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Johannes Kreidler bei einer Masterclass im Rahmen der Synthesis-Kompositionskurse 2016 in Polen. Foto: Kreidler
Johannes Kreidler bei einer Masterclass im Rahmen der Synthesis-Kompositionskurse 2016 in Polen. Foto: Kreidler
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Willkommen im Institut für Institutionenkritik

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Die Kompositionsklasse als ästhetischer Think Tank · Von Johannes Kreidler
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Im September hat der Komponist Johannes Kreidler seine Tätigkeit als Professor für Komposition und Musiktheorie an der Hochschule für Musik FHNW/Musik-Akademie Basel angetreten. Diesen Ruf hat er zum Anlass genommen, sich grundsätzliche Gedanken zur Rolle und zu den Möglichkeiten einer Kompositionsklasse im gegenwärtigen Musikbetrieb zu machen:

Es gab Zeiten, in denen waren „Schulen“ ein Erfolgslabel in der Musik. Notre-Dame-Schule, Mannheimer Schule, Neudeutsche Schule, Zweite Wiener Schule, die New York School, Old School Hip Hop, New School Hip Hop, oder in der Fotografie die Düsseldorfer Schule; in der Philosophie geht die Geschichte sowieso von der Platonischen Akademie bis zur Frankfurter Schule. Diese Namen stehen in den Büchern und kommen selbstverständlich über die Lippen. Hier einte Haltung und Praxis die Generationen. Es wurden Begriffe geprägt.

Wollte heute ein Komponist eine „Schule“ ausrufen, „gründen“ oder „bilden“, der Shitstorm wäre garantiert, von allen Seiten. Diese Zeiten seien vorbei, Schule, so lautet der allgemeine Konsens in der Kompositionsausbildung, hieße ja Stil, verdinglichende Norm, und wenn etwas nicht sein dürfe, dann, dass ein Lehrer eine Lehre weitergibt. Im Hyperindividualismus ist das verboten. Die Tradition der Neuen Musik ist ohnehin primär der Traditionsbruch. Alle, so scheint es, sind sich darin einig und froh, dass es keine Schulen mehr gibt, auch retrospektiv wirkt es lächerlich, wenn heute noch einer eine weitere ‚Schule‘ pseudo-historiographisch irgendwo in der Vergangenheit zu lancieren versucht. Und hatten die Eleven ihren Schönberg nicht gar mit „Meister“ anzureden? Schule heißt Autorität, Regeln, Dogma, sektiererischer Elitenkreis und potenziell Machtmissbrauch – hörige statt hörende Schüler.

Schimpfwort „didaktisch“

Schlechthin tabu ist denn auch das Wort „Erziehung“ im Zusammenhang mit erwachsenen Menschen, da ist man praktisch gleich beim Gulag und ‚Umerziehungslagern‘, darum hat man irgendwann das freundlichere Wort „Bildung“ ersonnen. Der Schüler macht sich selber ein Bild, bildet sich eine Meinung, seine ohnehin schon vorhandenen Anlagen werden nicht mehr oder minder als ‚ausgebildet‘: erst die Gehirnbildung, dann Gehörbildung. „Erziehung“ dagegen, da muss gezogen werden am Ungezogenen – Wörter aus finsteren Zeiten.

In diesem Umfeld vegetiert denn auch der schlimmste aller Vorwürfe in der Kunst: Nein, nicht Faschismus oder Langeweile (die können ja noch provokant sein), sondern, wenn ein Stück „didaktisch“ sei. (Wobei mir immer noch nicht ganz entschieden erscheint, ob es bei Brecht eigentlich am Format des Lehrstücks lag, oder an dem, was darin gelehrt wurde.) Wenn in einer so frontalen Situation wie im Konzert oder Theater etwaiges verklickert wird, fühlt man sich grundsätzlich ‚be-lehrt‘. Wissenstransfers oder so etwas wie Einsichten haben in der Kunst nichts verloren. Wir sind doch nicht in der Schule! Pfuideibel, Schule! Schlimmster aller Vorwürfe.

