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Voll Schaudern die Nacht durchplaudern

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Marcellus-Schiffer-Monografie im Weidle Verlag erschienen
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Viktor Rotthaler (Hg.): Marcellus Schiffer: Heute nacht oder nie. Tagebücher, Erzählungen, Gedichte, Zeichnungen, Weidle Verlag, Bonn 2002, 248 S., zahlreiche Abbildungen, € 23,00, ISBN 3-931135-69-1

Bislang war Marcellus Schiffer (1892–1932) vor allem eines: Ein weitgehend vergessener Chanson-Dichter des lasterhaft-ironischen Berlin der 20er- und frühen 30er-Jahre, der sich per Selbstmord 1932 aus dem Leben beförderte und in der Erinnerung der Nachwelt als biografische Fußnote zu Marlene Dietrich fortlebte. Verheiratet war Schiffer nämlich mit der Diseuse und Schauspielerin Margo Lion (1900–1989). Und die war ein Leben lang Marlene Dietrichs beste Freundin, seitdem die beiden in der Kaufhaus-Revue „Es liegt in der Luft“ (1928) das zweideutige Duett „Wenn die beste Freundin mit der besten Freundin“ geträllert hatten.
Text und Musik dazu stammten von Marcellus Schiffer, dem Chansondichter mit dem Monokel im Auge, und Mischa Spoliansky, einem als „Komponisten des Kurfürstendamms“ bekannt gewordenen Pianisten (1898–1985), dessen „Rhapsody in Blue“-Einspielung seinerzeit auch einen George Gershwin begeisterte.

Aus dem Nachlass Schiffers hat der Regensburger Experte für die Popularkultur der Weimarer Zeit, Viktor Rotthaler, ein schön gestaltetes und großzügig illustriertes Buch zusammengestellt. Darin ergänzen sich ein biografischer Abriss, Tagebuchaufzeichnungen und Chansontexte sowie grafische, literarische und journalistische Arbeiten zu einem spannenden Porträt des Chansontexters.

Schiffer war ein Multitalent. Von seiner Ausbildung her eigentlich Maler, Illustrator und Grafiker versuchte er sich anfänglich als Theaterautor, Erzähler expressionistisch verzerrter Märchen, Feuilletonist und Romanautor. Erfolg – und zwar großen – hatte er jedoch nur als Chanson-Dichter, Revue- und Opern-Librettist, den alle um Texte „beschmusten“, wie Schiffer 1924 in seinem Tagebuch notierte.

Alle, das bedeutete bei einem wie Schiffer auch wirklich alle. Trude Hesterberg, Curt Bois und Wilhelm Bendow hießen die Diseusen, Kabarettisten und Schauspieler, die die Schiffer-Chansons interpretierten. Friedrich Hollaender, Werner Richard Heymann und der Busoni- und Schönberg-Schüler Allan Gray/Josef Zmigrod die Komponisten, die sie vertonten.

Selbst für Paul Hindemith textete Marcellus Schiffer. Von ihm stammte das Libretto zu Hindemiths Zeitoper „Neues vom Tage“ (1929), die in den vergangenen Jahren an deutschen Theatern eine kleine Renaissance erleben durfte.

Am wichtigsten und erfolgreichsten war jedoch Schiffers Zusammenarbeit mit Margo Lion und Mischa Spoliansky. Das Gesangs- und Schauspieltalent seiner späteren Frau entdeckte Schiffer eher zufällig. Um die hysterisch-depressiven Anfälle und die – aus seiner Sicht – krankhafte Eifersucht seiner Freundin zu therapieren, drängte er sie zu Kabarettauftritten. Mit der „Linie der Mode“ schrieb er seiner französischen „femme fragile“ einen Chanson auf den dürren, geschmeidig-giraffenhaften Körper, mit dem Margo Lion 1923 debütierte. Schon bald war die kecke Französin mit der Berliner Schnauze eine gefragte Chanson-Interpretin und Schauspielerin, die unter anderem als Seeräuber-Jenny in der französischen Filmfassung der „Dreigroschenoper“ (1931) zu sehen war.

Mit Spoliansky entwickelte Schiffer neue, zeitgeistige Genres und Formen des Musiktheaters, die sich gekonnt zwischen Cabaret und Revue, Literatur und Schlager, Hoch- und Popularkultur bewegten. Für Rotthaler markiert Spolianskys und Schiffers Kaufhausrevue „Es liegt in der Luft“ – und nicht etwa „Die Dreigroschenoper“ – den „ersten deutschen Musical-Versuch“. Auf diesen großen Erfolg ließen Schiffer und Spoliansky die Kabarett-Oper „Rufen Sie Herrn Plim!“ folgen, eine Parodie auf die Dienstleistungsgesellschaft, bei der es um einen Kaufhausangestellten geht, dessen Job es ist, zur Zufriedenheit unzufriedener Kunden immer wieder von neuem gefeuert zu werden. Mit dem Jan Kiepura-Filmschlager „Heute nacht oder nie“ (1932) endete die Zusammenarbeit von Spoliansky und Schiffer: Der Texter beging bald darauf Selbstmord und Spoliansky emigrierte nach England, wo er eine zweite Karriere als Filmkomponist begann.

Für den besonderen Sound und schnoddrigen Tonfall Schiffers stehen bis heute Stücke wie das „Chanson von der Gesellschaft“: „Auf der Gesellschaft / Rauscht die Gesellschaft / Plauscht die Gesellschaft / So ist die Gesellschaft / Man muss voll Schaudern / Die Nacht durchplaudern / Und hat seit Tagen / Sich nichts zu sagen / Das plaudert kritisch / Und plauscht politisch / Löst alle Fragen / Mit Käse im Magen“.

Den beißend-eleganten Witz Schiffers machte der Filmregisseur Moriz Seeler in einem Nachruf an dessen erotischen, todessehnsüchtig-selbstmörderischen Zeichnungen und Grafiken fest. Hier komme der ganze Schiffer zur Geltung: „ein melancholischer Zyniker mit einer infantilen Phantasie“, „grausam wie George Grosz, echt wie Zille und verderbt wie Baudelaire“.

Warum sich dieser widersprüchliche Künstler im August 1932 umbrachte, lässt sich auch mit Viktor Rotthalers Buch nicht eindeutig klären. Es waren wohl weniger konkrete Gründe – enttäuschte Hoffnungen auf berufliche Chancen beim Tonfilm oder der Aufstieg der NSDAP – die Schiffer zu diesem Schritt bewogen, als eine allgemeine Lebensmüdigkeit und tödliche Langeweile, die sich thematisch wie ein roter Faden durch sein gesamtes zeichnerisches Werk und das Tagebuch ziehen. Selbstmord und Todesphantasien, sie lagen bei Schiffer „in der Luft“. Ein nachgelassener Text Schiffers trägt den Titel „Vielleicht gewöhnt man sich mit der Zeit an die Zeit“. Für den, der dies schrieb, ging diese Hoffnung nie in Erfüllung.

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