Hauptbild
Wilhelm Killmayer (geb. am 21. August 1927). Foto: Stefan Forster
Wilhelm Killmayer (geb. am 21. August 1927). Foto: Stefan Forster
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Vom Wunder der Reduktion

Untertitel
Zur Erinnerung an Wilhelm Killmayer
Publikationsdatum
Body

Eigentlich hatte unserer Autor Enjott Schneider einen Artikel zum 90. Geburtstag von Wilhelm Killmayer verfasst. Heute hat uns die traurige Nachricht erreicht, dass Wilhelm Killmayer einen Tag vor seinem 90. Geburtstag verstorben ist. Aus der Würdigung dieses besonderen Komponisten und Menschen wird auf diese Weise zugleich leider ein Nachruf.

Wilhelm Killmayers Schaffen mahnt mit dröhnender Mächtigkeit – durch Stille, Zartheit, leise Töne, durch liebevolles Pflegen des achtlos Weggeworfenen, durch die Wunder einzelner Töne und reduzierter Gesten. Er ist ein zeitlos Unangepasster geblieben, der schon früh gegen jede Dogmatik von „Neuer Musik“ opponierte und statt internationaler Mobilität sich immer auf die Kraft und Inspiration der eigenen Verwurzelung verlassen hatte.

Mit „Wurzeln“ ist keine Beschränkung auf den Regionalismus eines bajuwarischen Radius gemeint, sondern die Fähigkeit, in den achtsam aufgespürten Details der allernächsten Umgebung – meist der Natur – die universelle Größe und Bedeutung zu entdecken. Der englische Mystiker und Poet William Blake (1757–1827) hatte diese Killmayer’sche Begabung mit seiner Metapher „die Welt in einem Sandkorn und den Himmel in einer wilden Blume zu sehen“ kongenial auf den Punkt gebracht. Schon 1992 im Buch „Der Komponist Wilhelm Killmayer“ (Schott Verlag) betitelte ich in diesem Sinne meinen Essay mit: „Vom Wunder des einzelnen Tones“. Der Komponist selber notierte: „Ein einzelner Ton ist für mich etwas Kostbares – wie ein Kris­tall oder eine Blume.“ Solche Haltung darf in einer Welt der Geschwätzigkeit, der marktschreierischen Fassadenhaftigkeit und Business-Betriebsamkeit als purer Widerstand gegen den Zeitgeist gewertet werden.

Seit ich Killmayer’sche Musik zum ersten Mal hörte, war ich fasziniert von deren poetischer Holzschnittartigkeit und Einfachheit, dem eigenen Stil aus ostinaten Mustern (lange vor der amerikanischen Minimal Music), wo zwar von Ferne noch die Aura seines Lehrmeisters Carl Orff durchschimmerte, aber niemals die Eigenständigkeit der subjektiven Gesten als Selbstdurchlebtes infragestellte.

Wie ich schon früher feststellte, ist der Archetyp des „Kindes“, wie ihn C.G. Jung als Movens aller Kreativität dingfest machte, der wichtigste Zugang zum Wesen Wilhelm Killmayers. Wie ein Kind das Staunen und die Achtsamkeit nicht verlieren, sich täglich die Welt nach eigenen Gesetzen ohne die Prälogik des Alltäglichen erfinden – zu Killmayers Poetik scheint mir dies der Schlüssel zu sein. Es verbindet ihn mit Wolfgang Amadeus Mozart, der wahlverwandt auch ein „göttliches Kind“ mit Lust an Spiel, Worteverdrehen und kreativen Albereien gewesen ist.

