Der Dirigent Tristan Meister hat auf der diesjährigen chor.com mehrere Workshops moderiert. Im Interview mit der neuen musikzeitung gibt er Einblicke.
„Die chor.com hat sich nach Corona wieder etabliert“
neue musikzeitung: Herr Meister, Sie sind regelmäßiger Gast und Moderator der chor.com. Wie war der „Jahrgang 2024“ Ihrer Meinung nach?
Tristan Meister: Aus meiner Sicht sehr positiv. Die letzte chor.com war 2021. Da war ja alles noch sehr eingeschränkt wegen Corona – und es gab noch ganz andere Probleme. Nach meiner Ansicht war dieses Jahr deutlich mehr los als beim letzten Mal und es war wieder viel unbeschwerter, so wie es bereits vor Corona gewesen ist. Mit dieser Veranstaltung hat sich die chor.com Gott sei Dank wieder ein Stück weit etabliert.
nmz: Auf welche Zielgruppe ist die chor.com ausgerichtet?
Meister: Es sind natürlich viele interessierte Sängerinnen und Sänger da sowie Leute aus dem Chorverband und Vorstände. Aber wenn es um die Vorstellung spezifischer Literatur oder um bestimmte Probetechniken geht, merkt man, dass das Programm schon ein bisschen auf Chorleiterinnen und Chorleiter zugeschnitten ist. Trotzdem ist es für alle Interessierten ein inspirierender Anlaufpunkt und vor allem sind die Konzerte dort auf sehr hohem Niveau. In der Regel bleibt man ja dann doch auch ein paar Tage lang da, macht Workshops, geht in die Konzerte und hat viele Gelegenheiten zum Networking.
nmz: Was ist das Konzept der chor.com und was waren für Sie die diesjährigen Leuchttürme?
Meister: Das Konzept beruht schon darauf, dass die Veranstalter versuchen, bei jeder chor.com ein paar internationale Player hereinzuholen, um neue Besucher anzuziehen und den Kreis zu erweitern. Das ganze Line-Up ist für mich deshalb wirklich gelungen, und solche Chöre wie etwa Voces8 ziehen dann natürlich noch zusätzlich Publikum an. Ich selbst war beim Konzert des Bundesjugendchors, was wahnsinnig gut war und ein richtig tolles Programm hatte.
nmz: Die chor.com bildet ja längst nicht mehr nur die klassische Chormusik ab…
Meister: Man hat sich in den letzten Jahren bemüht, alle Stile ein bisschen zu bedienen. Da waren neben dem Windsbacher Knabenchor etwa auch die Vivid Voices – das ist der Jazzchor der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover – und das schwedische Vokalensemble VoNo, das sich auf durchchoreographierte Konzerte mit Live-Performances und Improvisationen spezialisiert. VoNo reagiert bei seinen Auftritten darauf, was sich im Publikum ereignet, interagiert also mit seinen Zuhörern, was ich sehr spannend finde.
nmz: Auf der diesjährigen chor.com wurden mehr als 150 Workshops angeboten. Selbst die motiviertesten Besucher sind damit doch hoffnungslos überfordert, oder?
Meister: Das stimmt tatsächlich und darum muss man sich vorher gut damit befassen und einen Plan machen. Denn pausenlos Workshops zu besuchen, schafft niemand. Man möchte auch durch die Ausstellung gehen, wo etwa Noten vorgestellt werden. Und abends sind noch zwei Konzerte: eines um 19.30 und eines um 22 Uhr. Das ist nicht alles gleichzeitig machbar, denn es ist auch nicht sinnvoll, am Ende des Tages völlig „overloaded“ zu sein.
Reading Sessions
nmz: Lassen Sie uns jetzt über die fünf Workshops sprechen, die Sie selbst moderiert haben. Was waren die Inhalte?
Meister: Ich bin hauptsächlich für Reading-Sessions angefragt worden, weil das eine Sache ist, die mir selbst am meisten Spaß macht. Da geht man mit den Teilnehmer*innen einen Stapel an Chormusikstücken durch. Bei mir läuft das dann so ab, dass die Verlage mich dafür einladen. Ich habe zum Beispiel einen Workshop für Boosey & Hawkes gemacht. Die hatten mir einen großen Stapel Noten geschickt und ich konnte mir davon zehn oder 15 Stück aussuchen, um sie den Leuten vorzustellen. Da ich dadurch selbst neue Werke kennenlerne, finde ich das natürlich doppelt spannend, zumal ich mir mittlerweile einen guten Blick dafür erarbeitet habe, was auch dem Publikum gefallen könnte.
nmz: Wie präsentieren Sie den Teilnehmenden dieses neue Repertoire?
