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Enjott Schneider in seinem Tonstudio in der Au, einem zentral gelegenen Münchener Wohnviertel nahe den Isarauen. Foto: Mathias Vietmeier
Enjott Schneider in seinem Tonstudio in der Au, einem zentral gelegenen Münchener Wohnviertel nahe den Isarauen. Foto: Mathias Vietmeier
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Von der Faszination des Immateriellen erzählen

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Zum 70. Geburtstag des Komponisten Enjott Schneider · Von Marco Frei
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Er liebt „individuelle, persönlichkeitsgetränkte Musik“, von Johannes Ockeghem bis Alfred Schnittke. Oder auch „Archaisch-Rituelles“. Bei Stücken aus seiner Jugendzeit werde er schwach: „egal ob Schumanns Klaviermusik oder La Paloma“. Das hat Enjott Schneider vor elf Jahren in einem Fragebogen dieser Zeitung verraten. Es beschreibt ziemlich gut, wofür der Komponist schöpferisch steht. Seine Musik integriert unterschiedlichste Stile, Arbeitsweisen. Das schließt auch serielle Techniken oder Rockmusik ein.

Bildhafter Ausdruck und unmittelbare Emotionalität: Das sind für Schneider die ganz zentralen Erfordernisse jeder guten Musik – nicht nur im Filmgenre, mit dem sein Wirken besonders eng verbunden wird. „Geschichten erzählen in Bildern und Tönen hat mich von frühester Jugend an bis heute fasziniert.“ Ein Rückblick: Vor siebzig Jahren, am 25. Mai 1950, wird Schneider in Weil am Rhein geboren. „Mit 14 Jahren hatte ich bei einem Freischütz-Besuch die Vision, Opern schreiben zu wollen und mittels Musik auch ‚Geschichten zu erzählen‘: geheimnisvolle, von Wald und Mythen. Das habe ich konsequent umgesetzt.“

Neben dem Trompetenspiel erlernt Schneider Klavier, Violine und Orgel, studiert in Freiburg im Breisgau Musik und promoviert in Musikwissenschaft. Ob die „großen Klassiker von Monteverdi bis Schönberg“, Neue Musik, Rock, Jazz, Film oder Musik außereuropäischer Kulturen: Er habe sich alles „neugierig einverleibt“, gewürzt mit Literatur und Bildender Kunst als weitere „Grundnahrungsmittel“. Schon mit 23 Jahren erhält er erste Lehraufträge. Daneben ist Schneider in der Praxis aktiv, als Komponist und Organist.

Die „intensive Verschränkung von Theorie und Praxis“ führt ihn mit 29 Jahren an die Münchner Musikhochschule. Bis 2012 hat Schneider dort eine Professur inne, zunächst für Tonsatz und ab 1996 für Film-Komposition. Für seine Filmmusik erlangt er große Bekanntheit weit über die Klassik-Sphäre hinaus, obwohl er erst vergleichsweise spät zu ihr findet: mit 32 Jahren. Da hatte er bereits seine erste abendfüllende Oper, „Das Salome-Prinzip“, geschrieben. Die Schnelligkeit bei Filmproduktionen habe ihn „angetörnt und beflügelt“, so Schneider.

„Komponieren mit Siebenmeilen-Stiefeln, Umsetzen mit Orchestern und Musikern ohne Wartezeit, dann sofort in den Film gemischt (die Produzenten warteten immer schon ungeduldig): Das war genau nach meinem Geschmack.“ Noch dazu befeuert ihn die „polystilistische Freiheit jenseits aller Dogmatik“. „Ob konventionelles Orches­ter, Chor, Elektronik und Klangsynthese, außereuropäische Instrumente, Jazz, Folklore oder schrille Avantgarde: Je nach Filmgenre konnte alles verwendet werden.“

Seine eigene „quasi postmoderne Vielfalt“ kommt dementsprechend in der Filmbranche gut an. Er arbeitet mit führenden Regisseuren. Mit Joseph Vilsmaier realisiert er die Filme „Herbstmilch“, „Stalingrad“ oder „Schlafes Bruder“. Für Bernd Eichinger komponiert er „Das Mädchen Rosemarie“. Margarethe von Trotta ist mit „Die andere Frau“ und „Jahrestage“ vertreten, Jo Baier mit „Schwabenkinder“, „Stauffenberg“ oder „Nicht alle waren Mörder“. Zudem komponiert Schneider für „Event-Zweiteiler“, Dokumentarfilme oder Fernseh-Serien.

