und Zuspielungen, bei dem besagter Löffel ebenso zum Einsatz kommt, wie Plastikblumen, Autofedern und Megaphone, als ästhetische Maxime ausgibt, erzählt viel darüber, worum es ihm beim Komponieren insgesamt geht: Eine Poesie des Heterogenen, die sich aus vielerlei Quellen zwischen Kunstmusiktradition und Popularkultur, Fiktion und Lebenswirklichkeit speist. Die Grenzen sind fließend und auch dem trägt Kampes Musik als schräge Synthese des scheinbar Inkommensurablen Rechnung, was sich in der Regel jedoch jenseits nerviger Materialcollagen abspielt. Kampe versucht erst gar nicht, einer „kaputten“ Welt als Gegenentwurf ein „stimmiges“ Kunstsystem entgegenzusetzen, lieber schöpft er deren Absurditäten gewinnbringend aus.

Dass der frisch mit dem Förderpreis der Ernst von Siemens-Stiftung ausgezeichnete Komponist und Musikwissenschaftler aus dem Ruhrgebiet nicht von Lichtgestalten aus den heiligen Hallen der Hochkultur inspiriert sein muss, um kompositorisch in Stimmung zu kommen, verraten schon die Titel seiner Stücke: die lauten nicht „Struktur II“, „Hölderlin-Gesänge“ oder „Symphonie“ (wenn schon dann „10 Symphonien“), sondern „Schmackes“, „Schweinisch“, „Kawupp“, „Butter und Fische“ oder „Informationen aus dem Gamma-Quadranten“. Titel, die vor dem ersten Klang wesentliches verraten: 1. Humor (in der zeitgenössischen Komposition keineswegs mit Cage und Kagel ausgestorben) und damit verbunden das subversive Vergnügen daran, die gelegentlich weihevolle Affektiertheit der Neuen Musik auszuhebeln, 2. die Tatsache, dass Kampe seine Batterien eher im täglichen Leben auflädt als in der Celan-Gesamtausgabe. Und dazu gehören Fußball und Film (insbesondere Science Fiction) eben genauso wie die Erfahrung von Haydns „Jahreszeiten“ im städtischen Chorkonzert oder eine Casio VK-1, der Kampe in „Die Sonne wandert schnell – Gasthauskempermannvariationen“ (2010) gehuldigt hat, was einer Hommage an die Band „Trio“ gleichkommt. (Besagtes Gasthaus gibt es übrigens tatsächlich, in Großenkneten, Spezialität: „großes Kohl- und Schnitzelbuffet“.)

Chamäleontheorien

Kampes Zugriff auf „Welt“ kennt keine ästhetischen „No-Go-Areas“ und schöngeistigen Berührungsängste vor den vermeintlichen Niederungen des Alltags. Den Beweis dafür treten die Vertreter der „Chamäleontheorie“ an: „‚Chamäleontheorie II – 13 Variationen über ein Lied von Frau Cz.‘ (2012) ist Teil einer Reihe von kürzeren Ensemblestücken, die sich auf der Grundlage des schlichten Modells von ‚Charaktervariationen‘ jeweils einem Sprach-Sample aus meiner Alltagswelt widmen. Seit einiger Zeit führe ich mit älteren Menschen aus meiner Umgebung zu bestimmten Themen kurze Interviews oder bitte sie mir ein Lied vorzusingen. Ich darf diese Gespräche aufnehmen und Fragmente in meine Stücke einlassen. In der ‚Chamäleontheorie II‘ handelt es sich um ein Lied aus dem Erzgebirge, das die Sängerin an Erlebnisse in der frühen Kindheit erinnert.“ In „Die Chamäleontheorie“ (2010) ist es „die Natur“, die einleitend im Blickpunkt steht, als menschliche Degeneration versteht sich: Eine Klangzuspielung garantiert „idyllisches Wasserrauschen, wie von einer Wellness-CD“.

Die Abgründe, die sich bei all dem fröhlichen Hereinlassen des scheinbar Banalen auftun, sind einkomponiert. Dennoch ist es Kampe vor allem um die ureigenen poetischen Qualitäten seiner oft bizarr-komischen Allusionen und stilistischen Promenadenmischungen  zu tun, als dass er seine Versatzstücke ironisch-distanziert vorführen möchte. In „HAL“ für Kontrabassklarinette, Akkordeon, Kontrabass, Klavier und Zuspielungen (2010), eine neunteilige Hommage an den Computer aus Kubricks „2001 – A Space Odyssey“, versammeln sich Zutaten aus Tango, Kirchenmusik und Old-School-Elektronik in Gestalt antiquierter Synthesizer und Rhythmusmaschinen. „Ich habe eine große Vorliebe für Liegengebliebenes und Zweitplatziertes. Dinge, auch Klänge oder Musiken, die es schon mal gab, die es aber wert sind, sie sich noch einmal anzuschauen und näher für die Gegenwart zu untersuchen. (…) Für mich sind das einerseits oft „unterbelichtete“ Instrumente (ob klappernd und beinahe verschrottete Tárogátos oder auf dem Flohmarkt gefundene Synthesizer) und andererseits aus der Mode gekommene Gattungen“, verrät Kampe mit Blick auf seine gerade im Entstehen begriffenen „Arien/Zitronen“ für Sopran und Ensemble. Die „Sammlung von Konzertarien zu Opern, die es noch nicht gibt“, spielt mit imaginierten Figuren und musikalischen Bühnen-Charakteren, ein Vorgeschmack daraus („Sachlicher Bericht“) wird im Mai in München (bei der Siemens-Preisverleihung) gespielt werden.