Und es geht noch weiter mit diesen Schimpfwörtern: „akademisch“. Der Himmel bewahre uns vor „akademischen Komponisten“! Die hocken im „Elfenbeinturm“ fern der normalen Realität und konstruieren sich Töne zusammen und haben damit ihre obskuren Musik-Theorien. In Mannheim steht sogar eine staatliche Pop-Akademie! (Die zweite Mannheimer Schule.) Machen Punkbands da, nachdem sie alle Pflichtseminare besucht haben, ihren benoteten Bachelor-Abschluss? Wer wollte eigentlich akademischen Staats-Pop? Und wer sitzt in diesem Hochschulgemäuer? Beamte! Natürlich. Das faulste Volk der Erde, unkündbar und vom Steuerzahler alimentiert bis ans Lebensende. Rock ’n’ Roll geht anders.

Schule darf nicht stattfinden

Was soll ich sagen? – ich trete im September eine Stelle als Professor für Komposition und Theorie an der Musik-Akademie (akademisch!) Basel an, zur Komponisten-Erziehung nach allen Regeln der Kunstdidaktik. Wenigstens werde ich nicht verbeamtet, das Berufsbeamtentum ist in der Schweiz schon seit längerem abgeschafft, anders als in Deutschland, wo der zu approbierende Kompositionsprofessor im Rektoratszimmer – die Sätze werden vorgesprochen – „so wahr mir Gott helfe“ den Eid aufs Vaterland schwören muss. Beamt me up, Scotty!

Es ist paradox. Man unterrichtet an einer Musikhochschule, aber eine ‚Schule‘ darf da nicht stattfinden. Ceci n’est pas une école. Man sollte beim Lehrer wissen, woran man ist, aber zugleich soll dieser die eierlegende Wollmilchsau an ästhetischer Weltoffenheit verkörpern, also der mikrointervallkonzeptuelle Musiktheaterklang­installationsymphoniker sein. Der Schüler Individualist, der Lehrer Universalist. Wie geht das zusammen? Willkommen im Institut für Institutionenkritik!

Schluss mit dem sich Weiden an Skrupeln. Man wird ja nicht dazu gezwungen, einen solchen Ruf anzunehmen, noch, Komposition Neuer Musik (oder gar ‚Pop‘) zu studieren. Es gibt aber Gründe, Kunstausbildung an staatlichen Instituten zu betreiben. Die Wahrheit ist auch: Sven Väth ließ seine großen Tracks in den 90ern von einem klassisch ausgebildeten Pianisten produzieren. Die Mehrzahl der Mitglieder von Kraftwerk sind Akademiker. Kunsthochschulen erfreuen sich seit jeher großer Nachfrage, schon vor und genauso nach Beuys’ Suspendierung der Aufnahmeprüfung.

Die noch relativ jungen Literaturinstitute (Hildesheim, Leipzig, Wien, Biel) sind, allen Unkenrufen von ‚Institutsprosa‘ zum Trotz, indes fester Bestandteil der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur geworden, und der Vorwurf gleichförmiger „Sprachtrendschmieden“ längst Teil ihrer Reflexionsagenda. Und die hiesige Theater­avantgarde ist zu beträchtlichem Teil (Pollesch, Gob Squad, She She Pop, Rimini Protokoll, Monster Truck, um nur wenige zu erwähnen) dem Stall der angewandten Theaterwissenschaften in Gießen entsprungen. Selbst wenn der Abbruch des Studiums das anerkannte Start-Up-Zertifikat darstellt, muss es Universitäten geben, aus denen man erst mal ausbrechen kann. Auch eine erfolgreiche Promotion ist nur ein Hochschul-Studienabbruch auf hohem Niveau; ‚fertig‘ wird niemand.

Ja, des Lernens ist nie ein Ende. Was ist eigentlich am Lernen so schlimm? Die Abwehr von ‚Schulen‘ hat etwas Unaufrichtiges von Frühvergreisten oder ist Reflex von allzu verinner­lichtem, postmodernem Anything-goes. Dabei gibt es gerade neue Kulturen des Lehrens und Lernens. Ungemein beliebt sind im Internet die ‚Tutorials‘ geworden, Lernvideos von freiwilligen Lehrern für freiwillige Schüler. (Von der fantastischen Popularität der Wikipedia, Herold der Nichtkommerzialität im durchkommerzialisierten Netz, ganz zu schweigen.) Spaß und Schönheit des Schulischen! Im Grunde findet mit den YouTube-Lernvideos gerade die Renaissance der Vorlesung statt, einem Format, das bis vor kurzem noch hochschulpädagogisch als überkommen und lernpsychologisch für verkehrt erachtet wurde. In nicht gerade kurzen Videos wird eine hohe Dichte an Informationen übermittelt. Und die Leute schauen es sich an.

