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Multiinstrumentalist, Komponist und Dirigent: Tyshawn Sorey in Luzern. Foto: John Rogers
Multiinstrumentalist, Komponist und Dirigent: Tyshawn Sorey in Luzern. Foto: John Rogers
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„Wir wollen ein Festival für alle sein“

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Luzern-Intendant Michael Haefliger über Dekolonisierung und gerechtere Spielpläne
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Das Lucerne Festival macht seit Jahren mit kulturpolitischen Mottos aufmerksam. 2016 wurden unter dem Titel „PrimaDonna“ sämtliche vertretende Künstlerinnen zur „artiste étoile“ erklärt, 2017 folgte das Thema „Identität“. Dieses Jahr heißt das Schlagwort „Diversity“. Was das genau bedeutet und ob dieses Motto nicht allzu gewollt anmutet, fand Philipp Lojak für die neue musikzeitung im Gespräch mit dem Festivalintendanten Michael Haefliger heraus.

neue musikzeitung: Diversität hat viele Facetten: Diversität der Spielpläne, der Interpretinnen und Interpreten, aber natürlich auch des Publikums. Welche Bedeutung hat „Diversity“ für Sie?

Michael Haefliger: Streng genommen, und das ist auch unser Ansatz, umfasst „Diversity“ alle Fragen der Nachhaltigkeit, aber auch der Menschenrechte, vor allem Rassismus. In einem weiteren Sinne kann man das auch künstlerisch verstehen, wie etwa in Olivier Messiaens Turangalîla-Sinfonie, wo die Musik anderer Kulturen als fester Bestandteil integriert und Diversität zur Kompositionstechnik wird. Das findet sich bei vielen anderen Komponisten auch, so kann man in fast jedem Werk eine gewisse Diversität feststellen. Man denke an die Ländlermusiken, Straßenkapellen oder „Frère Jacques“-Kanons bei Gus-tav Mahler. Wir haben aber entschieden, dass wir unser Motto eingrenzen.

Zum einen wollen wir unsere Bemühungen für Dirigentinnen verstärkt fortführen: Wir haben neun Dirigentinnen auf dem Programm. Zum anderen sind dieses Jahr Komponistinnen in einer großen Vielfalt vertreten. Dann wäre da noch das Thema People of Color, das im Moment natürlich sehr stark drängt. Wenn Sie sich eine Lupe nehmen und recherchieren – das haben wir gemacht – sehen Sie, dass da Handlungsbedarf ist. Das machen wir nicht, weil da mal zwei oder drei schwarze Musiker sagen, sie wollten auch klassische Musik machen. Über Jahrhunderte wurden schwarze Musiker benachteiligt oder gar nicht berücksichtigt.

nmz: Sie sind bereits seit über zwanzig Jahren Leiter des Lucerne Festivals. Wann entstand die Idee, in diese politischen Bereiche vorzustoßen?

Haefliger: Wir setzen uns schon lange mit kulturpolitischen Themen auseinander. 2016 haben wir das Thema „PrimaDonna“ erstmalig lanciert. Ich glaube wir waren wirklich die Ersten, die an dieses Thema herangegangen sind. Wir haben im Jahr 2017 mit „Identität“ einen weiteren Schritt gemacht, wo wir uns auch an Flüchtlingsprojekten beteiligt haben und die Frage der Migration und Identität in der Kunst hinterfragt haben. Mit „Diversity“ gehen wir nochmal einen großen Schritt weiter und fokussieren uns erneut auf Dirigentinnen, Komponistinnen und People of Color.

nmz: Die neue Intendantin der Donaueschinger Musiktage für Neue Musik, Lydia Rilling, sagte neulich, man müsse sogenanntes „Labeling“ vermeiden. Es berge die Gefahr, Konzerten ein diverses Etikett anzukleben und dann doch im nächsten Jahr mit „business as usual“ weiterzumachen. Wie stellen Sie sicher, dass die von Ihnen angestoßenen Prozesse nachhaltige Entwicklungen sind?

