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Der Chor der 4. Klassen des „forum thomanum“, vorne Michael Fuchs und Matthias Schubotz. Foto: Universitätsklinikum Leipzig / Swen Reichhold
Der Chor der 4. Klassen des „forum thomanum“, vorne Michael Fuchs und Matthias Schubotz. Foto: Universitätsklinikum Leipzig / Swen Reichhold
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Stimme und Gesundheit in „wilden Zeiten“

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Eindrücke vom 19. Leipziger Symposium zur Kinder- und Jugendstimme
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„Sehr geehrte Damen und Herren, oder darf ich sagen, liebe Freundinnen und Freunde? Welcome back, schön, dass es wieder geht!“ Aussagekräftig war der Beifall, der den allerersten Begrüßungsworten von Prof. Dr. Michael Fuchs beim 19. Leipziger Symposium zur Kinder- und Jugendstimme im Konzertsaal der Hochschule für Musik und Theater in der Grassistraße folgte. Trotz Mund-Nasen-Masken war ein Gefühl nicht nur von Normalität, sondern sogar von familiärer Vertrautheit zu spüren.

Vielen im Publikum und im Kreis der Referenten ist die jährliche Veranstaltung ein wichtiger Termin im Kalender. Regelmäßig entsteht hier aus der Kooperation zwischen dem Universitätsklinikum Leipzig (Sektion Phoniatrie und Audiologie), dem Arbeitskreis Musik in der Jugend und der Hochschule eine anregende Wochenend-Begegnung zwischen Medizin, Gesang und Pädagogik. Und fast immer gelingt es dem Vorbereitungsteam unter Leitung von Prof. Dr. Michael Fuchs, das Tagungsthema so zu fassen, dass es viele Perspektiven eröffnet, ohne ins Beliebige auszuufern.

„Stimme – Medien – Umwelt“ lautete nicht von ungefähr das Motto des 19. Symposiums. 2021 hatte es nur eine verknappte Online-Veranstaltung gegeben, und auch vom traditionellen Termin Ende Februar musste man in diesem Jahr in den Spätsommer rücken. Bei allen Beteiligten stand die Erfahrung der Corona-Pandemie und der damit verbundenen Einschränkungen im Vordergrund – und zugleich das Interesse, was daraus für das Singen, Spielen und Unterrichten und die medizinische Forschung und Behandlung folgen könne und solle. Die Herausforderung war schon bei der musikalischen Eröffnung zu spüren. Der Chor der 4. Klassen der Leipziger Grundschule „forum thomanum“ präsentierte sich unter Leitung von Matthias Schubotz sehr motiviert in einem mit Spieldialogen angereicherten Liedvortrag, der geschickt über die fehlende sängerische und Konzert-Routine hinwegtrug. Fast allen Schulchören fehlten bis zum Frühjahr schließlich zweieinhalb Jahre Auftrittspraxis und Proben in der Gesamtgruppe. Der Wille und die Kraft zum Weitermachen bedeuten hier schon ein starkes Signal. Beeindruckend war dann später der Bericht von Joachim Geibel, dem Leiter des KölnerKinderUni-Chors (sic); ihm gelang es mit hohem technischen, organisatorischen und pädagogischen Geschick und Aufwand, eine Stammbesetzung seines Ensembles über die Beschränkungen hinwegzuretten. Doch wer verfügt im Normalfall schon über diese zeitlichen, räumlichen und finanziellen Ressourcen?

Motivationsprobleme

Den Hauptvortrag „Rückenwind für wilde Zeiten“ hielt Dr. Michaela Brohm-Badry, Professorin für Lernforschung an der Universität Trier und Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Positiv-Psychologische Forschung. An aktuell belastenden Erfahrungen nannte sie die Pandemie, die geforderte soziale Distanz und den Zwang zum Home Office, die Einschränkungen der Handlungsfreiheit, die mangelnde Planbarkeit des privaten und beruflichen Lebens und die wachsenden finanziellen Sorgen. „Es ist vollkommen in Ordnung, zur Zeit nicht besonders ‚gut drauf‘ zu sein,“ folgerte sie. Entsprechend seien bei vielen Menschen fehlende und reduzierte Motivation, Antriebslosigkeit, Schlafstörungen, Burnout und Depression zu beobachten. Von ähnlichen Symptomen berichteten auch Dr. Andreas Hiemisch, Oberarzt am Universitätsklinikum Leipzig und Leiter des Bereichs Psychosomatik, für Kinder und Jugendliche, und Dr. Désiré Brendel, Oberärztin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Hiemisch wies unter Berufung auf mehrere seriöse Studien darauf hin, dass Kontaktbeschränkungen, Schulschließungen, Maskenpflicht und Impfungen bei Kindern und Jugendlichen zur Pandemiebekämpfung letztlich nicht beigetragen, jedoch die jungen Menschen zusätzlich belastet hätten. Im Hinblick auf digitale Medien stellte er fest, dass es schon vor Covid19 eine enge Korrelation zwischen psychischen Erkrankungen und intensiver Mediennutzung gegeben habe. Die Pandemie habe durch die scheinbar erfolgreiche Ablenkung von negativen Emotionen per Handy die Situation der Betroffenen noch verschärft. Viele jugendliche Patienten berichten von Mediennutzungszeiten von 10 bis 16 Stunden am Tag. Entsprechend gibt es in der Klinik Präventions- und Interventionsprogramme gegen pathologischen Mediengebrauch.

