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Zehnstündiger Strom der Musik

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Ein Rückblick auf das MGNM-Musikfest 2015
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Knapp achtzig MusikerInnen, PerformerInnen und KomponistInnen aus sechzehn Ländern treffen sich an einem Ort abseits der großen Konzertsäle und etablierten Kulturzentren. Was sie miteinander verbindet? Sie alle wirkten mit am diesjährigen Musikfest der Münchener Gesellschaft für Neue Musik im Schwere Reiter an der Dachauer Straße. Die Idee der MGNM, seit ihrem Gründungsjahr 1996 regelmäßig zu juryfreien Musikfesten einzuladen, entstand aus dem Wunsch, die damals in zahlreiche Einzelinitiativen zersplitterte Münchner Kunstmusikszene wenigstens einmal im Jahr zusammenzubringen, um damit die Vernetzung untereinander zu stärken. Auch sollte ein gemeinsames Signal in Richtung der Münchner Kulturpolitik ausgesandt werden, neben all den kulturellen Hochglanzereignissen der großen Institutionen auch die im Vergleich kreativere freie Szene nicht aus den Augen zu verlieren. Vor allem aber geht es bis heute darum, für ein neugieriges Publikum einmal im Jahr aktuelle Musik in ihrer ungefilterten Vielfalt hoch leben zu lassen.

Bisherige Stationen der Musikfeste waren das Aktionsforum Praterinsel, das Einstein Kulturzentrum, die Kirche St. Bonifaz, das I-Camp/Neues Theater, die Muffathalle, die Christuskirche, das Carl-Orff-Auditorium der Hochschule für Musik und Theater, das Deutsche Museum und 2014 im Rahmen von „Kunst im Karree“ Schwabinger Galerien, Ateliers, Plätze, Hinterhöfe und das Isabella-Kino. Diese stete Wanderschaft verdankt sich einerseits der erfreulichen Vielfalt möglicher Spielstätten mitsamt deren aufgeschlossenen Betreibern in München, ist andererseits aber auch den Schwierigkeiten geschuldet, in dieser Stadt dauerhaft Räume für ein kreatives Epizentrum der Musik zu erobern. Mit dem Schwere Reiter ist nicht nur für die MGNM, sondern wohl die gesamte innovative Musikszene Münchens die große (zum Teil fast schon verzweifelte) Hoffnung verbunden, einmal einen solch stabilen Standort zu finden, der sich dann auch im Herzen des Münchner Publikums als oft und gerne besuchte „Location“ nachhaltig etablieren kann. Um eine solche Lösung, die über die ursprünglich geplante, immer wieder verlängerte Zwischennutzung hinausgeht, wird – wie man hört – auch seitens der Stadt gerungen.

In den letzten Jahren hatte es einiger Anstrengung und langen Atems bedurft, das Publikum an diesen (letztlich nur gefühlt entlegenen, allerdings mit leicht morbidem Charme versehenen) Ort zwischen Hauptbahnhof und Olympiapark zu locken. Doch durch das konsequente Bespielen dieses akustisch vorzüglichen (wenn auch nicht ausreichend gegen Außenschall isolierten) Raums und die immer konsistentere Programmierung durch den Leiter Karl Wallowsky, hat sich hier bereits Vieles zum Besseren verändert. Wenn man auch sagen muss, dass die Musikfeste der MGNM schon bessere Zeiten gesehen haben, was die Begleitung durch die lokale Presse angeht (unter anderem in der Süddeutschen Zeitung fehlte noch der kleinste Hinweis auf die Veranstaltung), dann wiederum niemals so gute, was die Publikumsresonanz betrifft. Vor allem in den frühen Abendstunden war die Tribüne erfreulich dicht besetzt, und das in hohem Maße von zahlenden Gästen.

