Der gemeinsame Gesang der gesamten Gemeinde gehört zum lutherischen Gottesdienst einfach dazu. Schon sehr bald nach der Reformation entstanden die ersten Liederbücher mit muttersprachlichen (also deutschen) Liedern. Viele stammten am Anfang von Martin Luther selbst. In diesem Jahr feiert das erste evangelische Gesangbuch seinen 500. Geburtstag.
„In Jesu Namen wir heben an“
Dieses Haus sei dazu bestimmt, dass darin „nichts anderes geschehe, als dass unser lieber Herr mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir wiederum mit ihm reden durch Gebet und Lobgesang“, predigte Martin Luther am 5. Oktober 1542 bei der Einweihung der Torgauer Schlosskirche. Um das Wort Gottes an die Gemeinde heranzubringen, hatte er die Bibel ins Deutsche übersetzt.
Gleichzeitig schuf Luther seine ersten Lieder, die die Gemeinde in ihrer eigenen Muttersprache singen konnte, um auf die Botschaft der Bibel aktiv zu antworten. Die allerersten neuen Lieder wurden zu Luthers Zeit je einzeln auf einzelne Blätter gedruckt – sogenannte Einblattdrucke. Um die Jahreswende 1523/1524 wurde das erste evangelische Gesangbuch mit acht Liedern in Nürnberg von Jobst Gutknecht gedruckt.
Diese kleine Liedsammlung ist kein „Buch“, eher ein Heftchen – aber sie markiert das diesjährige Jubiläum: „500 Jahre Evangelisches Gesangbuch“. Das sogenannte Achtliederbuch muss man sich als eine Zusammenstellung von Einblattdrucken vorstellen, die in erster Linie aus wirtschaftlich-buchhändlerischen Interessen herausgegeben wurde.
Ebenfalls 1524 erschienen das Erfurter Enchiridion (griechisch: „Handbüchlein“) in zwei fast identischen Ausgaben. Wahrscheinlich wegen der großen Nachfrage musste hier sehr schnell gedruckt werden und es machten sich zwei Erfurter Drucker – durchaus konkurrierend – ans Werk: Johannes Loersfeld (Färberfaß-Enchiridion) und Matthes Maler (Schwarze-Horn-Enchiridion). Die Fassung von Loersfeld enthält 25 Lieder, die von Maler eines weniger.
Auch bereits 1524 entstand das erste mehrstimmige Chorgesangbuch des Torgauer Kantors Johann Walter. Dieser war in seiner Studienzeit in Leipzig zum Anhänger Luthers geworden. Als er 1520 in die sächsische Hofkapelle eintrat, kam er bald mit dem Reformator in Kontakt, der auch das Vorwort zum Chorgesangbuch verfasste.
In dem „Geistlichen gesanck Buchlyn“, das nur in Einzelstimmheften herausgegeben wurde, sind 43 Lieder enthalten, davon 24 von Luther. Im Laufe der Jahre wurde das Chorgesangbuch mannigfaltig bearbeitet und beträchtlich erweitert. 1525 widmeten sich Luther und Walter in der Deutschen Messe auch den einstimmigen liturgischen Gesangsformen in deutscher Sprache.
Durch die Vielstaaterei und die Verbindungen zwischen Kirche und Staat auf deutschem Boden erschien in der Folge eine nahezu unübersehbare Anzahl an regionalen Gesangbüchern. Diese Tradition wird noch heute in den Regionalteilen der Gesangbuchausgaben sichtbar. Einzelne Gesangbücher standen für die Frömmigkeit ihrer Zeit: die „Praxis pietatis melica“ (1647) von Johann Crüger, die maßgeblich für die Verbreitung der Lieder Paul Gerhardts verantwortlich ist, oder das Gesangbuch von Johann Anastasius Freylinghausen (1704), das für den Hallischen Pietismus stand.
Der „Genfer Psalter“ (1539) wurde in den von Johann Calvins Reformbewegungen geprägten Gebieten zum Handbuch des Gemeindegesangs. In ihm waren die Psalmen – und nur diese ließ Calvin als Gemeindegesang zu – in einer volkssprachlichen Fassung mit feststehenden Melodien enthalten.
Im anfangs erwähnten Achtliederbuch waren vier Lieder Luthers (Nun freut euch, lieben Christen g´mein; Ach Gott, vom Himmel sieh darein; Es spricht der Unweisen Mund wohl; Aus tiefer Not schrei ich zu dir), drei Lieder von Paul Speratus (Es ist das Heil uns kommen her; In Gott gelaub ich, das er hat; Hilf Gott, wie ist der Menschen Not) und ein Lied als zweistimmiger Satz eines anonymen Dichters (In Jesu Namen wir heben an) enthalten. Vier dieser Lieder sind auch im heutigen Evangelischen Gesangbuch noch aufgenommen worden, dazu die Melodie von „Es spricht der Unweisen Mund wohl“.
Die Zeitlosigkeit dieser „alten“ Lieder ist eines ihrer Überlebensmerkmale durch oft viele Jahrhunderte bis hinein in unsere Liedsammlungen. Die zentralen Begriffe, um die sich das Liedgut in den Gesangbüchern immer wieder dreht, sind ebenso zeitlos und geprägt von typisch christlichem Gedankengut, wie etwa Liebe, Güte, Gnade, Vergebung, Leben und Tod.
Was in den Gesangbüchern der Gegenwart fehlt, ist eine direkte Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftlichen wie theologischen Themen. Der Satz „Führ uns an atomarer Nacht vorüber, hilf der Hoffnung auf“ klingt inhaltlich zunächst nicht so, als sei er einem kirchlichen Gesangbuch entnommen. Tatsächlich kommt er in der 2. Strophe des Liedes „Gott, unser Ursprung, Herr des Raums“ (EG 431) vor und ist die einzige Liedzeile im gesamten EG, die sich konkret mit einem Gegenwartsthema auseinandersetzt.
Im deutschsprachigen Raum gab es um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert einige Ansätze für Gesangbücher. 1950 wurde dann das Evangelische Kirchengesangbuch (EKG) als Einheitsgesangbuch herausgegeben. In ihm wurden erste Impulse aus der Singbewegung der 1930er-Jahre sowie weiterer Liedsammlungen mit modernen geistlichen Liedern aufgenommen. Ab 1979 wurde an dem heutigen EG gearbeitet, das dann – je nach Landeskirche – zwischen 1993 und 1996 eingeführt wurde.
Der Stammteil des EG ist um 173 Gesänge gegenüber dem EKG erweitert worden. Der Bereich neuer Lieder und liturgischer Gesänge (z. B. aus der Gemeinschaft von Taizé) wurde erheblich erweitert. Viele ökumenisch gebräuchliche Lieder finden Eingang, ebenso mehrstimmige Sätze, Singsprüche und Kanons. Ausdrücklich ist das Gesangbuch keine reine gottesdienstliche Liedsammlung mehr. In den Vorbemerkungen „Zum Gebrauch des Buches“ heißt es: „Das Gesangbuch will auch Aufgaben eines christlichen Haus- und Gemeindebuches wahrnehmen“.
Das nächste evangelische Gesangbuch soll wahrscheinlich 2028 erscheinen. Viel ist darüber noch nicht bekannt – aber es sollen weniger Lieder aufgenommen werden als im EG, aber mehr neue. Neben der Papierausgabe wird es erstmals eine digitale Ausgabe geben.
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