„Gerade für die Serien-Erfahrung, wo wöchentlich fünf Filme zu vertonen waren, bin ich sehr dankbar“, gesteht Schneider. „Man bekommt nicht nur einen reichen Sprachschatz musikalischer Vokabeln, sondern ein Urvertrauen in den Instinkt und die Kreativität des Unterbewusstseins. Verstand ausschalten, Lossprudeln wie bei der ‚Écriture automatique‘ der Surrealisten, sich ganz dem Flow einer quasi improvisierenden Spontaneität hingeben!“ Genau das gefällt Schneider, und zwar in allen Gattungen: selbst in der „Geistlichen Musik“.

Zehn Oratorien liegen von ihm vor sowie sechzehn große Orgelsinfonien. Mehrere Bühnenwerke kommen hinzu, zuletzt die Oper Marco Polo. Sie ist im Auftrag der chinesischen Regierung entstanden. Nach der Uraufführung 2018 wurde das Werk jetzt im Herbst erstmals in Europa gezeigt: in Mailand und Genua. Zahlreiche Orchesterwerke runden das Schaffen Schneiders ab. Seine „Glocken-Sinfonie. Lied an das Leben“ von 1998/99 basiert auf Texten aus dem KZ Buchenwald. Die Sinfonie Nr. 2 nennt Schneider „Sisyphos“, und mit „Teatrissimo“ hat er ein „Ratatouille für Orchester“ vorgelegt.

Denn für Schneider ist die traditionelle Trennung zwischen U- und E-Musik eine „Schimäre“. „Sobald Musik Türen aufstoßen und den Menschen aus seiner begrenzten Nützlichkeit in die Welt einer freien Poesie entführen kann, ist es gute Musik, die keinem Schema gehorchen darf“, betont er. Die reine Unterhaltung aber bleibt für ihn „bloßes Zeitvertreiben und damit verlorene Lebenszeit“. „Jede Musik, die läppisch vorhersehbar ist, etwa durch gleichbleibende Rhythmus-Stereotypen, die aus vorgestanzten Bausteinen besteht und kein Geheimnis in sich birgt, ist für mich langweilig und ‚schlechte Musik‘“. Sobald aber Musik aus einem „authentischen Inneren“ komme, etwas „Verborgenes überraschend nach Außen bringt als Ausdruck“, dann lebe er auf und werde „hingebungsvoll ganz Ohr“. „Das sind Qualitätsmerkmale, die nichts mit einer E- oder U-Klassifizierung zu tun haben.“ Genau das bedeutet auch, dass alle Musik aus demselben Impetus komme. Sie soll „hinter die Dinge blicken“, in die geistige Sphäre hinter der sichtbaren Realität, in allen Genres entgrenzen und die Türen zu einer anderen Welt aufmachen: das Unsichtbare sinnlich erfahrbar machen.

„Unsere Gesellschaft bleibt viel zu sehr dem Materiellen und dem Design als einer Fassade verhaftet“, bekennt Schneider. „Meine Aufgabe ist es, den Menschen von der Faszination des Immateriellen zu erzählen – so wie ich es einst im Freischütz selber erlebt habe!“ Denn Musik ist für Schneider Traumarbeit und Poesie. Er spricht von einer „Reise in die immaterielle Welt des Unmöglichen“, in die „Zeiten vor Geburt und Tod“. „Danach hungern die im Funktionalismus der Business-Welt gefangenen Menschen.“

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