Fünf ausgedehnte Konzertblöcke von 14 Uhr bis tief in die Nacht hinein boten wie auch in den vergangenen Jahren ein stilistisch disparates, aber über weite Strecken interpretatorisch hochkarätig dargebotenes Panorama der Gegenwartsmusik vorwiegend Münchner Provenienz. Erstaunlich ist das insbesondere, wenn man bedenkt, dass das nicht einmal im fünfstelligen Bereich liegende Budget des Vereins eine Honorierung der Musiker unmöglich macht. Die Lust jenseits ökonomischen Zwangs zu musizieren und sich dabei teilweise sogar enorm herausfordernder Werke anzunehmen, ist offenkundig ungebrochen. Interessanterweise fielen gerade jene schlichten Beiträge (von Sebastian Ebnet und Johannes Daum), die stilistisch am ehesten eine kommerzielle Orientierung verrieten, durch die geringste Aufführungsqualität auf.

Trotz des weitgehend vom Zufall geprägten Programms ergaben sich immer wieder dramaturgische Zusammenhänge. So stachen trotz insgesamt großer instrumentaler Bandbreite mit dem Saxofon, der Gitarre, der Flöte, dem Klavier, den Streichern und der Stimme phasenweise einzelne „Leitklänge“ hervor, die einerseits durch die großen stilistischen Differenzen, andererseits durch ungewöhnliche Besetzungen und elektronische Klangerweiterungen jeglichen Eindruck von direktem Wettbewerb zwischen Musikern ausschlossen. So ging etwa das Saxofon Verbindungen mit dem zusätzlichen Spiel von Handflöten (Norbert R. Stammberger), dem Gesang einer Mezzosopranistin (Barbara Hesse-Bachmeier), elektronischen Zuspielungen oder einer achtsaitigen E-Gitarre ein. Die intensivsten Erkundungen seines Instruments lieferte dabei Stammberger, der gemeinsam mit dem Noise-Gitarristen Harald Rettich geradezu berserkerhaft den existentiellen Urschrei zelebrierte, und dabei vorführte, welche Differenziertheit im Lärm möglich ist, sobald sich das menschliche Ohr einmal auf die akustische Dauerattacke eingestellt hat. Dieses uraufgeführte „re-recording no. 19“ war das extremste (vielleicht auch ein heilsames) Gegenstück zu jenen überaus aufgeräumten Werken der Komponisten-Interpreten Christopher Barritt, Laura Konjetzky oder Graham Waterhouse, deren entschieden retrospektive Haltung besonders dann irritiert, wenn man weiß, dass ein Komponist wie Waterhouse als formidabler Cellist auch Werke von Salvatore Sciarrino oder James Clarke überzeugend aufzuführen versteht. Solche Musik erscheint – auch ohne ungebrochenem Fortschrittsglauben anzuhängen – seltsam aus der Welt gefallen, weiß aber mitunter durch die Verve des eigenen Vortrags für sich einzunehmen.

Zwischen Fragilität und Bruitismus, Intimität und Extroversion stellte sich der Gitarrenschwerpunkt dar: Neben dem bereits erwähnten Rettich steuerte Carsten Radtke eine mit E-Gitarre und Playback souverän gestaltete, Zen-buddhistisch inspirierte Improvisationcollage bei. Wo Gunnar Geisse an seiner Laptop-Gitarre das Vexierspiel zwischen Instrumentalaktionen und Samplerklängen vielleicht zu sehr ins Hypertrophe trieb, funktionierte dasselbe Konzept dann später im feinsinnigen Dialog mit dem improvisierenden Pianisten Hans Wolf am „Laptop-Piano“ sehr viel überzeugender. Die akustischen Gitarristen Thomas Etschmann (gemeinsam mit dem Flötisten Christian Mattick), Johannes Tonio Kreusch (gemeinsam mit der Geigerin Doris Orsan) und Stephan Stiens boten an diesem Abend die feineren Nuancen des Gitarrenspiels: im etwas buntscheckigen Stilmix von Michael Emanuel Bauers „shanzai“, den subtil-zarten „dialoghi d'amore VII“ von Nikolaus Brass und den äußerst facettenreichen und konzentrierten „zwischenstücken“ von Minas Borboudakis. Im starken Auftritt des zwölfköpfigen Münchner Flötenensembles mit stilistisch sehr verschiedenen Werken von Roland Leistner-Mayer, Johannes X. Schachtner und Gloria Coates kulminierte ein weiterer Leitklang des Musikfests. Nachdrücklich etabliert wurde dieser zunächst durch Stefanie Pritzlaff mit einem mittelalterlich inspirierten Werk für Traversflöte von Dorothea Hofmann.

