Gesangbücher sind im Gottesdienst fast so wichtig wie Bibeln. Ein Archiv der Universität Mainz dokumentiert ihre Entstehung und den Wandel seit dem 16. Jahrhundert. Seit fast 30 Jahren sammelt der Germanistikprofessor Hermann Kurzke deutschsprachige geistliche Gesangbücher im Archiv. Derzeit umfasst es mehr als 4000 Exemplare.
Erst vor kurzem ist das neue katholische Gesangbuch «Gotteslob» vorgestellt worden. Bei Hermann Kurzke im Gesangbucharchiv der Uni Mainz liegt es schon seit längerem auf dem Tisch - wenn auch nicht als gebundene Ausgabe. Kurzke blättert durch den gut einen halben Meter hohen Stapel Din A4 Blätter, alle 23 Regionalausgaben des «Gotteslob». «Wir haben die Überarbeitung mit Lieddossiers unterstützt», erzählt er. Hier im Archiv könne man sehr gut nachvollziehen, wann die Lieder entstanden sind und wie sie sich im Lauf der Zeit gewandelt haben. «Nicht alle unsere Vorschläge wurden angenommen, aber ich denke, wir haben bedeutende Spuren im neuen Gesangbuch hinterlassen.»
Seit fast 30 Jahren sammelt der mittlerweile emeritierte Germanistikprofessor deutschsprachige geistliche Gesangbücher. Derzeit umfasst das Archiv mehr als 4000 Exemplare, die sich im ersten Stock eines unscheinbaren Wohnhauses auf dem Campus der Mainzer Universität verstecken. Die Sammlung reicht vom 16. Jahrhundert bis zu den aktuellen Ausgaben. Oft füllt ein Jahrgang ein ganzes Regalbrett.
Gerade wegen dieser umfangreichen Sammlung habe man das Gesangbucharchiv systematisch in die Überarbeitung des neuen «Gotteslob» eingebunden, berichtet der Diözesankirchenmusikdirektor im Bistum Mainz, Thomas Drescher. «Schließlich ist das Gesangbucharchiv die vielleicht am besten aufgestellte wissenschaftliche Einrichtung auf diesem Gebiet.»
Nur rund ein Drittel der Gesangbücher im Archiv sind katholischer Herkunft; zwei Drittel sind evangelisch. Denn: «Die evangelische Tradition ist ganz klar führend in Sachen Kirchenlied», erklärt Kurzke. Mit der Reformation brachte Martin Luther das Kirchenlied ins Deutsche und in die Gemeinden - zuvor hatten lediglich Funktionsträger wie Priester aus lateinischen Gesangbüchern vorgesungen.
Von der enormen Bedeutung des Gesangbuchs berichtet auch Klaus-Martin Bresgott vom Kulturbüro der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Berlin. «Das Gesangbuch ist die zweite Bibel der Evangelischen Kirche.» Es werde von vielen Gläubigen häufiger genutzt als die Heilige Schrift selbst. Das sehe man auch im Gottesdienst: «Nicht alle beten mit, aber fast jeder stimmt bei den Kirchenliedern mit ein.» Was Bresgott immer wieder überrascht: Das funktioniere auch, wenn im Gesangbuch nur der Text eines Liedes abgedruckt ist. «Die Melodie haben die Leute einfach im Ohr.»
Hermann Kurzke in Mainz erklärt, warum das so ist. «Noten waren in den Gesangbüchern zunächst nur im 16. Jahrhundert notiert - weil die Lieder neu waren.» Bis ins 20. Jahrhundert finden sich dann meist nur noch die Texte in den Büchern. «Erst danach kamen wieder Noten dazu, weil das als Gedächtnisstütze immer notwendiger wurde», sagt Kurzke.
Das älteste im Original erhaltene Gesangbuch im Archiv stammt von 1545. Ein großformatiges, schweres Buch, in das jede Notenzeile aufwendig per Holzschnitt gedruckt wurde. Besonders stolz ist Kurzke auf ein kleines weißes Gesangbuch von 1603. Das in Schweinsleder gebundene, gut erhaltene Exemplar ist ein Unikat. «Das erste Buch der katholischen Gegenreformation - und sie finden es nur hier bei uns», erzählt Kurzke.
Besonders in den Regalreihen mit Büchern aus dem 18. und 19. Jahrhundert befinden sich sehr individuell gestaltete Exemplare - etwa mit goldenen Ornamenten auf rotem Einband oder im schwarzen Samtumschlag mit den Initialen des Besitzers. «Lange Zeit haben sich die Menschen ihr persönliches Gesangbuch zusammengestellt», erzählt Kurzke. Das Einheitsgesangbuch, wie wir es heute kennen, entstand erst im 20. Jahrhundert.
Simon Ribnitzky