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Zielgruppe Schüler wird zur Zielgruppe Mensch

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„Response“ – ein tragfähiges Konzept zur Vermittlung Neuer Musik in Schule und Konzert?
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Unter dem Stichwort „Response“ finden hierzulande vielerorts Workshops und Sonderprojekte zur Auseinandersetzung mit Neuer Musik statt, deren Gelingen oftmals von der Kooperationsfähigkeit von Orchestermusikern, Komponisten und Musikpädagoginnen abhängt. Seinen Ursprung fand „Response“ während der 70er-Jahre in England. Im Rahmen ihrer Staatsexamensarbeit hat die Autorin des folgenden Artikels den Stellenwert deutscher und englischer „Response-Arbeit“ vergleichend untersucht.

Seit Mitte der 90er-Jahre finden in Deutschland musikpädagogische Projekte statt, die in vielen Fällen unter der Bezeichnung „Response“ zusammengefasst werden. Den medialen Höhepunkt einer solchen Workshoparbeit bildete – wenn auch nicht unter der Bezeichnung – der 2004 erschienene Erfolgsfilm „Rhythm is it“, der ein gemeinsames Tanzprojekt mit Berliner Jugendlichen, den Berliner Philharmonikern unter Leitung von Sir Simon Rattle und dem Tanzpädagogen Royston Maldoon dokumentiert. Der Ursprung dieser Art von Kooperation zwischen professionellen Musikern/Künstlern, Kulturinstitutionen und Schulen befindet sich in England. Dort begann bereits in den 70er-Jahren die Öffnung des Musikunterrichts für außerschulische Zusammenarbeit.

Warum konnte sich diese Zusammenarbeit in England so viel früher als in Deutschland etablieren, und woher stammt das frühe Interesse zu offe-nen Unterrichtsformen? Welche gesellschaftlichen Bedingungen haben diese Entwicklung unterstützt oder sogar notwendig gemacht? In welcher Weise fanden die Ergebnisse aus den Erfahrungen Eingang in Curricula, und welche Resonanz zeigte die musikpädagogische Debatte des Landes?

Den Ausgangspunkt der englischen Musikpädagogik im 20. Jahrhundert bildeten zwei Ansätze: Einerseits gab es den idealistisch geprägten Ansatz von Elisabeth Mills und Thomas Henry Yorke Trotter, in dem die universalen Lernziele durch eine musikalische Bildung im Vordergrund standen. Nicht der Erwerb musikalischer Fähigkeiten, sondern die charakterbildende Wirkung der Musik(-erziehung) war hier wesentlich. Andererseits gab es eine praktisch orientierte Strömung, wie sie auch in Deutschland ähnlich zu beobachten war. Hier stand das schulische Singen im Zentrum des Musikunterrichts – nicht zuletzt resultierend aus einem Mangel an ausgebildeten Musiklehrern. Unterrichtsgegenstand sollte die Vermittlung von musikalischem Wissen durch Hören und Singen von „klassischen“ Werken der europäischen Kunstmusik sein.

Das kreative Kind im Blick

Doch während sich die deutsche Musikpädagogik nach dem Zweiten Weltkrieg mit den kritischen Fragen Adornos auseinander setzen musste und das Schulfach Musik daraufhin „verwissenschaftlicht“ wurde, blieb die Entwicklung in England von starken Brüchen verschont. In anderen Schulfächern wie Englisch und Kunst wurden in diesen Jahren bahnbrechende Veränderungen vorgenommen. Im Mittelpunkt des Unterrichts sollte nunmehr das sich selbst ausdrückende und kreative Kind stehen. Diese Überlegungen erreichten die musikpädagogische Debatte und den Musikunterricht selbst in der Breite zwar erst 20 Jahre später, sie waren jedoch ein wesentlicher Auslöser für die gedankliche Auseinandersetzung mit dem Akt des Komponierens als einem wichtigen Bestandteil umfassenden Musikunterrichts. Nachdem einige Komponisten wie etwa Peter Maxwell Davies in den 70er-Jahren als „composer-teachers“ innovative Anstöße für den Musikunterricht geben konnten, wurde die methodische und didaktische Diskussion dieses Verfahrens durch Paynter und Aston in dem Buch „Sound and Silence: Classroom Projects in Creative Music“ auch auf theoretischer Ebene geleistet. So kam es, dass bei der endgültigen Fassung des Curriculums für das Fach Musik im Jahr 1994 insgesamt vier Lernziele aufgenommen wurden. 50% des Unterrichts sollen dem Hören und Verstehen gelten, die anderen 50% dem eigenen musikalischen Handeln und – man höre und staune – dem Komponieren.