Studierende als Musik-Influencer

Also wäre es doch das Beste, man gestaltet nun auch, ich meine es ernst, Tutorials, für besonders feine Obertonspektren, für aparte Klangeffekte im Innenklavier, 8 reasons why Bauckholt’s music is so cool, the 10 best endings in New Music since 2010, instrumentation tricks with live-electronics, Olivier Messiaen: a Turangalîla-Tutorial. Das hört sich alles etwas lächerlich an, aber vom Lächerlichen ist es zum Erhabenen nur ein kleiner Schritt. Hinterm Messiaen-Tutorial steht das Werk Olivier Messiaens.

Das wären Dinge, die die Studierenden machen könnten. Es gäbe Lerneffekte in viele Richtungen, vom Inhaltlichen des Themas über die rhythmisch-formale Gestaltung solcher Videos bis zu den kommunikativen Folgen, die sie beim Publikum haben. Könnten Avantgarde-Komponisten nicht Musik-Influencer sein? Die Kompositionsklasse als YouTube-Kanal; der Professor als Tutorial-Tutor. Die Seminar-Abschlussleistung besteht also darin, ein Instrumentationstutorial zu erstellen.

Und wenn die Schüler in der Folge auch für den Konzertsaal Lernvideomusik komponieren? Ich sag mal so: Wenn’s gelänge, wäre es ein Kunststück! Bachs Kantaten sind ja auch Protestantismus-Tutorials. Ansonsten: das Gelernte anwenden, und die Grenze zwischen Tutorialität und Atutorialität, zwischen lernen und lärmen, Vorsprung des Künstlers und Altklugheit der Kritiker unendlich dekomponieren.

Vom Kompositionslehrer Arnold Franchetti (1911–1993) wird erzählt, dass er seinen Schülern exakt den eigenen Stil beibrachte, und wenn eine Note anders geschrieben wurde als er, Franchetti, sie geschrieben hätte, dann war das ein Fehler wie eine Quintpa­rallele bei Bach. Nichts gegen Stilkopien, aber in dieser ausschließlichen Manier hört sich das nach einem katastrophalen Verständnis von Kompositionslehre an, vom Prinzip her stehengeblieben in etwa bei Tonsatz-Traktaten zur Zeit der Gegenreformation; aber aus der Entfernung wirkt das doch auch ganz lustig und womöglich sogar wirklich lehrreich – denn man lernt in der Schule ja oft etwas anderes als das, was diese gedenkt einem angedeihen zu lassen.

(Bei) Personen studieren

Wann immer ich Unterricht bei einem renommierten Komponisten hatte, habe ich freilich dem zugehört, was er zu sagen hatte, aber ebenso schaute ich ihn mir auch als Typen an, studierte nicht nur bei diesen Personen, sondern studierte diese Personen: Wie sind sie zu dem geworden, was sie sind, welche charakterlichen Eigenschaften sind da mitentscheidend, gegen welche Widerstände arbeiten sie eigentlich, wie haben sie sich ihre Wohnung, ihren Arbeitsraum eingerichtet, welche Farbe haben ihre Stifte, hat der Stuhl Lehnen, wie ernähren sie sich, wie parlieren sie in geselliger Runde, wie oft betrinken sie sich, wie verhält es sich mit ihrer psychischen Disposition, welche produktiven und hinderlichen Macken haben sie, selbst Auskünfte zu ihrem Liebesleben erschienen mir relevant, und so weiter. Naiv, wer diese Dinge ausklammert.

Man kann von Claudio Monteverdi nicht nur barocken Kontrapunkt, sondern auch einiges für die elektronische Musik lernen, von Hildegard von Bingen Lektionen in Medienkunst. Dem Geformten die Form-Idee ablesen, dem Errungenen das Erringen, vom Feuerwerk auf den Zündstoff schließen, beim großen Wurf auch die Gründe des Verworfenen berücksichtigen – dann spricht die Vergangenheit den Geistern der Gegenwart zu, dann wird aus Theorie wieder Praxis. Bach analysieren heißt: Man steigt nicht zweimal in denselben Bach.

Nun gut, bei einem Franchetti würde man wohl nicht lange verweilen. Doch wie positiv oder negativ das Lehrer-Schüler-Verhältnis sich auch gestaltet, mit jedem Schüler, so äußerte Karl Jaspers einmal, nährt man eine Schlange am Busen. Nähe und Distanz sind in den Seminarräumen der Kunst gleichsam waltend, und gerade hier ist höchste Sensibilität bei den Lehrenden gefragt, um mit der Generationenidiosynkrasie konstruktiv umzugehen.