Mit Schwung in die Erdbeeren

Kampes Klangquellen und -kombinationen sind ebenso wenig natürliche Grenzen gesetzt, wie den Formaten seiner Stücke: „Zwischen so was wie Dokumentartheater, affirmativer Super-Oper mit viel Psycho und Englischhorn, Kinderstücken, Klavierliedern, Vokalmusik und zwischendurch mal eine Orchesterbrezel mit ordentlich Kawummba … Da fühle ich mich wohl“, lässt der Komponist im Gespräch mit der nmz durchblicken. „Ich versuche bekannte Dinge in Umgebungen zu führen, in denen sie wieder fremd werden können“ und das betrifft nicht nur die Wahl der Klangerzeuger, sondern auch die Art der Artikulation, die sich in herrlich undomestizierten Vortragsanweisungen kund tut: „knallhart und mit Krawallbürste“ heißt es zu Beginn der „Moritaten und Sentimentales“ (2015); „mit Schwung in die Erdbeeren“, „sehr spuckig, rotzig – möglichst viel treffen, aber nicht alles…“ verlangen die „Gasthauskempermannvariationen“.

Dabei geht es durchaus darum, den „akademischen“ Klang tunlichst zu be- bzw. verhindern. Das Scheitern instrumentaler Virtuosität ist bei Kampe allgegenwärtig, setzt direkt bei der Artikulation an und erscheint nicht selten als ein gestörtes Verhältnis von Mensch und Maschine. So heißt es bei den Achtel-Läufen der E-Gitarre im „presto possibile“ in „Neun Weisse Bilder“ (2006): „Verwurschtelungen und Lücken wagen, verpixeln“. Andernorts werden Affekte grotesk überzeichnet: „Total durchdrehen, Papageno auf Koks“ lautet die Anweisung für die Celesta zu Beginn von „Zu Drei Stücken Entzwei“ (2005). Fröhliche Anarchie und inszenierte „Wut“ sind hervorstechende Charaktereigenschaften von Kampes Stücken. Häufig verschafft sich das gleich zu Beginn eines Stückes Luft: „trocken, wütend, angefressen“ soll „Butter und Fische“ (2012) beginnen, dessen „Wutleiste“ (Achtung: Konzept-Musik!) die Rhythmusstruktur eines cholerischen Fußballtrainer-Ausbruch transkribiert; in „Gefühlte 70.000 Bratwurststände, Variationen über eine Befindlichkeit von Jürgen Klopp (Chamäleontheorie II)“ kommt neben Violine, Saxofon, Akkordeon, Klavier und Zuspielungen am Ende eine „Wutbox“ zum Einsatz. Hierbei handelt es sich um ein Kontaktmikrophon, an dem der Pianist wie ein Irrer herumsaugt und einen dumpfen, infernalischen Lärm erzeugt. Manchmal implodiert diese Wut aber auch und erzeugt schreckliche Momente der Vergeblichkeit, wenn im ersten Stück der „Zwerge“ (2011) namens „15 Lieder“ die Instrumentalisten 15 mal folgendes tun müssen: „Beide Hände sehr dicht vor dem Mund halten. Wie wild schreien, den Schrei aber niemals durchlassen. Immer sehr gepresst, wie eingesperrt. Furchtbar!“ Die immanent szenischen Aspekte solcher artikulatorischen Überspitzungen (ob vokal oder instrumental) knüpfen ganz offenkundig an Traditionen des „instrumentalen Theaters“ an, nicht nur, wenn zu Beginn von „Sweet home“ (2010) ein Plastikblumenstrauß mit einem Megaphon „belauscht“ wird.

