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Wie Wolkenbilder nur in Umrissen erkennbar

Untertitel
Das Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert im Laaber Verlag
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Spätestens mit Kant rückt die Frage nach den Ermöglichungsbedingungen von Erfahrung in den Mittelpunkt der Reflexion. Immer deutlicher treten seither die Anschauungsformen, Begriffe, Metaphern und Sprachspiele hervor, die unsere Sicht formieren – bis hin zu den postmodernen Konzepten, in denen der Umlauf der Bedeutungen längst schon verselbstständigt erscheint. Wie tief wir in die entsprechenden Codes eingelebt sind, zeigt sich am Eigengewicht, mit dem sie uns mitunter entgegentreten – zuletzt als „Jahrhundertwechsel“ im Sinne von Abschluß und Neuanfang. Die Zeitzählung im Dezimalsystem implantiert unmerklich einen „Sinnüberschuß“, der über die bloße Zahlenmechanik hinaus unsere Sichtweise historischer Verläufe mit bestimmt.

Spätestens mit Kant rückt die Frage nach den Ermöglichungsbedingungen von Erfahrung in den Mittelpunkt der Reflexion. Immer deutlicher treten seither die Anschauungsformen, Begriffe, Metaphern und Sprachspiele hervor, die unsere Sicht formieren – bis hin zu den postmodernen Konzepten, in denen der Umlauf der Bedeutungen längst schon verselbstständigt erscheint. Wie tief wir in die entsprechenden Codes eingelebt sind, zeigt sich am Eigengewicht, mit dem sie uns mitunter entgegentreten – zuletzt als „Jahrhundertwechsel“ im Sinne von Abschluß und Neuanfang. Die Zeitzählung im Dezimalsystem implantiert unmerklich einen „Sinnüberschuß“, der über die bloße Zahlenmechanik hinaus unsere Sichtweise historischer Verläufe mit bestimmt.Das „Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert“ – eine musikwissenschaftliche Großunternehmung des Laaber-Verlags – soll der Spannung zwischen dem mehr oder weniger zufälligen Zeitrahmen und dem insinuierten sinnhaften Überschuß entgehen, indem schon der Titel die technische Seite betont: Musik „im“ 20. Jahrhundert bezieht sich auf die klingenden Ereignisse – und die Pausen dazwischen – in einem als Zeitbehältnis abgesteckten Rahmen. Die bereits vorliegenden Bände der auf insgesamt zwölf Bände angelegten Edition halten sich mit wohltuender Offenheit an eine Vielfalt, die sich einsinnigen Zuweisungen und Ansprüchen auf letztgültige Interpretation entzieht.

Das Disparate und Vielschichtige des Gegenstands verdeutlicht in besonderer Weise der kürzlich erschienene Band zur „Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert: 1975 - 2000“. Ursprünglich als Band zur „Musikalischen Postmoderne“ angelegt, wurde eine Titeländerung nötig, weil die von postmodernen Konzepten vorgesehene Vielfalt nicht einfach mit der Pluralität der Situation im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts zusammenfällt. Im Spannungsfeld zwischen Moderne, (Alt-) Avantgarde, Postmoderne und den Überlegungen zu einer Zweiten Moderne hat sich eine Gemengelage aus Kontinuitäten und Diskontinuitäten ergeben, in der jede schlagwortige Epochenbezeichnung die Lage übermäßig entdifferenzieren würde. Die Herausgeberin, Helga de la Motte-Haber, faßt diese Einsicht in eine Zeitdiagnose, die sie dem Band vorausschickt: „Wenn etwas progressiv fortgeschritten ist, dann ist dies der im 18. Jahrhundert einsetzende Individualisierungsprozeß künstlerischer Formen ... Für das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts gibt es keine ästhetischen Vorgaben oder stilistische Programme“.