Schönbergs Witwe gab einmal preis, sie habe Webern nie gemocht, weil, wie sie sagte, dieser auf „kleinliche Art“ versucht habe, Schönberg zu übertreffen. Kleinlich, kindisch, wie auch immer, nur eben nicht so, wie der Lehrer selber es getan hat. Dabei ist Übertreffen erst einmal ein guter Vorsatz, geschehen mag es oder nicht, entscheidender ist, dass etwas Neues kommt. Der sicherste Weg, kein Klassiker zu werden, ist, den Klassikern nachzueifern. Es hat wirklich wenig Sinn, einen fertigen Stil tradieren zu wollen. Der einzige Fortschritt in der Kunst ist der zu mehr Vielfalt und Differenzierung. Die Welt wird bereichert, wenn junge Komponierende originelle Köpfe sind, die Innovatives schaffen. Das gilt es unbedingt zu fördern.

Was ich in der Ausbildung, und zwar praktisch überall, an Hochschulen wie in Kursen und Privatstunden, vermisst habe, ist genau das: die Förderung von Kreativität. Form-Analyse, Instrumentation, Programmierkenntnisse, kritisches Feedback, alles gut und wichtig, aber der Beruf des Komponisten sieht auch so aus: Man bekommt eine Deadline, und bis dahin muss einem etwas Geistreiches eingefallen sein. Auch das kann man professionalisieren. Ideen fallen nicht einfach vom Himmel, man kann etwas dafür tun, dass sie einem kommen, sich darin entwickeln, dass man mit Willen zur Gestaltung durchs Leben geht, mit einem Sinn für Mögliches, fürs Noch-nicht-da-Seiende.

Schauen wir uns Mozart an: Die gängigen Chroniken sagen, er habe nie am Klavier komponiert, der Genius konnte sich alles im Kopf ausdenken und praktisch korrekturunbedürftig zu Papier bringen. Die erste Mozartbiografie von 1798 berichtet aber auch, dass er sehr wohl am Klavier kompositorisch tätig war, vor allem in den Nachtstunden – da sei er zwar tatsächlich nicht mit seinen Werken beschäftigt gewesen, habe dafür aber auf Vorrat gearbeitet, vor-experimentiert, Themengestalten, kadenzielle Stellungen, Melodiebausteine ins Repertoire gelegt. Einfach mal fließen lassen, ohne direkte Umsetzung und Ummünzung in ein Stück-Produkt.

Hier liegt meines Erachtens eine Grundlage des Kompositionsunterrichts: Material entwickeln und diskutieren. Die Sinne aktivieren, die Studierenden ermuntern zum Experimentieren, Kühnheit unterstützen, um zu dem zu kommen, was man eine ‚Idee‘ nennt. Später unterhalten wir uns über das, was ein ‚Werk‘ ausmachen mag.

Die Gegenwart studieren

Dann: Ästhetik der Gegenwart. Sich zusammensetzen und Gegenwartskunst studieren, nicht nur Neue Musik, auch Popmusik, auch Experimentalfilm, auch Fotografie, alle Erscheinungsformen des Künstlerischen. Ich erachte es nicht nur für lehrreich, sondern unausweichlich, dass manch wichtiges Video, eine bedeutende Installation oder ein Inszenierungsstil sowie philosophische Texte Gegenstand des Unterrichts werden, wenn es um Kunstverstand geht. Dann schauen wir uns aber auch das Design von Websiten, von Apps, von Geräten genauer an; lesen das Feuilleton wie auch den Wirtschaftsteil. In all dem spiegelt sich Bewusstsein der Gegenwart, gestalterisches Denken, Rhythmik, Rhetorik, unser Verhältnis zu den Dingen, ökonomisches Kalkül, es liegen darin Zugänge und Grenzziehungen, Symbolisches und tiefere Wahrheiten. Dass man die neue Gendersprechweise mit dem Sternchen als stimmlosen glottalen Plosiv diskutiert – immerhin eine Änderung in der Phonetik von großer Tragweite; dass man die Form der Twitter-Timeline – kurze Texte, aber ein langer Stream – in ihrer Auswirkung auf unsere Lesegewohnheiten, auf unser zeitliches Informationsempfinden reflektiert; dass man Facebook, dieses Untereinander von Nachrichten, Urlaubsbildern, Witzfilmen, Wortspielen, Werbung, YouTube-Links und schierer Like-Erbettelung als Gesamtfunktion der Filterblase studiert und davon auf das Wesen von algorithmischer Komposition schließt; dass man das Serienwesen untersucht (Werkreihe war gestern, heute plant man ‚Staffeln‘); dass man die Wirkung von Quoten für DAX-Vorstände und die für bestimmte Tonhöhenregister in Musikstücken vergleicht; dass man die Reden von Politikern in Sechzehnteltonleitern transkribiert – mal hören, was übrig bleibt. Und dass es nicht beim Analysieren bleibt: Wir sind Künstler, also wie können wir diese Dinge weitertreiben, darin eingreifen, sie umdefinieren, ja vorausdenken, Visionen entwickeln? Neue Musik ist auch Science Fiction, sie sollte es sein. Als Kompositionsklasse einen ästhetischen Think Tank bilden, wo man sich gegenseitig inspiriert, befruchtet, befeuert. Dass man die Welt mit schöpferischer Aufmerksamkeit hört, betrachtet, vollzieht.