Einige Musikfest-Höhepunkte waren den PianistInnen zu verdanken. Marie-Thérèse Zahnlecker und Antoniya Yordanova wären dabei mit ihren großen Fähigkeiten vielleicht etwas gewichtigere Werke zu wünschen gewesen als die romantisch schwelgenden Piècen von Henrik Ajax und das sich auf halbem Wege im Ungefähr verlierende „Poiesis“ von Hans-Henning Ginzel. Ein überraschender Auftritt gelang der seit Jahrzehnten unermüdlichen Limpe Fuchs mit ihrer Performance „das gute Tier“ am sonst von ihr eher gemiedenen bürgerlichen „Musikmöbel“, das sie allerdings um einige schöne Pointen anreicherte. Masako Ohta vermochte in einer Ausarbeitung von Borboudakis' „Sketch Book I – modular loops“ mit feinem dramaturgischen Gespür und hoher Klangkultur zu bezaubern und sorgte darüber hinaus für die vielleicht spannendste Entdeckung des Abends: Das Werk „...es una cosa muy rara...“ des seit kurzem in Regensburg lebenden spanischen Komponisten Joan Riera Robusté (*1968) entwickelte aus einfachsten Gesten heraus mannigfaltige Klangwirkungen und großen inneren Beziehungsreichtum. Zu Recht umjubelt war der Auftritt von Andreas Skouras mit einer neuen charaktervollen Miniatur von Tom Sora und den passend zum 90. Geburtstag von Pierre Boulez fulminant dargebotenen „Douze Notations“. Gemeinsam mit der Bratscherin Julia Rebekka Adler interpretierte er dann auch noch die Uraufführung eines überbordenden, spieltechnisch äußerst fordernden Werkes des Argentiniers Favio Ariel Daiban – angesiedelt irgendwo zwischen Tango Nuevo und New Complexity... 

Ein weiterer philharmonischer Bratscher und leidenschaftlicher Solo-Performer, Gunter Pretzel, bereicherte das Musikfest gemeinsam mit Kollegen um die Königsgattung des Streichquartetts. Die aus Moldawien stammende zweite Geigerin des Pelaar Quartetts Luciana Beleaeva hatte das in polystilistischer Tradition stehende 2. Streichquartetts ihres Vaters Vladimir Beleaev mitgebracht, eine angesichts von Revolution und Bürgerkrieg von existentieller Betroffenheit geprägte Musik. Die weiteste Reise zum Musikfest nahm der Kölner Cellist Friedrich Gauwerky auf sich – und das für die beiden kürzesten Kompositionen des Tages, beide aus der Feder von Klaus K. Hübler, der im kommenden Jahr seinen 60. Geburtstag begehen wird. In die Zeit zwischen „opus breve“ (1987) und „Daphne“ (2011) fiel für Hübler eine lebensbedrohliche gesundheitliche Krise, die auch tief greifende Konsequenzen für seine künstlerische Arbeit hatte. Umso spannender fiel die Gegenüberstellung beider Cello-Miniaturen aus. „opus breve“ gilt mit seiner konsequent unabhängigen Behandlung von Griff- und Bogenhand, die in der überaus komplexen Partitur angemessen nur als Aktionen, nicht als Resultate notiert werden können, als Meilenstein der jüngeren Musikgeschichte. „Daphne“ bezieht sich in radikaler Reduktion antithetisch auf diese Errungenschaften und schafft „eine Art verklärter Reflexion“ (Gauwerky) seiner früheren Arbeit.

