Waren im Internet zu bestellen, ist inzwischen gang und gäbe. Ebenso wie Online-Banking oder elektronische Kommunikation. Die Digitalisierung gewinnt aber auch in der Musikbranche an Bedeutung. Am Institut für Musikwissenschaft und Musikpädagogik der Universität Koblenz-Landau beschäftigt sich Corinna Herr in einem aktuellen DFG-Projekt mit der Darstellung und der Rezeption klassischer Musikerinnen und Musiker bei YouTube. Dabei geht es ihr um Aufführungs- und Lebenspraxen im digitalen Zeitalter.
Die Cineastik mag diejenige kulturelle Leidenschaft sein, die der Digitalisierung von Anfang an am positivsten gegenüberstand. Fans aller anderen Kultursparten hatten oft mehr oder weniger große Schwierigkeiten mit dem Switch ins Virtuelle. Allen voran die klassische Musik. „Die hatte sowieso schon immer Probleme mit der Technik, das fing bereits mit der Schallplatte an“, sagt Corinna Herr. Den musikalischen Nachwuchs allerdings interessiert das Thema brennend: Welche neuen Möglichkeiten bietet das Internet? Welche neuen Gefahren tauchen aber womöglich auch auf? Das DFG-Projekt entsprang denn auch einem expliziten Wunsch von Studierenden der Musik.
Durch ihr Projekt fand Corinna Herr heraus, dass es etliche Klassik-Fans gibt, die Clips mit klassischer Musik durchaus goutieren. Eine ihrer wichtigsten Erkenntnisse lautet: „Klassische Musik ist entgegen aller Lamenti, dass niemand mehr ins Konzert geht, nicht tot!“ Die Musikwissenschaftlerin verweist auf ihre Untersuchungen zur Rezeption von YouTube-Videoclips der Arie „Der Hölle Rache“ der Königin der Nacht aus Mozarts „Zauberflöte“ mit Diana Damrau: „Hier gibt es zwei Inszenierungen, ein Live-Konzert und eine Probeaufnahme.“ Bis zum Zeitpunkt vor der Corona-Krise kam die Arie auf über 38 Millionen Klicks, zudem finden sich rund 16.000 Kommentare: „Das ist für den Klassik-Bereich wirklich sehr, sehr viel.“
Nun ist ein klassischer Musiker in der Regel kein Computerspezialist und kein YouTube-Künstler. Aber das wird auch nicht unbedingt erwartet. Basis ist und bleibt die künstlerische Exzellenz, so Corinna Herr. Jungen Interpreten ist allerdings klar, dass sie heute auch digitale Werbemöglichkeiten nutzen müssen. Auch wenn das vor Herausforderungen stellt: „Für klassische Musikerinnen und Musiker ist es in der Regel nicht möglich, ähnlich wie Influencer oder Blogger mehrfach in der Woche Neues einzustellen.“ Neue Videos entstehen bei klassischen Musikern meist erst dann, wenn sie wirklich etwas Neues, zum Beispiel eine technische Innovation, zu zeigen haben.
Weitgehend unbegründet ist laut Corinna Herr die Sorge, dass jemand, der zum Beispiel ein gestreamtes Concerto grosso von Händel auf YouTube sieht, keine Lust mehr auf Konzertbesuche hätte. „Konzerte werden das Highlight bleiben, das Internet ist nur eine Ergänzung“, ist sie überzeugt. Allerdings eine äußerst spannende. Dies zeigen die Kommentare unter den Clips: „Als Musiksoziologin interessieren mich die besonders.“ In diesen Kommentaren passiert häufig „Peer-to-Peer-Education“. Internet-User vermitteln einander in meist völlig hierarchiefreier Weise Musik. Interessant sind für Corinna Herr auch Kommentare zum Verhältnis der User zum kommentierten Stück.
Man könnte meinen, dass ein Musiker nur dann hohe emotionale Kraft entfalten kann, wenn er live auf der Bühne zu sehen und zu hören ist. Das stimmt aber offenbar nicht: „Eine Userin erzählt in ihrem Kommentar, dass sie unheimlich geweint hat, als sie die Arie in der speziellen Interpretation von Diana Damrau hörte.“ Nun wäre zu erwarten gewesen, dass sich andere User darüber lustig machten: „Aber dem war nicht so.“ Eine andere Userin berichtete, dass sie die Arie monatelang hätte hören müssen. Corinna Herr untersuchte weiter, welche Kommentare auf dem Videoportal geliked und welche auf welche Weise beantwortet wurden.
Beim Stöbern in der digitalen Welt müssen Nutzerinnen und Nutzer auf der Hut sein: Nicht alles ist echt, nicht alles stimmt, nicht alles darf für bare Münze genommen werden. Dies trifft auch auf YouTube-Videos von klassischer Musik zu. Und zwar speziell auf Abfilmungen von Probeaufnahmen oder von Aufnahmeprozessen als neue Präsentationsvariante im digitalen Raum. Probeaufnahmen, so ein Forschungsergebnis von Corinna Herr, werden immer beliebter. Problematisch sei, dass hier Authentizität konstruiert wird. Bei einer normalen Probe geht ja öfter mal was schief. Bei Probeaufnahmen hört man das als Rezipient nicht mehr.
Durch das Internet bekommen professionelle Musiker eine ganz spezielle Verbindung sowohl zu ihrem Publikum als auch zu potenziellen Auftraggebern: „Es ist ganz klar, dass man vor einem Casting schaut, ob der jeweilige Name bei YouTube auftaucht.“ Dies weiß Corinna Herr aus Gesprächen mit Regisseurinnen und Regisseuren, mit Dramaturginnen und Dramaturgen. Das gilt auch für Solisten von Musik des 16. bis 19. Jahrhunderts. „Es ist also absolut nicht unwichtig, was sich im Netz findet“, so die Musiksoziologin. Genau hier drohen aber auch Gefahren.
Während ein individuelles, analoges Gespräch irgendwann versickert und ein nicht ganz so gelungenes Konzert möglicherweise vergessen wird, verschwindet das, was mal ins Internet gestellt wurde, nicht so leicht. „Man wird im Netz auch solche Dinge nicht mehr los, die man zu einem späteren Zeitpunkt so von sich selbst nicht mehr zeigen würde“, sagt Herr. Musiker sollten also vorsichtig sein, was sie via YouTube präsentieren. Zu den Schattenseiten der digitalen Präsenz gehört außerdem, dass dadurch hohe Erwartungen geweckt werden. Wer den YouTube-Standard der Metropolitan Opera gewöhnt ist, mag sich mit Geringerem nicht mehr begnügen.
Alles in allem gibt es einiges zu überlegen, bevor man als Interpret klassischer Musik beginnt, sich und seine Kunst im weltweiten Netz zu präsentieren. Alle, die sich damit näher beschäftigen möchten, seien auf Corinna Herrs Monografie verwiesen, an der sie gerade schreibt. 2024 soll das Buch erscheinen. Außerdem wird es spätestens Anfang 2024 einen Band mit den Beiträgen der internationalen Tagung „Rollen und Funktionen von Musik in der digitalen Ära“ vom Juni 2022 geben.