Kritik der musikalischen Intelligenz

Das heißt auch, bei allem Individualismus, einen Sinn für die sozialen Beziehungen zu entwickeln, in denen Kunst überhaupt gedeiht. Die Akademie ist der Ort, an dem man sich trifft, diskutiert, lernt und kreativ ist. Den Ton denken, den Ton kreieren, den Ton hören, und dazu Kritik der musikalischen Intelligenz. Ausdruck kann es nur geben, wo vorher Eindrücke stattfanden, es gibt nicht nur Feedback, auch Feed-Forward. Und eigentlich ist es wichtiger, dass eine Idee in die Welt kommt, nicht, von wem sie in die Welt kommt.

Nun hängt natürlich doch viel Verantwortung am Einzelnen, wie auch die Notwendigkeit des Geldverdienens und der Stolz, ohne den eine so anspruchsvolle Arbeit wie Komponieren kaum zustande kommt. Die Kompositionsklasse ist der Ort, wo in einmalig-konzentrierter Form geschieht, was sich später zwischen Konzerten, öffentlichen Kritiken, Aufträgen und Netzwerken abspielt; sie ist aber auch der von Marktbedingungen noch möglichst abgeschirmte Raum, wo Individualismus und Gemeinschaftssinn in ein initiales, fruchtbares Verhältnis gelangen.

Ein Werk ist Netz-Werk, von der Inspiration bis zur Realisation mit Musikern, der Komponist ist Netz-Werker, Netz-Wirkender, Netz-Verwirklicher. An tage-, wochen-, monatelanger einsamer Klausur kommt er dennoch nicht vorbei. Auch schön.

Lehren heißt auch Leeren

Am Ende des Studiums soll der Schüler etwas zu sagen haben und es ausdrücken können. Expressive Kompetenz ist das eine, Ideen umsetzen können, eine umfangreiche Palette parat haben, Geschick ausweisen für knifflige formale Situationen und soziale Proben-Herausforderungen. Aber das Konzept muss stimmen. Denn das schlechte Stück ist nicht verbesserbar; zusätzliche Melodieverzierungen entschädigen nicht für ein verstimmtes Instrument. Hingegen ist es sogar ziemlich schwer, eine gute Idee zu verpfuschen. In jeder Beethovensymphonie gibt es noch Instrumentationsmängel, tatsächlich. Für so etwas hat man in der Literatur Lektoren (oder mittlerweile eine Software), aber es ist nicht die eigentliche Rolle des Kompositonslehrers, die Einhaltung technischer Standards zu überwachen; diese sind sowieso nicht ein für alle mal definiert und verhindern oft sogar Innovation. Bei manchen Studierenden fängt der Fehler bereits damit an, dass ein Notenblatt mit dem Violinschlüssel versehen wird. Wer für Violinschlüssel schreibt, schreibt ab! Was er-schließt der Schlüssel eigentlich? Was wäre, wenn der Lehrer die Notenschlüssel verbieten würde? Lehren heißt auch Leeren, Lernen heißt auch Verlernen, Eingübtes ist dafür da, aus-geübt zu werden, bis das Wesentliche übrig bleibt. Beim Komponieren komponiert man erst einmal das Komponieren überhaupt, mit Stiften ebenso wie mit dem Radiergummi. Man muss so etwas, wie Mozart es für sich entwickelt hat, herausfinden, dass es für einen besonders produktiv ist, zur Nachtzeit an seinem generellen Repertoire zu hantieren.