Neben dem lyrisch verrätselten Melodram „Dusk's Dome“ für Frauenstimme und (sprechenden) Pianisten nach eigenen Texten von Alexander Pope, das als Bezugsgrößen Schönberg, Ives und Joyce vermuten ließ, hatte die menschliche Stimme als ursprünglichstes Instrument ihren faszinierendsten Auftritt  in Verbindung mit elektronischen Mitteln. Der in München lebende Australier Samuel Penderbayne nutzte für „Alles Kaoss“ seine Baritonstimme in Verbindung mit dem Kaosspad, einem flexibel einsetzbaren Effektgerät, das die rasche und präzise Weiterverarbeitung von live aufgenommenen Stimmsamples zu labyrinthischer Vielstimmigkeit ermöglicht. Elektronik in Verbindung mit Instrumentalensembles nutzten Giovanni Fabiani und Dieter Trüstedt, wobei der 1989 in Arezzo geborene Fabiani dem Quartett aus Pianisten und Schlagwerkern radiophone Klänge von einer alten Bandmaschine zuspielen ließ („Broadcast-on-Canada“), während Trüstedt in der Programmiersprache Pure Data live Computerklänge generierte, die er für „Leonhard Euler klatscht in die Hände“ in den musikalischen Diskurs seines fünfköpfigen Autoren-Ensembles einspeiste. Wie der Computer vermittels Live-Coding und Formelimprovisation auf faszinierende Weise mit der Anmutung eines vielstimmigen virtuellen Orchesters ausgestattet werden kann, zeigte Karl F. Gerber in „Passionatepolka“, benannt nach einem Computer-Programm, mit der Geheimdienste über das Internet fremde Netzwerkkarten „schrotten“.

Künstlerisch vermittelte Bezüge zur Lebenswirklichkeit erschienen in dieser Deutlichkeit nur noch in einem der stärksten Beiträge zum diesjährigen Musikfest: „48nord sucht die Grenze, spürt dem Gegenwärtigen nach, setzt sich Wirklichkeiten aus, schöpft aus deren Widersprüchlichkeit, konterkariert Purismus“, so steht es im Selbstportrait des Musikertrios 48nord. Wie sehr diese Selbstauskunft zutrifft, konnte man auch daran ermessen, wie das Ensemble – so schickte es Ulrich Müller der Aufführung voraus – während der Arbeit an „G-LOC #1. Gravity Induced Loss of Consciousness“ auf grausame Weise von der Realität eingeholt worden sei. Das Werk für E-Gitarre, E- und Kontrabass, Schlagzeug, Live-Elektronik und Stimmen befasst sich mit Gravitations-bedingten Ausfallerscheinungen bei Jet-Piloten, die mit Nahtoderfahrungen einhergehen können. Die Umstände des Flugzeugabsturzes vom 24. März veranlasste die Musiker spontan dazu, die klangliche Gestalt des Werks in mildere Sphären zu überführen und ihm dadurch requiemhafte Züge zu verleihen. Was dabei im vielschichtigen Ineinander digitaler und analoger Klangerzeugung entstand, war in seiner unfassbar feinsinnigen, auf leise Intensitäten abzielenden Musizierhaltung schlichtweg ergreifend. Den poetischen, dabei instrumental sehr anspruchsvollen Schlusspunkt unter ein inspirierendes MGNM-Musikfest 2015 setzte der Akkordeonist Kai Wangler mit „Antiodromea“ des schwedischen Wahlmünchners Henrik Ajax. Und so mündete ein fast zehnstündiger Strom der Musik mit den auratischen Klängen des Akkordeons in die Stille der Nacht. 

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