Der deutsche Musiknotenmarkt hat eine lange Tradition. Der Bärenreiter-Verlag in Kassel etwa blickt auf eine hundertjährige Geschichte zurück. Der Zukunft des Musikverlagswesen widmet sich nun ein neuer Studiengang an der Universität in der nordhessischen Stadt.
Kassel - Geschichte und Zukunft des Musikverlagswesens verbinden sich in Kassel. Die nordhessische Stadt ist Sitz mehrerer international renommierter Musikverlage und dazugehöriger Institutionen wie der Verwertungsgesellschaft Musikedition. Ein neuer Studiengang an der dortigen Universität will Absolventen nun speziell für die komplexen Aufgaben in der Branche ausbilden.
«Manchmal ist es eine Kleinigkeit, die viel verändern kann», sagt Clemens Scheuch. Der 43-Jährige leitet den Kasseler Musikverlag Bärenreiter, der in diesem Jahr sein hundertjähriges Bestehen feiert. Scheuch ist stolz auf die Urtext-Ausgaben des zweitgrößten Musikverlags Deutschlands. «Mit ihnen wollen wir Musikern die bestmögliche Basis für ihre Interpretationen liefern von dem, wie es der Komponist haben wollte», sagt der Verlagsleiter, der auch Vizepräsident des Deutschen Musikverleger-Verbands (DMV)ist. Dem gehören etwa 350 Verlage an, darunter unter anderem der deutsche Marktführer Schott Music in Mainz.
Als Urtext werden Ausgaben von Musikwerken bezeichnet, die nach wissenschaftlichem Vergleich der Quellen wie die eigenhändige Niederschrift eines Werkes durch den Komponisten, Briefe sowie Manuskripte erstellt werden. «Sie versuchen, der Intention des Komponisten möglichst nahezukommen», erklärt Scheuch. Die könne im Laufe der Jahrhunderte etwa durch Missverständnisse oder unterschiedliche Lesarten schon mal verfälscht werden.
Um herauszufinden, was der ursprüngliche Wille des Komponisten war, beauftragt der Verlag Musikwissenschaftler als Herausgeber. Sie studieren den ursprünglichen Notentext, ziehen Sekundärquellen heran, um am Ende zu gewichten und zu entscheiden. «In einem kritischen Bericht erklären sie, warum sie sich dann für diesen Ton entschieden haben und für keinen anderen», erklärt Scheuch. «In vielen Fällen handelt es sich um Details. Es kann aber auch den Klangcharakter verändern.» Manchmal sei es nur ein kleiner Halbtonschritt, der eine Melodie komplett anders klingen lasse.
«Das kann unter Umständen schon die Wahrnehmung eines Komponisten als beispielsweise temperamentvoll, sentimental, als typisch für eine Epoche oder über sie hinausweisend verändern», sagt auch der Musikwissenschaftler Jan Hemming. Er lehrt Systematische Musikwissenschaft an der Universität Kassel und ist Studiengangsleiter eines neuen bundesweit einzigartigen Master-Studiengangs Musikverlagswesen, der dort zum Wintersemester starten soll.
«Jemand, der an einer Urtext-Ausgabe arbeitet, muss selbst an den entsprechenden Instrumenten Erfahrung haben, in den Genres und historischen Abschnitten versiert sein», sagt Hemming. Das sei aber nur eine Facette des neuen Studiengangs, wo es auch um die handwerklichen Grundlagen gehe. «Wie macht man das Seitenlayout? Wie bedient man ein Notensatzprogramm? Wie funktioniert der weitere Produktionsprozess im Verlag? Mit diesen Dingen müssen Mitarbeiter eines Musikverlags vertraut sein.»
Im Musikverlagswesen gehe es zudem um Urheberrechte, die Verleihung von Material an Orchester sowie die Lizenzverwaltung. «Lizenzeinnahmen machen einen erheblichen Teil des Verlagsgeschäfts aus», erklärt Hemming. Denn Musikverlage handeln nicht nur mit Noten, sondern auch mit Rechten. Dazu übertragen die Urheber dem Verlag in einem Wahrnehmungsvertrag die Auswertung ihrer musikalischen Werke für unterschiedliche Nutzungsarten, beispielsweise von Liedern oder Kompositionen als Filmmusik. Die Nutzer müssen hierfür beim Musikverlag entsprechende Lizenzen erwerben.
Der neue Studiengang mit vier Semestern Regelstudienzeit bis zum Master of Arts soll die Absolventen praxisnah entsprechend spezialisieren. «Das Interesse der Verlage ist groß», sagt Hemming. Die digitale Transformation sei in vollem Gange. «Dabei befinden sich die Verlage in unterschiedlichen Stadien und stehen vor einer großen Herausforderung.»
In den Studiengang werden die in Kassel ansässigen Musikverlage integriert. Auch der Bärenreiter Verlag ist Praxispartner. Er beschäftigt aktuell 100 Mitarbeiter in Kassel, 20 weitere am Standort in Prag sowie zwei in London. «Wir liefern unsere Ausgaben weltweit», sagt Scheuch. 50 Prozent des Umsatzes generiere der Verlag im Ausland. «Der amerikanische und asiatische Markt sind neben dem inländischen Markt am größten.»
Zwei bis drei Jahre kalkuliert der Verlag für eine normale praktische Ausgabe, große Orchesterwerke könnten auch vier oder fünf Jahre dauern, sagt Scheuch. «Bei einer Gesamtausgabe eines Komponisten rechnen wir über Jahrzehnte. Es gibt Projekte, die auf meinen Großvater zurückgehen, die ich vermutlich abschließen werde.» Da würden viele andere Wirtschaftsbetriebe die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, sagt der Verlagsleiter. «Wir rechnen damit, dass sich die Aufwände nach vier Jahren tragen müssen.» Investitionen in neue Projekte ermögliche ein breiter Katalog mit Brot- und Butterartikeln.
Bärenreiter wolle sich nicht allein «auf die großen Cashcows» konzentrieren. «Wir investieren in die Breite des Programms, zum Teil auch in abwegige Projekte, wenn wir glauben, die Musik hat es verdient», sagt Scheuch. «Es geht darum, einen unglaublichen kulturellen Schatz aufzubereiten und zur Verfügung zu stellen, auch wenn das heißt, manche Werke rechnen sich nicht. Jeder Mensch, den wir für Musik begeistern können, ist eine absolut positive Errungenschaft.»