Meister: Um dieses Notenmaterial vorzustellen, richte ich mich dann auch danach, wie die Workshop-Teilnehmer an dem jeweiligen Tag gestimmt sind. Bei der ersten Vorstellung von Boosey & Hawkes war der Workshop voll und ich hatte einen wahnsinnig guten Chor. 30 Leute waren anwesend, was in den kleinen Seminarräumen das Maximum ist. Und die waren stimmlich so gut balanciert, dass ich alles ansingen konnte. Und solche Workshops habe ich für verschiedene Verlage gemacht, auch für die Edition Peters.
nmz: Was war der Fokus Ihres Edition-Peters-Workshops?
Meister: Hier konnte ich das spannende Thema „Wie Avantgarde darf Neue Chormusik sein?“ präsentieren. Dazu passend, habe ich Werke vorgestellt und gezeigt, was man alles mit einem John-Cage-Stück machen kann. Von ihm gibt es ein paar sehr schöne Chorwerke, die viel zu selten aufgeführt werden. Ich habe auch ein paar Komponistinnen mit dabei gehabt, wie etwa Roxanna Panufnik, deren Musik ich sehr schätze. Bei diesem Workshop waren nur etwa 15 Leute, aber die waren dafür überaus motiviert und interessiert.
Neue Chormusik
nmz: Sie haben viel Notenmaterial gesichtet. Was sind Ihre persönlichen Empfehlungen und Favoriten im Bereich neuer Chormusik?
Meister: Bei Boosey & Hawkes gibt es viel sehr gut singbare neue Musik. Gerade die englischen Komponisten sind aufgrund ihrer Chortradition oftmals etwas pragmatischer und schreiben Stücke, die man in ein, zwei Proben auch gut hinbekommen kann. Und hierbei finden sich einige wirklich spannende Stücke, zum Beispiel von dem hierzulande noch weitgehend unbekannten britischen Komponisten Ben Ponniah. Seine Chorwerke sind manchmal ein bisschen jazzig, aber immer so, dass man sie gut singen kann. Aus dem Workshop von Edition Peters würde ich dann gerne „Shared Ground“ von Alec Roth hervorheben. Roth ist in Deutschland besser bekannt, zumal er derzeit Composer-in-Residence beim RIAS-Kammerchor ist.
nmz: Für den Carus-Verlag haben Sie ja auch einen Workshop gemacht…
Meister: Stimmt. Die Zusammenarbeit basierte auf einem Wettbewerb, der „females featured“ hieß und zeitgenössische Musik von Komponistinnen umfasste. Davon haben wir die Preisträgerstücke vorgestellt. Den ersten Preis in der Kategorie Kammerchor gewann Lucia Birzer mit „Afterwards“ auf einen Text der US-amerikanischen Lyrikerin Sara Teasdale. Ich kann dieses auch für Laienchöre realisierbare Werk absolut empfehlen.
nmz: Ein anderer Ihrer Workshops hieß „Found in Translation!“. Worum ging es da?
Meister: Unter diesem Titel habe ich für die Oxford University Press einen Workshop gemacht, der sich an Chorleiter und -leiterinnen richtete, die nicht unbedingt alles auf Englisch singen können oder wollen. Und da gibt es inzwischen von Oxford gute Übersetzungen von den bekannteren Stücken. Das ist natürlich ein Randthema, weil viele versuchen, das Material in Originalsprache zu singen. Trotzdem waren einige da, die sagten, mein Chor will nicht nur alles auf Englisch singen, aber diese Lieder doch mit ins Repertoire aufnehmen, weil sie so toll sind. Und dafür habe ich einige Beispiele angesungen und aufgezeigt, was bei Übersetzungen wichtig ist, wenn man vielleicht auch selbst welche machen möchte, und worauf man dabei achten muss.
nmz: Und dann haben Sie auch noch „Let’s talk about Chorleitungshonorare“ moderiert…
Meister: Das war nun ein Workshop, den ich im Rahmen meiner Funktion als Vorstandsmitglied der CED, Chor- und Ensembleleitung Deutschland, gemacht habe. Diesem Workshop lag eine Honorar-Umfrage zugrunde, die die Durchschnittshonorare unserer Chorleitenden in Deutschland erhoben hat. Dabei haben wir uns dann mit dem Thema beschäftigt, wieviel überhaupt ein Chorleiter verdienen sollte. Das war natürlich ein heiß diskutierter Workshop (lacht). Das ganz Wichtige daran war, dass diese Umfrage vielen Leuten die Augen geöffnet hat, was alles hinter einer Chorleitung steckt und dass es eben längst nicht damit getan ist, dass man einmal pro Woche probt. Die Insights, die ich hier vermitteln konnte, stärken auf alle Fälle die Position der Chorleitenden in diesem Land.
- Das Interview führte Burkhard Schäfer
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