Haefliger: Ich glaube wir haben eine gewisse Eisbrecher-Funktion. Wenn der Großteil des Eises gebrochen ist, kann das Schiff weiterfahren, der Prozess selbst ist aber sicherlich nicht abgeschlossen. Ein Festival hat da eine andere Verantwortung als zum Beispiel ein Ganzjahresveranstalter. Ich finde, jede Intendantin oder Intendant kann oder soll das anders sehen und angehen. Ich sage, man muss ganz bewusst ein Statement machen, man darf mutig sein. Um das Eis zu brechen, brauchen Sie ein schweres Schiff und viel Kraft. Wenn ein Festival wie Luzern ein Statement setzt, dann hat das eine Wirkung. Das haben wir ganz klar bei der „PrimaDonna“-Ausgabe gesehen und so haben wir da auch bereits eine gewisse Erfahrung. Ich bin überzeugt, dass wir auch dieses Jahr etwas bewirken werden. Wir werden die Probleme nicht lösen können, aber wir werden uns überlegen müssen, wie wir es in den nächsten Jahren angehen. Intern haben wir jetzt eine Expertin im Team, mit der wir uns regelmäßig austauschen. Wir eignen uns innerhalb der Organisation Wissen auf allen Mitarbeiterebenen an und diskutieren, was sinnvoll ist oder wie man etwas korrekt schreibt. Es findet eine hohe Sensibilisierung statt: zuerst in der eigenen Organisation, dann auch gegenüber dem Publikum. Die Reaktionen des Publikums sind unterschiedlich, es wird sicherlich auch diesmal Kritik geben. Aber wenn man sich mit so einem Thema auseinandersetzt, muss man auch davon ausgehen, dass es Diskussionen gibt.

nmz: Ist es nicht etwas platt, sein Anliegen derart vor sich her zu tragen?

Haefliger: Stellen Sie sich vor, Sie kommen das erste Mal nach Luzern. Dann ist das doch spannend! Das ist interessant, das ist vielseitig. Schauen Sie sich unser Logo an: Das ist nicht mit dem Hammer draufgehauen, nicht besonders emotional oder radikal, sondern spielerisch. Wenn Anne-Sophie Mutter das Violinkonzert von Joseph Bologne spielt, dann ist das schließlich kein radikales Statement. Mutter wird nicht schreien auf der Bühne, sondern uns faszinieren: „Schaut her!“ Da hat es zu der Zeit von Mozart einen schwarzen Komponisten gegeben, der wahnsinnig gut war. Wenn wir „Porgy and Bess“ hören, sagen wir auch nicht, das ist alles nur schlecht, sondern wir sagen, dass das ein führendes Werk in der Musikgeschichte ist, das etwas bewirkt hat. Wie George Gershwin mit seinem Librettisten, seinem Bruder, damals an dieses Thema herangetreten ist, ist bewundernswert. Wir machen keine radikale Demo und kreieren Vorwürfe, sondern wir sagen: Es sind Fehler passiert. Man hat vieles nicht beachtet. Man hat zum Beispiel tolle Werke wie die erste Sinfonie von Florence Price bis heute nicht wirklich gehört. Es sind immer wieder Versuche unternommen worden. Wir haben recherchiert, dass das Chicago Symphony Orchestra vor einhundert Jahren einen Zyklus gemacht hat, das war damals ganz besonders. Aber viele Komponisten sind nicht beachtet worden. Es ist zu wenig gemacht worden für People of Color und Musiker mit Migrationshintergrund. Dass sie Unterstützung brauchen, das zeigt unser Projekt „Chineke!“, ein ethnisch divers besetztes Jugendorchester. Das ist noch ein langer Weg. Es geht schlussendlich darum, dass alle Menschen einen Zugang zur wunderbaren klassischen Musik bekommen.

nmz: Diversität auf der Bühne als Mittel, um ein diverses Publikum zu erreichen?

Haefliger: Letztendlich ja, wir wollen ein Festival für alle sein.

nmz: Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Ihrem „Artiste Étoile“ Tyshawn Sorey, der ja hierzulande bislang noch nicht so bekannt ist?

Haefliger: Er war schon länger im Gespräch, jetzt war der richtige Zeitpunkt. Er ist auf der Schnittstelle zwischen zeitgenössischer E-Musik und  Contemporary Jazz, der Avantgarde Fusion, die sich ja sehr ähnlich sind.

nmz: Das setzt durchaus einen Kontrapunkt zu den großen „Helden“ der Neuen Musik, die auch bei Ihnen vertreten sind und in der Vergangenheit in Luzern eine große Rolle gespielt haben: Pierre Boulez oder Wolfgang Rihm. Ist das Engagement für den zeitgenössischen Jazz eine Entwicklung weg von der Neuen Musik?

