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Kann ich die Brotboxen noch mal hören? Ahmet Maman dirigiert die Klasse 3a der Elly-Heuss-Knapp-Schule.  Foto: Natascha Braun
Kann ich die Brotboxen noch mal hören? Ahmet Maman dirigiert die Klasse 3a der Elly-Heuss-Knapp-Schule. Foto: Natascha Braun
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Was es heißt, von Cage zu lernen

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Darmstädter Schüler lassen sich von der Ausstellung „A House Full Of Music“ inspirieren
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Die heitere Atmosphäre von Kindern und jungen Menschen, die aus eigenem Antrieb etwas tun, prägte das Projekt „INSIDE AND OUTSIDE – Klangexkursionen in innere und äußere Umwelten“, das vom Institut für Neue Musik und Musikerziehung (INMM) gemeinsam mit den Machern der Ausstellung „A House Full Of Music“ und drei Darmstädter Schulen durchgeführt wurde. Aus dem Vorstand des INMM hatten Margret Trescher, Helmut Bieler-Wendt und Volker Staub für jeweils fünf Doppelstunden mit den jeweiligen Klassen und ihren Musiklehrern zusammengearbeitet, gemeinsam mit ihnen die Ausstellung besucht und geholfen, dort empfangene Anregungen in musikalisch-szenischen Gruppenprozessen umzusetzen, die auf der Mathildenhöhe zur Aufführung kamen.

Den Grundschülern der Klasse 1c der Elly-Heuss-Knapp-Schule hatte im „House Full Of Music“ besoders das „Cabinet of Curiousness“ von Janet Cardiff und George Bures Miller gefallen, ein Karteischrank mit zwanzig Schubladen, mit denen sich jeweils ein Klangdokument öffnen lässt. Im Kinderhalbkreis auf der „Bühne“ vor dem Aufgang zum Museum (Direktor Ralf Beil wies in seiner Begrüßungsrede darauf hin, dass dieser Treppenabsatz in der Nachkriegszeit den Kulturhungrigen im zerbombten Darmstadt tatsächlich als Freilichtbühne gedient hatte) entsprach jeweils eine Gruppe von ABC-Schützen gemeinsam einer „Schublade“ mit einem eigenen Geräusch. „Dirigentin“ Nora Leventhal lief behend hin und her, um mit pantomimischem Öffnen und Zuschieben der gedachten Schubladen mal das eine, mal das andere Geräusch freizusetzen oder zum Schweigen zu bringen, oder auch verschiedene Geräusche miteinander zu mischen. Ein zweiter „Satz“ überformte Bewegungsdrang und Zerstörungslust, indem das herzhafte Trommeln auf Pappkartons und das Zerreißen von Papier im Sinne alternierender Klangblöcke gehandhabt wurde: „Dirigent“ Noël Mahler regelte, wann und in welcher Lautstärke die eine oder andere Aktion zum Zuge kam. 

Margret Trescher und Klassenlehrer Benjamin Grundmann hatten den Kindern Ideen entlockt und mit ihnen Strategien gesucht, sie zu ordnen. Das zielbewusste Eingrenzen und Ordnen des musikalischen Materials ist die häufig übersehene Grundvoraussetzung dafür, dass man nach Cages Vorbild Einzelheiten in der zeitlichen Abfolge dem Zufall überlassen kann, wie die Ausstellung im Kapitel „Würfeln“ nachvollzieht. 

Wörtliches Würfeln

Die von Esther Vorndran geleitete Klasse 3a der gleichen Schule nahm das Würfeln wörtlich: Die veranschlagte Gesamtdauer des Stückes wurde in Ras­ter geteilt, die Geräusche den Augen des Würfels zugeordnet und für jede Zeiteinheit erwürfelt, was darin passieren sollte. Über der Bühne prangte ein Bettlaken, auf das die Kinder die Struktur des Stückes gemalt hatten, als „Partitur“ zum Mitlesen. Von Cage übernommen war auch die Funktion der „Dirigentin“ Marlene Wollrab als eine Uhr, die mal schneller, mal langsamer läuft und damit das vorstrukturierte Geschehen zur unwiederholbaren Zeitgestalt gerinnen lässt. Das klangliche Grundmaterial war chorisches Schlüsselrasseln. Luftballons und Plastik-Brotboxen mit ihrem ganz eigenen Schmatzen der wie Nut und Feder ineinander greifenden Ränder und das Schnappen der einrastenden Verschlüsse prägten das vom „Dirigenten“ Ahmet Maman proportionierte zweite Stück der Drittklässler. 

Den Oberstufenschülern der Eleonorenschule brauchten Musiklehrerin Alice Hentzen und Helmut Bieler-Wendt lediglich eine Initialzündung zu geben, um den hohen Stellenwert, der an dieser „Selbstständigen Schule“ dem sozialen Lernen, der Eigenverantwortung und Eigenständigkeit eingeräumt wird, sinnfällig zu machen. 

Wankende Standpunkte

Seine Hauptaufgabe sah Bieler-Wendt darin, „Standpunkte zum Wanken bringen: Wer kurz vor dem Abitur steht, hat schon fast allzu genaue Vorstellungen davon, was gute Musik ist und was nicht“. Er ermutigte die Schüler, spontane Ideen ohne Bewertung festzuhalten und weiterzudenken. „Manches, etwa das Zerdrücken von Blechdosen, wurde von den Schülern als Provokation eingeführt und dann mit zunehmendem Ernst zu einem gekonnt gehandhabten Bestandteil des Stücks entwickelt“. Spürbar von Cages „Water Walk“ inspiriert, der im Museum als Video-Dokumentation zu sehen ist, war ein Kochtopf, auf dessen leer erhitzten Boden Wasser traf und mit herrlichem Zischen und Wolkenformationen beeindruckte. Doch über allen synästhetischen Reizen thronte das Erlebnis des sozialen Miteinanders als stimmiger, energiegeladener und energiebringender Prozess. 

Angespannter war die Stimmung in der Klasse 7a der Viktoriaschule, die mit ihrer Musiklehrerin Christina Troeger und dem Komponisten Volker Staub zusammengearbeitet hatte und sich zur Präsentation ihrer Ergebnisse ins enge „Cage-Kino II“ verwiesen sah. Der Musik-Schwerpunkt ieses Gymnasium war an der von Paula Jakobs komponierten, bei aparter harmonischer Rückung sehr organisch wirkenden Melodie abzulesen. Sie bildete das Rückgrat des von Erik Saties „Vexations“ inspirierten Terzetts „Jour ou nuit“. Beeindruckend waren auch das von afrikanischen Rhythmen inspirierte Sextett „Bongo Rongo“ und das musikalisch wie szenisch ansprechend durchgeformte Oktett für Plastikflaschen, Glaskelch und Gießkanne, das, als Bezug zu Cage, genüsslich erleben ließ, wie ein Glaskelch immer tiefer klingt, je mehr Wasser man in ihn einfüllt. Vom Ostinato eines Metronomschlags durchzogen wirkte die Klang-Collage „Emilias Alltag“ dann wie der Hilferuf der Opfer einer Pädagogik, deren Menschenbild sich in zweifelhafter Weise am Bedarf der Industriegesellschaft orientiert. 

Von Cage ließe sich weit Grundlegenderes lernen. Etwa, wie man Menschen Menschen sein lässt. Aber das wäre ein auf weit längere Zeit anzulegendes Projekt. 

Die Ausstellung „A HOUSE FULL OF MUSIC – Strategien in Musik und Kunst“ ist noch bis 9. September in Darmstadt zu sehen. www.mathildenhoehe.info

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