Dem „Kind“-Motiv begegnet man bei Killmayer vielfach: In Werktiteln wie „Kindertage“ (Kammermusik Nr. 3) oder „Jugendzeit“ (Poème symphonique); im Fasziniertsein durch reine hohe Stimmen (für Bass hat er nie etwas komponiert), in seiner Spielfreude – von Ulrich Dibelius treffend als gelenkiger Unernst bezeichnet. Killmayer: „Ich lebe von meinen Kindheitserinnerungen ... Der Rückgriff kann nie ein direkter Rückgriff sein, sondern es ist der Versuch, etwas, was gewesen ist, was als heil empfunden wurde, wieder zu erringen. Als Idee wohlgemerkt.“ In solch permanentem Selbstbezug ist „Das Weltbild des Kindes“ ausgeprägt, wie es 1926 von Jean Piaget dargelegt wurde. Das Denken des Kindes ist durch „Egozentrizität“, also das genaue Gegenteil von Objektivität, gekennzeichnet. Egozentrismus ist radikale Subjektivität, ein Existieren im eigenen Assoziationsraum. Wilhelm Killmayer anlässlich einer Konzertaufführung Frankfurt 1987: „Da mir meine Assoziationen lieb sind, ist das ästhetisch Anrüchige für mich reizvoll. Das Sentimentale, das Hübsche, das Unordentliche, das Triviale, das Freche, Nette, Geschmacklose, das Unberechenbare, aus dem der Blitz kommt oder das Hergelaufene.“

Reflexionen über „Kind“ führen natürlich auch zu Friedrich Hölderlin, zu dem Wilhelm Killmayer so große Wesensverwandtschaft aufweist. Im Briefroman „Hyperion“ knüpft Hölderlin gegen 1800 an Rousseau an, wenn er zu „Kind“ sagt: „Es ist ganz, was es ist, und darum ist es so schön. Der Zwang des Gesetzes und des Schicksals betastet es nicht, im Kind ist Freiheit allein. In ihm ist Frieden, es ist noch nicht mit sich selber zerfallen.“ Hölderlin geht es im Hyperion weniger um eine direkte Gegenüberstellung von Kinder- und Erwachsenenwelt als um eine dichterische Umsetzung des kindlichen Geistes in Natur und Gestalten. Alle über den Text verstreuten Aussagen zur Kindheit verdichten sich zu einer Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies. – Die Unmöglichkeit der leiblichen Rückkehr in die Kindergestalt inspiriert Hölderlin zu Worten wie „Daß man werden kann, wie die Kinder, daß noch goldene Zeit der Unschuld wiederkehrt, die Zeit des Friedens und der Freiheit, dass doch Eine Freude ist, Eine Ruhestätte auf Erden!“

Auch für Robert Schumann war „Kindheit“ der Schlüssel zum Werk, was Killmayer fast magisch anzog. In „Schumann in Endenich“ (einem der großartigsten Werke, 1972) identifizierte er sich kompositorisch mit dem sich in seine Kindheit wahnhaft zurückschraubenden Schumann. „Dieser jünglingshafte Mensch war mehr und mehr ein ‚Fremder Mann‘ in einer Umwelt geworden, die erwachsen, ‚groß‘ sein wollte. Daran litt er.“ (aus der Partitur Schumann in Endenich)

In seiner Person drückt sich die Universalität des Kind-Archetyps mustergültig aus. C.G. Jung: „Das Anfangswesen war vor dem Menschen, und das Endwesen ist nach dem Menschen. Psychologisch bedeutet diese Aussage, dass das ‚Kind‘ das vorbewusste und das nachbewusste Wesen des Menschen symbolisiert. In dieser Vorstellung drückt sich das umfassende Wesen der seelischen Ganzheit aus.“ Das „Kind“ ist deshalb „Alles“: „Es ist das Verlassene und Ausgelieferte, und zugleich das Göttlich-Mächtige, der unansehnliche, zweifelhafte Anfang und das triumphierende Ende. Das ‚ewige Kind‘ im Menschen ist eine unbeschreibliche Erfahrung, eine Unangepasstheit, ein Nachteil und eine göttliche Prärogative, ein Imponderabile, das den letzten Wert und Unwert einer Persönlichkeit ausmacht.“

Die alten Alchemisten nannten ihren gesuchten Stein der Weisen „senex et puer“ – Greis und Knabe. „Es ist ein Gegensatzpaar, das in seinem Wesen zusammengehört: die jahrtausendealte Weisheit des Unbewussten und seine ewig junge Kraft der Selbsterneuerung.“ Nur wenige haben bislang den „Stein der Weisen“ – die Verbindung von „senex et puer“ – finden dürfen.

Immer noch bin ich der festen Überzeugung, dass Wilhelm Killmayer dies gelungen ist.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!