Affinität zur Bühne

Angesichts der szenischen Implikationen, die eigentlich alle Instrumentalkompositionen Kampes kennzeichnen, wundert es nicht, dass der einstige Schüler von Hans Joachim Hespos und Nicolaus A. Huber auch eine besondere Affinität zur Bühne hegt. In letzter Zeit hat Gordon Kampe dort viel mit Kindern und Jugendlichem gearbeitet. Dass es ihm mit diesem Thema bei allem Heidenspaß, den das „Spielkind“ Kampe dabei selbst in den Partituren ausleben kann, mit der Materie sehr ernst ist, hat er in seinem Essay „Ernstfall Kinderoper“ (Neue Zeitschrift für Musik 6/15) deutlich gemacht. Dort fordert er leidenschaftlich, ein Musiktheater für Kinder viel ernster zu nehmen als das gemeinhin geschieht. Nicht, um ein Opernpublikum der Zukunft mit infantilisierter Hochkultur und biederer „Education“ heranzubilden, sondern Kindern (und Erwachsenen) echte Theater-Erfahrungen fern fauler Kompromisse zu ermöglichen. Kampes eigene Beiträge zum Thema waren jüngst „Die drei Reisen Sindbads“ für einen Erzähler, einen Zuhörer und 24-stimmiges Vokalensemble (2012/13), „Kannst du Pfeifen, Johanna“ nach dem Kinderbuch von Ulf Stark (2013) und „Sechse kommen durch die ganze Welt“ für 2 Schauspieler, Kinderchor und Orchester (2015).

Im Gegensatz zu vielen anderen Kollegen der jüngeren Komponistengeneration, die sich eine „neue Gegenwärtigkeit“ auf die Fahnen geschrieben haben, hat Kampe keine Berührungsängste vor dem traditionellen „Apparat“ Theater, dessen angestammte Präsentationsformen dann von innen heraus experimentell durchlöchert, ausgefranst, erweitert werden, um gerade dadurch seinen ursprünglichen Idealen als Möglichkeitsraum unmittelbarer Erfahrung wieder näher zu kommen. Das hat in den letzten Jahren zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen geführt, wo ein gleichberechtigtes Produktionskollektiv aus Text, Bühne und Musik zusammenfand: „ANOIA“ (2011/12) war ein Musiktheater für Tänzerin, Schauspieler, Sänger, Ensemble und Zuspielungen, das sich einer traumatisiert-autistischen Frauenfigur und ihrer beschädigten Innenwelt als somnambule Séance zwischen Wahn und Wirklichkeit näherte. Kampe schrieb zu diesem Ich-Kerker eine betont indifferente, „beschädigte“, manchmal wie erstickte Musik, die unwirkliche Räume konstituierte und dabei von schlierigen Spuren sakraler Musik durchzogen war. „Plätze.Dächer.Leute.Wege“ (2014/15) hingegen erforschte im Auftrag des Fonds experimentelles Musiktheater ein Jahr lang die „utopischen Potentiale“ der Stadt Bielefeld, mit allen Höhen und Tiefen, die eine bürgerliche Kleinstadt und ihr Theaterbetrieb so mit sich bringen, wenn sie sich mit sich selbst auseinandersetzen sollen. Die Strukturen des Produktionsprozesses, das Unfertige, Baustellenartige der Konzeption, wurden da im Reibungsfeld von kreativer Utopie und Alltagswirklichkeit quasi automatisch zum Stück selber, in das sich die Bielefelder Bürger mit manch denkwürdigem O-Ton verewigt hatten. In dieser Laborsituation hatte Kampe eine Musik destilliert, die reibungsvoll mit- und aufeinander reagierte: kaputte Lieder und angeschrägte Arien, zerschlissene Klangflächen, stotternde Erzählversuche und fragmentierte Feldaufnahmen, immer knapp unter dem Verfallsdatum.

Das nächste Musiktheater-Projekt liegt bereits vor Anker: Im September 2016 wird im Theater Discounter Berlin „Kap Horn liegt auf Lee“ uraufgeführt, wo zusammen mit dem Ensemble LUX:NM und dem Theaterkollektiv „koikate“ „die Utopie verfolgt wird, sich einer Utopie zu nähern“ und sich den unerreichbaren „Sehnsuchtsorten“ des Lebens angenommen wird. Hierzu werden die Musiker selbst das dokumentarische Erzähl-Material liefern. Ziel: eine emotionale Unmittelbarkeit aus den ironischen Territorien trashiger Post-Postmoderne zurückzuerobern: „…  das Vorbehaltlose, Echte und Authentische liegt uns am Herzen. Unsere Arbeit folgt zudem dem Manifest der zeitgenössischen Bewegung der Post-Ironie, das Schönheit und große Empfindung in der Kunst nicht nur zulassen möchte, sondern sie auch ungebrochen zelebriert“, versprechen die Beteiligten. Kann das wirklich ernst gemeint sein? Oder handelt es sich hier um eine besonders verstiegene Form der Ironie? Man darf gespannt sein, was sich da vor Ort an inszeniertem oder „echten“ Gefühl zusammenbraut, denn wie heißt es so schön im Zusammenhang von Kampes „Ripley“-Stücken: „Auch wenn Captain Janeway einen Kaffee schlürft, könnte es jeden Augenblick möglich sein, dass der Kaffee eigentlich eine Hypertransformiertesubraumanomalie aus einem Paralleluniversum ist. In meinen Stücken findet sich diese Welt weniger klanglich, denn als Denkmuster wieder. Alles könnte jederzeit möglich sein…“

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