Entsprechend geht der Band dem mit-, neben- und gegeneinander der Strömungen, Gattungen und Regionen nach. Er skizziert die Wandlungen der musikalischen Avantgarde in Amerika und Europa und beschäftigt sich über den okzidentalen Bereich hinaus mit Neuer Musik im Kontext des Postkolonialismus und der Globalisierung. Spezieller wird auch das von einem Festivaltitel zu einem eigenen metropolitanen Performancekonzept mutierte „Urbane Aboriginale“ behandelt – samt der dazugehörigen nomadischen Lebensform der Künstler.

Für die Spannweite gegenwärtigen Komponierens steht einmal ein Artikel von Gregor Schmidt-Stevens, der die Rückkehr zur Inhalts- und Ausdrucksästhetik bei einigen älteren und vielen jüngeren Komponisten nachzeichnet – eine Entwicklung, die ja die Grenzen zum Kitsch nicht selten überschreitet – und zum anderen ein Beitrag von Frank Hilberg, der das Festhalten an der Materialästhetik und der historischen Reflexivität bei Helmut Lachenmann, Mathias Spahlinger, Nicolaus A. Huber oder Rolf Riehm zum Gegenstand hat.

Verdienstvoll auch ein Beitrag zu den in Deutschland vielleicht immer noch nicht genügend rezipierten französischen „Spektralisten“ sowie Frieder Reininghaus’ Beitrag zum Musiktheater am Ende des 20. Jahrhunderts, der mit dem „Theaterbauboom“ auch sachliche Rahmenbedingungen mitreflektiert. Friedemann Kawohl problematisiert in seinen Überlegungen zur Kammermusik den herkömmlichen musikalischen Gattungsbegriff, dem er ephemere Ordnungszusammenhänge gegenüberstellt: „Was aber diese neuen Gattungsbegriffe ordnen, sind nicht die fixierten Werke, die zwei Jahrhunderte lang Gegenstände der Musikwissenschaft waren, sondern es sind flüchtige ästhetische Einheiten, wie Wolkenbilder nur kurz in Umrissen erkennbar für alle“.

Von einigem Gewicht für das Verständnis des letzten Vierteljahrhunderts ist schließlich Marion Saxers Beitrag zu den meditativen Musikformen, wobei die kritischen Anmerkungen zu mitunter auch zweifelhaften Hervorbringungen in diesem Bereich noch deutlicher hätten ausfallen können. Besonders geglückt erscheint hier auch die Fotoauswahl, so etwa die während der Darmstädter Ferienkurse entstandenen Bilder von einem unpathetisch entspannten Karlheinz Stockhausen oder einem erstaunten John Cage inmitten des Publikums.

Besonders hervorzuheben in der Reihe der bisher erschienenen Bände ist der ebenfalls von Helga de la Motte-Haber herausgegebene Band „Klangkunst – Tönende Objekt und klingende Räume“. Die Klangkunst, wie sie sich im Gefolge der Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts herausbildete, stand ja lange quer zu den gängigen Erwartungen – wesentlich auch deshalb, weil eines ihrer Anliegen gerade darin bestand, die überkommenen Grenzziehungen zwischen den Künsten und zwischen Kunst und „Leben“ zu unterlaufen.
In ihrem Einleitungsartikel sichtet die Herausgeberin die historischen Bezüge der Klangkunst, wobei sie den im 20. Jahrhundert immer wieder hervorgehobenen Gedanken, „daß der Kunst keine Grenzen durch Sinnesmodalitäten gesetzt werden könnten“, besonders für die Klangkunst betont. Stets strebt sie nach einem Zusammenspiel der Sinne. Die Traditionslinie reicht dabei vom Dadaismus bis zum Fluxus, von Kurt Schwitters bis John Cage.
Der historischen Hinführung schließt sich ein Beitrag von Sabine Sanio an, der die Klangkunst mithilfe eines erweiterten Kunstbegriffs zu fassen sucht. Einen Ausgangspunkt bilden hierfür die Überlegungen zum „Verfransungsprozess“ der Künste, die Theodor W. Adorno in seinen letzten Lebensjahren anstellte. Der andere wichtige Bezugspunkt ist die erweiterte Ästhetik Gernot Böhmes. Gegenüber einer vorrangig an Kunstwerken orientierten Ästhetik geht es darin um Gestaltungen der Umwelt und ihrer atmosphärischen Gehalte im Hinblick auf Befindlichkeiten der Rezipienten. Eine solche Ästhetik kommt vielen Bestrebungen der Klangkunst sehr nahe. Leider verzichtet Sabine Sanio in ihrem hochinteressanten Artikel auf eine nähere Ausarbeitung des atmosphärischen Aspekts.