Ein professioneller Pianist kommt nicht umhin, jeden Tag – jeden Tag – fünf bis acht Stunden Klavier zu üben. Zwinge ich zwar keinen Studenten (nun ja, aber ab jetzt schreibe ich nicht nur Noten, sondern vergebe auch welche), erwarte ich doch: So viel Zeit, mindes­tens, sollte ein Komponist auch jeden Tag – jeden Tag! – fürs Komponieren aufwenden. Bach schrieb zeitweilig jede Woche eine Kantate; auch eine Schule. Heute heißt das nicht notwendig, acht Stunden am Tag Noten zu produzieren (so wie manche Studierende so viele Meisterkurse besuchen, dass sie am Ende nicht Komponisten, sondern Kursmeister sind), aber etwas fürs Komponieren tun; ausprobieren, wie ein Spektralakkord besser oder schlechter klingt, sich sensibilisieren für die Rhythmen, in denen die Menschen in der U-Bahn über ihre Handys wischen, eine Alltagshandlung als Klangfolge imaginieren, eine Klangfolge als Alltagshandlung imaginieren, et cetera – kadenzielle Stellungen, Melodiebausteine, Themengestalten, nur eben mit heutigen Medien.

Der Kompositionslehrer soll absolut freigiebig mit der Weitergabe seiner künstlerischen Erfahrung sein. Schönberg war sogar bereit, Cage ohne Bezahlung zu unterrichten, sofern dieser ihm das – eigentlich selbstverständliche – Versprechen gab, sein ganzes Leben der Kunst zu widmen. Manche widmen auch ihre ganze Leber der Kunst; die ‚Kunst und Leber‘-Witze sind berechtigt, zum Job des Kompositionsprofessors gehört mitunter auch, Tipps zu geben, wie man eine riesige Orches­terpartitur ohne Bandscheibenvorfall geschrieben kriegt (ich wusste es leider nicht).

Jedenfalls, wem nicht 95 Prozent seiner Zeit und Kraft der Kunst gelten, muss ein Genie sein oder wird kein Künstler werden. Der Anteil der Hochschullehre kann daran nur ein partieller sein. Wer Komponist geworden ist, dürfte sich in den Lebenslauf genau so gut schreiben: studierte bei Joseph Haydn und Pina Bausch. Denn er wird sie ebenfalls ‚konsultiert‘ haben. Jeder gute Künstler ist auch ein guter Autodidakt.

Unterricht der vielen Stimmen

Darum ist ein angemessener Kunstunterricht heute ein Unterricht der vielen Stimmen. Hochschullehre hat ihren Sinn gerade im Teamwork verschiedener Lehrender – als wenn jeder Professor eine eigene Fakultät in der Universität für Neue Musik verkörperte. Vorläufiges Basler Programm von meiner Seite: Schulung der Erfindungskraft. Blick auf alles Ästhetische der Gegenwart. Den Musikbegriff ständig erweitern, ihn gar auflösen. Musik als Medienkunst, Musik als gesellschaftliche, politische und historisch-kulturelle Angelegenheit und Dringlichkeit, also etwas auch Begriffliches und begrifflich stets neu Fassbares. Bildung in begrifflichem Hören – wir sind zu allererst eine „Musikhorchschule“, sind Hör-Arbeiter. Dazu technologische Avanciertheit, von der Sensorik bis Live-­Video. Die oberrheinische Tief­ebene als Silicon Valley der Musik; vielleicht die erste Garage davon.

Was ist eine Schule im besten Sinne? Eine Leistung von Lehrern und Schülern, die für etwas steht, wo Begriffe geprägt werden, wo überhaupt eine Kultur der Begriffsprägung waltet.

Programmatisch ist nun vor allem geboten, dass wir Künstler uns angesichts des Politischen behaupten: Kunstfreiheit, Internationalität und Globalbewusstsein, Geschichtsbewusstsein, Möglichkeitssinn und ästhetisch Herausforderndes wieder und wieder in die Gesellschaft einbringen. Grundlagen des musikalisch Möglichen erarbeiten, mit ihnen ins Ganze eingreifen, einen Beitrag dazu leisten, die Welt schöner zu machen. Noch die kleinste Arbeit zählt, so wie bei demokratischen Wahlen jede Stimme in die Waagschale fällt. Und eventuell macht etwas davon Schule.

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