Selbstfürsorge und Humor

Dass die Digitalisierung auch neue Informations- und Kontaktmöglichkeiten geschaffen hat, wurde  nicht verschwiegen. „Warmherzige Verbindungen fördern Lebensfreude,“ gab Brohm-Badry dem Auditorium mit. Allerdings gelte für die Verbundenheit mit den Mitmenschen die Devise: „Telefon ist besser als SMS, Facetime ist besser als Telefon und analog ist besser als digital. Generell helfe in der derzeitigen Situation außerdem die Besinnung auf positive Emotionen, das bewusste Angehen von Aktivitäten, körperliche Bewegung, Selbstfürsorge und Humor. Mit ihrer beispielhaft humorvollen Art sorgte die Trierer Professorin auch als Person für Begeisterung. Wie die Digitalisierung zu eigenständigen und neuen Formen kollektiver Kreativität führen kann, zeigte Dr. Marc Godau, Prof. für Musik und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe, in seinem an Beispielen reichen Vortrag „Digitale Formate für praktischen Musikunterricht. Singen auf TikTok und Co. – Sind Gesangspraktiken in (post-)digitaler Kultur (k)ein Thema für die Musikpädagogik?“ Hier zeichnet sich eine beachtliche, aber reizvolle didaktische Herausforderung ab. Dr. Ulla Beushausen, Professorin für Logopädie an der HAWK Hochschule Hildesheim / Holzminden / Göttingen, berichtete von erfolgreichen Therapien per Video, sofern diesen ein therapeutischer Kontakt in Präsenz vorangegangen sei.

Unter der sprechenden Überschrift „Zwischen Hoffnung und Verzweiflung“ zeichnete Walter Prettenhofer, Sprecherzieher an der HFS Ernst Busch in Berlin, eindrucksvoll die Beobachtungen aus dem Sprech- und Schauspielunterricht während der Pandemie nach und machte dabei deutlich, was digital funktionierte und was alles nicht. Eingangs zitierte er die bekannte Definition von Peter Brook: „Ich kann jeden leeren Raum nehmen und ihn eine nackte Bühne nennen. Ein Mann geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht; das ist alles, was zur Theaterhandlung notwendig ist.“ Dass die Erfahrung des Raums digital nicht zu ersetzen ist, machte Prettenhofer an zahlreichen Beispielen deutlich, vom fehlenden beiderseitigen Augenkontakt über Video (dank der Kameraposition am Rechner) bis hin zu Erfahrungen mit Vorspielen über Zoom: „Was für die Kamera gut war, funktionierte auf der Bühne nicht, um umgekehrt.“

Analog und digital

Eine geglückte Form des analogen Musizierens vor digitalem Hintergrund hat offensichtlich der MDR-Kinderchor bei einem multimedialen Konzert im Mai dieses Jahres im Kunstkraftwerk Leipzig realisieren können. Die raumfüllenden Video-Animationen des MDR-Grafikteams zu dem stilistisch vielfältigen Programm waren auf dem Bildschirm des Hochschul-Konzertsaals wenigstens zweidimensional zu erleben und verbanden so unterschiedliche Chorstücke wie Anton Bruckners „Locus iste“, das Volkslied „Kein schöner Land“ und den Jazz-Klassiker „Fly me to the moon“ zu einem ästhetischen Gesamterlebnis. Beeindruckend war der künstlerische Ernst, mit dem die Kinder und Jugendlichen in dem altersmäßig recht weit gestaffelten Ensemble vor das Experten-Publikum in der Musikhochschule traten.

Wichtig vor allem aus medizinischer Sicht waren Zwischenergebnisse der am Leipziger Universitätsklinikum  seit 2011 durchgeführten „LIFE Child-Studie“, die die gesunde Kindesentwicklung von der Schwangerschaft bis ins frühe Erwachsenenalter untersucht. Besonderes Augenmerk liegt auf Zivilisationserkrankungen wie Adipositas, Allergien, Kurzsichtigkeit, Depression und Hyperaktivität. Laut aktuellem Forschungsbericht haben bis Ende 2021 die beachtliche Anzahl von 1.196 Schwangeren und 5.058 Kinder an mehr als 20.729 Besuchstagen an der Studie teilgenommen, so dass man wirklich repräsentative Normwerte für gesunde Kinder und Jugendliche ableiten kann. In drei Vorträgen ging es um Stimmentwicklung, Umwelteinflüsse und Medienverhalten.

Leider waren die kleinteiligen Bildschirm-Präsentationen nicht immer einfach zu lesen, und so sei hier auf die 2023 zu erwartende Publikation verwiesen. Sehr klar war aber eine beunruhigende Botschaft: Kindergesundheit in Deutschland hängt ganz wesentlich von der sozioökonomischen Lage der Familie ab.

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