Für die weitere Entwicklung und den großen Erfolg der Projekt- und Workshoparbeit in England spielt des Weiteren die Art der Kulturfinanzierung eine entscheidende Rolle. Schon in den 80er-Jahren wurde eine Zusammenarbeit mit Sponsoren aus der Wirtschaft gefördert, zum Beispiel im sogenannten „Pairing Scheme“, in dem für jedes privat investierte Pfund der Staat ein weiteres hinzugab. Im Jahr 1993/94 kamen 48 Prozent der Einnahmen englischer Kulturinstitutionen aus der öffentlichen Hand. Im gleichen Zeitraum waren es in Deutschland 87 Prozent. Dagegen stehen im selben Jahr die Zahlen der eigenen Einnahmen in England bei 42 und in Deutschland bei nur 12 Prozent. Aus diesen Zahlen resultiert eine wesentlich größere Notwendigkeit für englische Künstler, Orchester und Institutionen, auch gewinn- und zielorientiert zu arbeiten. Unterstützt wird dieses wirtschaftliche Selbstverständnis durch eine völlig andere Vertragspolitik sogar großer Orchester: Es gibt kaum feste Verträge, sondern die Musiker werden von Woche zu Woche gebucht. Damit wird aber gleichzeitig eine relative Gleichwertigkeit pädagogischer Projekte im Verständnis der Musiker erreicht – wer zuerst bucht, bekommt die Leistung, egal ob Proms-Konzert oder Schulprojekt.

Vorreiter London Sinfonietta

Vielleicht das wichtigste Ensemble für die Entwicklung der Workshop-Projekte seit ihrem Beginn ist das Neue-Musik-Ensemble „London Sinfonietta“. Angewiesen auf das Verständnis und Interesse eines verwöhnten Londoner Publikums für Neue und unerhörte Musik, gehen von dem Ensemble immer wieder innovative Impulse für die Zusammenarbeit mit verschiedenen Bevölkerungsgruppen aus. Auch wenn die einzelnen Projekte sich mitunter stark voneinander unterscheiden, so werden doch einige Grundsätze im Aufbau der Workshops deutlich. Zunächst wird vom Workshopleiter und dem Ensemble ein bestimmtes Werk, ein Komponist oder ein Thema festgelegt, zu dem Informationsmaterialien für alle Beteiligten bereitgestellt werden. Meist wird eine einzelne Komposition herausgegriffen und ihre typischen Kompositionsparameter werden isoliert. Anhand dieser Parameter werden praktische Übungen sowie Kompositionsübungen vorbereitet, die in vier- oder fünfmal wöchentlich stattfindenden Workshops mit der Gruppe erarbeitet werden. Zum Schluss wird die gemeinsame Komposition bei einem Konzert oder einer Veranstaltung präsentiert. Genauso wichtig allerdings, wie die eigene praktische Auseinandersetzung, ist die Begegnung mit der Musik des ausgewählten Komponisten, die im Anschluss an den Workshop in einem Konzert der London Sinfonietta erlebt werden sollte. Die Krönung bildet bei manchem Konzert gar eine Begegnung mit dem Komponisten selbst! Zwei Grundsätze stehen für das Ensemble fest: Erstens die Qualität der Musik, Musiker und der Komponisten sowie deren Ernsthaftigkeit im Umgang mit den Workshopteilnehmern. Zweitens die Integrität im Umgang mit der zeitgenössischen Musik. Das musikalische Material soll nicht aufgeweicht oder vereinfacht werden, um es den Laien näher zu bringen, denn das Ensemble glaubt fest an die Kraft der ursprünglichen musikalischen Sprache lebender Komponisten für alle Menschen.

Es liegt im Interesse der London Sinfonietta, die Ergebnisse ihrer Arbeit möglichst transparent zu machen oder sogar zum Nachunterrichten aufzubereiten. Daher stellen sie einige Projekte, inklusive Musikbeispielen, auf ihrer Homepage vor.

