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Die klassische Publikation zum Thema  von Erhard Karkoschka aus dem Moeck Verlag
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Jenseits des Fünf-Linien-Systems

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Julia Freund beschäftigt sich an der Gießener Universität mit grafischen Notationsstrategien
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Die übliche Herangehensweise ist die: Ein Komponist erfindet eine Melodie und stellt die Töne innerhalb des Fünf-Linien-Systems dar. „Genau diese Selbstverständlichkeit wurde in den 1950er Jahren in Frage gestellt“, sagt Julia Freund vom Gießener Institut für Musikwissenschaft. Komponisten begannen, grafisch zu notieren. Die 34-Jährige befasst sich mit solchen grafischen Notationsstrategien. Eingebettet ist ihre Arbeit in das trinationale Forschungsprojekt „Writing Music“, das Anfang 2018 startete.

Von einem rein praktischen Gesichtspunkt aus betrachtet ist die traditionelle Notation die einfachste Lösung, musikalische Bedeutung zwischen Komponist und Interpret zu transportieren. Das stellte schon György Ligeti auf dem 1964 in Darmstadt veranstalteten Kongress zu Notationsfragen in der zeitgenössischen Musik fest. Das Problem, das Anhänger der grafischen Notation beschäftigte, ging jedoch über das Praktische weit hinaus. Es lautete: Wie kann ein Komponist den Interpreten partizipativ in die Entstehung eines Werks einbinden, so dass die tradierten Hierarchien zwischen Komponist, Dirigent, Interpret und Publikum aufgebrochen werden?

Graphische Notationsstrategien bereiten, da sie so intransparent sind, vielen Interpreten allerdings Probleme. Die visuell-räumlichen Konfigurationen aus assoziativen Zeichen und Symbolen sind nun mal nicht eindeutig. Was hat sich der Komponist klanglich genau vorgestellt? Musiker finden es meist schwierig, grafisch notierte Stücke zu spielen. „Musikstudenten, die zum Beispiel Partituren von Sylvano Bussotti vor sich haben, wissen oft nicht, wie sie da rangehen sollen“, bestätigt Julia Freund. Häufig würden Aufnahmen konsultiert. Nun erfuhr Freund bei Recherchen im Archiv des Internationalen Musikinstituts in Darmstadt vor kurzem zufällig, dass es erläuternde Erklärungen von Bussotti zu seinen Partituren geben soll.

Diese Information habe sie ziemlich frappiert, gibt die Musikwissenschaftlerin zu. In den Partituren selbst gebe es nämlich kaum Erklärungen: „Allenfalls ein paar spärliche Notizen, die aber als Erklärung nicht reichen.“ Freund begann, im Archiv zu graben, und stieß in einem Karton auf zwölf italienisch verfasste Seiten mit Bussottis Erklärungen zu Notationen seiner Stücke. Mit einer italienischen Kollegin ging Freund daran, die Blätter ins Englische zu übersetzen. Voraussichtlich im Frühjahr soll das Dokument veröffentlicht werden: „Wir hoffen, dass dadurch neue Aufführungen von Bussottis Werken möglich werden.“

Das Komponieren war nie Bussottis einziger Job. „Er ist auch Maler, Bühnenbildner und Regisseur“, so Freund. Durch diese Mehrfachbegabung hatte der 1931 geborene Künstler einen besonderen Zugang zur Schrift. Gerade für ihn war Schrift nicht nur ein Medium, um Klang aufzuzeichnen: „Sondern sie ist selbst eine ästhetische Erfahrung.“ In seinem Stück „Five Piano Pieces for David Tudor“ zum Beispiel, Teil des kammermusikalischen Zyklus’ „Pièces de chair“, geht Bussotti zwar vom Fünf-Linien-System aus. Er spaltet dann aber die Notenlinien am Ende auf, lässt sie abbiegen, sich verwirbeln, oszillieren oder sich verflüssigen.

Komponisten wie Bussotti wollten die Erwartungen an Notationen nicht erfüllen. „Die Gründe, warum sich Komponisten in den 50er bis 70er Jahren entschieden haben, von der traditionellen Notation abzuweichen, sind allerdings unterschiedlich“, sagt Freund. Ein Grund liegt nach ihrer Einschätzung in einer Gegenreaktion auf die überdeterminierten Notentexte, die im Zuge serieller Kompositionen in den 50er Jahren aufkamen: „Hier muss der Interpret sehr viele Informationen umsetzen.“ Grafisch notierende Komponisten wollten wieder mehr Freiheitsräume schaffen: „Der Interpret wird als souveränes ästhetisches Subjekt angesprochen.“

Julia Freund forscht noch bis Anfang 2021 mit zehn Kolleginnen und Kollegen aus Gießen, Innsbruck, Basel und Wien im D-A-CH-Forschungsprojekt „Writing Music“. „Wir versuchen, das Phänomen Notation theoretisch zu fassen, also zu erforschen, wie sich die Notation entwickelt und welches kreative Potenzial sich beim Erfinden eigener Notationsformen entfaltet hat“, erläutert sie. Dies geschieht an den vier Standorten in vier Forschungsfeldern, die sich um die Begriffe „Ikonizität“, „Operativität“, „Materialität“ und „Performativität“ drehen.

Sylvano Bussotti hatte verschiedene Möglichkeiten durchexerziert, grafisch zu notieren. In den kommenden Monaten will sich Julia Freund vor allem mit den Notationen für sein Musiktheater befassen; „Hier schreibt Bussotti wieder traditioneller, allerdings wird der Notensatz auch in diesen Partituren unterbrochen.“ Bussotti fügt zum Beispiel Figuren und Kostüme in die Partituren ein.

Parallel will Freund die Notationen von Mauricio Kagel unter die Lupe nehmen. In seiner „Musik für Renaissance-Instrumente“ zum Beispiel entwickelt der deutsch-argentinische Komponist eine komplexe Wechselwirkung zwischen Kompositionsidee, den Bedingungen der Schriftlichkeit und den Klangmöglichkeiten der Instrumente. Das Stück soll in der konkreten Entscheidungssituation einer Aufführung zu einer spezifischen klanglichen Gestalt gebracht werden. Nach Kagels Überzeugung entsprechen klangfarbenmäßige Verzierungen des Notentextes dem Denken und der Aufführungspraxis der Renaissance.

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