Der Band behandelt im Weiteren verschiedene Sparten und Strömungen der Klangkunst und ihre Produktionsbedingungen. Spannend dabei insbesondere ein Beitrag von Frank Gertich zu Klangskulpturen, die er als klingende Objekte oder auch als „Skulpturen aus Klang“ im Sinne einer akustischen Formung des Klangraums beschreibt. In ihren abschließenden Überlegungen geht Helga de la Motte-Haber dem Übergang von der Performance zur Klanginstallation nach, den viele Klangkünstler vollzogen haben, um ihn mit allgemeineren Tendenzen eines Rückzugs des Subjekts aus dem Werk in Verbindung zu bringen.

Die einzelnen Bände des in Katalogformat gehaltenen „Handbuchs der Musik im 20. Jahrhundert“ ergänzt jeweils ein Literaturverzeichnis sowie ein Sach- und Personenregister. Als sehr hilfreich erweisen sich Kurzbiografien von Künstlern. Wichtig für das Verständnis der besprochenen Arbeiten sind zudem die vielen Notenbeispiele, Grafiken und Schwarz-Weiß-Abbildungen. Leider schwankt die Wiedergabequalität etwas, auch wären an einigen Stellen Farbabbildungen sinnvoll gewesen.

Drei weitere Bände der Edition sollen – nach Zeitabschnitten geordnet – die Entwicklungen der gemeinhin als E-Musik bezeichneten Sparte behandeln, ein Band wird näher auf die von Technik, Markt und Institutionen bestimmten Rahmenbedingungen eingehen, die übrigen Bände widmen sich einzelnen Sparten und Genres, nämlich der Elektroakustischen Musik, dem Musical, dem Musik- und Tanztheater, dem Jazz, der Rock- und Pop- und der Filmmusik. Mit einer Einschränkung scheint in der Gesamtanlage die Vielschichtigkeit der Musikentwicklung im 20. Jahrhundert berücksichtigt zu sein: Die nicht-westliche Musik, die in den Einzeldarstellungen zwar immer wie-der auftaucht, hätte wohl einen eigenen Band verdient.

Mit dem „Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert“ wurde ein Projekt aus der Taufe gehoben, dessen Reiz nicht zuletzt im Zusammenspiel eines pluralen Vorgehens mit dem Anspruch auf einen umfassenderen Überblick liegt. Nach dem Ende der großen Geschichtsphilosophien und der sinnüberhöhenden Zeitklammern erscheint dies methodisch angemessen. Auch die historische Nähe zum Gegenstand spricht für dieses Vorgehen, zumal der Blick aus der Distanz ja oft nicht der „objektivere“, sondern nur der beruhigte ist, dem der offene Horizont der Entstehungssituation abhan-den kam. Mit der Pluralität verschieben sich jedoch auch die Kriterien der Bewertung. Der inhaltliche Erfolg der gesamten Unternehmung wird noch stärker an den Leistungen der Einzelbände zu messen sein, daran, ob deren Funde und Darstellungsleistungen ein stimmiges und dem Zeitrahmen angemessenes Mosaik ergeben. Mit den vorliegenden Bänden ist jedenfalls ein viel versprechender Auftakt gelungen.

Helga de la Motte-Haber (Hg.): Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert: 1975–2000. (Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert, Band 4), Laaber-Verlag, Laaber 2000, 359 Seiten, 47 Abbildungen, 37 Notenbeispiele, 114,- €
Helga de la Motte-Haber (Hg.): Klangkunst – Tönende Objekt und klingende Räume. (Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert, Band 12). Laaber-Verlag, Laaber 1999. 352 Seiten, 80 Abbildungen, 98,- €

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