Haefliger: Man kann das eine tun und muss das andere nicht lassen. Sie sehen, welche große Bedeutung Wolfgang Rihm bei uns innehat, vor allem als künstlerischer Leiter der Lucerne Festival Academy. Wir führen viele seiner Werke auf. Aber wir dürfen uns auch öffnen gegenüber anderen Bereichen. Für mich ist Tyshawn Sorey ein zeitgenössischer E-Musik-Komponist. Dass er vom Free Jazz kommt, macht es umso spannender. Er mag einen anderen kulturellen Hintergrund haben, aber musikalisch findet er sich in der zeitgenössischen Avantgarde wieder.

nmz: Komponiert ein schwarzer Komponist anders als ein weißer Europäer?

Haefliger: Das glaube ich nicht. Bei jedem Komponisten ist der Hintergrund ein anderer. Nehmen sie Thomas Adès aus England oder Oliver Knussen oder Benjamin Britten, die haben anders komponiert als ihre Kollegen aus Deutschland. Der kulturelle Hintergrund ist relevant, nicht die Hautfarbe. Die Frage ist eher, wie ein Komponist unterstützt wird. Wenn es zu rassistischer Ausgrenzung kommt, dauert es länger, bis diese Komponisten Erfahrungen sammeln können.

nmz: Freilich gehört zur Diversität nicht nur die Hautfarbe, sondern kulturelle Hintergründe, sexuelle Identitäten und vieles mehr. Nun kann man „Diversity“ immer kleinteiliger betreiben, bis schließlich der Spielplan vollkommen „gerecht“ ist. Wie weit kann und sollte man gehen, ohne dass ein gewisser „Markenkern“, das klassische Repertoire, verloren geht? 

Haefliger: Wir pflegen den „Markenkern“ sehr stark. Wir machen uns aber Gedanken, wie wir die klassische Musik mit Gesellschaftsschichten in Verbindung bringen, die bisher auch aufgrund einer gewissen Ausgrenzung zu wenig Zugang dazu hatten. Das finde ich nicht gut. Die klassische Musik ist nicht Kolonialmusik. Die klassische Musik ist ein Weltgut für alle, für alle Gesellschaften auf der Welt. Wir müssen davon weg, dass sie als ein Gut für eine bestimmte Gesellschaftsschicht gesehen wird. Da wurden in den letzten Jahrhunderten Fehler gemacht, aber man darf heute sagen: Wir wollen das morgen anders machen, wir wollen uns öffnen, ohne die Kraft und Großartigkeit der klassischen Musik in Zweifel zu ziehen. Es ist nicht die Musik das Problem, es sind die Menschen darum herum, die sie als ihr Eigentum betrachten. Das ist Kolonialisierung. Sie haben vorhin von der Dekolonialisierung gesprochen – genau das versuchen wir zu tun.

nmz: Sie haben an großen US-amerikanischen Universitäten studiert: an der Juilliard School of Music in New York, auch an der Harvard University, also an den Orten, wo die Identitätspolitik ihre geistige Heimat hatte, bevor sie nach Europa schwappte. Haben Sie deshalb dafür eine besondere Sensibilisierung, einen besonderen Riecher?

Haefliger: Die Amerikaner haben eine andere Art, mit diesen Problemen umzugehen. Sie gehen strukturiert und quantitativ orientiert vor, erheben sofort Zahlen. Anhand von Statistiken schauen sie, ob das Rassismus-Problem gelöst wurde. Aber man kann es quantitativ eben nicht beweisen! Es war schon zur Zeit von Martin Luther King der Fall, dass Gesetze erlassen wurden, die nicht zur strukturellen Lösung eines Problems beigetragen haben und noch heute ist Rassismus in der Gesellschaft ein massives Problem. Ich habe in den Siebziger Jahren in New York meine Grundausbildung gemacht und war dann an der High School und hatte dort Zugang zu sehr interessanten Lehrern der Columbia University, die sich sehr stark für Themen des Rassismus engagiert haben: Institutionalisierter Rassismus, Ausschluss von Menschen aus dem Bildungssystem. Damit konnte ich mich früh auseinandersetzen, was an einem Ort wie New York, wo das auf der Straße lebendig war, sehr eindrücklich war. Ich habe damals die Probleme tagtäglich gesehen und ich sehe sie noch heute. Ich war erst letzte Woche in New York und die Obdachlosen, die in Decken gehüllt auf der Straße liegen, sind wieder mehr geworden. Damit muss man sich auseinandersetzen, denn die Kunst kann in ihrer Art einen wichtigen Beitrag leisten und die Politik übertreffen.

nmz: Wie tut sie das?

Haefliger: Indem sie Emotionen weckt. Und indem sie Menschen zusammenbringt.

Interview: Philipp Lojak

 

 

 

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