Response im Vergleich

Worin genau liegt der Unterschied der Projekte der London Sinfonietta zu deutschen Response-Projekten – oder gibt es vielleicht gar keinen?
Zunächst einmal fallen inhaltliche Unterschiede auf: Während für das Konzept der London Sinfonietta eine thematische Anbindung an ein konkretes Werk oder einen konkreten Zusammenhang essentiell ist, geht dieser Aspekt in deutschen Projekten zuweilen verloren. Es ist wichtig, dass musikalische Erfahrungen nicht Beliebigkeit erwecken, sondern ein Bezug zur musikalischen Lebenswelt hergestellt wird. Dies wird bei der London Sinfonietta durch den anschließenden Konzertbesuch gewährleistet, in dem die Teilnehmer die professionelle Arbeit eines „richtigen“ Komponisten erfahren und kennen lernen können. Auch hier mag es in Deutschland zuweilen noch an Konsequenz mangeln. Es gibt auch organisatorische Unterschiede: Während die London Sinfonietta ihre erfahrensten Musiker und ausgebildete Workshopleiter für die Projekte zur Verfügung stellt, werden diese Aufgaben in Deutschland – mit einigen finanzstarken Ausnahmen – inzwischen eher von kleinen, regionalen Ensembles und Privatpersonen durchgeführt. Sicher kann deren Arbeit auf höchstem Niveau stattfinden, aber es fehlt anscheinend immer noch die Einsicht großer Ensembles und Orchester in die Relevanz dieser pädagogischen Arbeit. Zudem wird auf diese Weise eine Überprüfung und Verbesserung der pädagogischen Fähigkeiten der Beteiligten erschwert, was zu Projekten von recht unterschiedlicher Güte führt. Auch in der Dokumentation und Pressearbeit müssen vielerorts aus finanziellen Gründen noch Wünsche offen bleiben.

Transfer nach Deutschland

Welchen Stellenwert kann Response im Musikunterricht und in der deutschen Kulturlandschaft weiterführend einnehmen?

Eine Workshoparbeit nach dem englischen Prinzip kann vielen Anforderungen an einen guten Musikunterricht gerecht werden. Die systematische Beschäftigung mit musikalischen Parametern, die kontinuierliche Arbeit an einer gemeinsamen Komposition und der Schwerpunkt auf selbst handelndes Erschaffen von Musik lassen Response vielleicht sogar als Musterbeispiel für gelungenen Unterricht erscheinen.

Gerade für die Bildung musikalischer Grundkompetenzen erscheint die Workshoparbeit ideal, sie kann jedoch keinesfalls einen jahrelangen Musikunterricht ersetzen. Durch die Projekte können sich Workshopteilnehmer allerdings ein Stück zeitgenössischer Kultur zu Eigen machen und einschätzen lernen. Selbstverständlich kann auch ein Response-Projekt scheitern, wenn die pädagogischen Fähigkeiten oder das Interesse der Verantwortlichen zu wünschen übrig lassen, das Konzept nicht ausgereift ist, es an einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit Lehrern und Musikern mangelt oder eine Unterstützung durch die Schulleitung fehlt.

Doch könnte es ein erstrebenswertes, wenn auch idealistisches Ziel sein, jedem Schüler im Rahmen seiner Schullaufbahn die Teilnahme an mindestens einem solchen musikalischen Projekt zu ermöglichen. In den ganzheitlichen Vorstellungen der englischen Musikpädagogik steht die kreative Entwicklung des Kindes als ein wichtiger und unverzichtbarer Bestandteil seiner Persönlichkeit gleichwertig neben einer Ausbildung musikrezeptiver und -analytischer Fähigkeiten.

Es wäre wünschenswert, wenn auch die deutsche Musikpädagogik diesen Schritt konsequent vollziehen könnte. Anstatt sich zu bemühen, das Fach Musik im Fächerkanon überwiegend durch seine theoretischen Bestandteile zu legitimieren, sollte eine Würdigung der genuinen Möglichkeiten des Musikunterrichts geschehen.

Für die Zukunft bleibt zu wünschen, dass sich neben Orchestern und Sponsoren auch die Musikhochschulen selbst verstärkt für eine Integration von Workshoparbeit in die didaktische und methodische Lehrer-, Komponisten- und Orchestermusikerausbildung einsetzen. Eine qualitative Absicherung von Response-Workshops mit Mindeststandards und eine Öffnung der Zielgruppe „Schüler“ hin zur Zielgruppe „Mensch“ sollten möglichst bald geschehen.

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