Es ist nicht einfach: Am liebsten tut man so, als gäbe es keine Anlässe für die neben wichtigen Dresdner Kultureinrichtungen auch von der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber unterzeichnete Initiative „Für ein weltoffenes Dresden“ (#WOD). Auf den Holzbänken vor deren Hauptgebäude am Wettiner Platz, unweit vom neuen Kulturzentrum Kraftwerk Mitte, ist die Atmosphäre ebenso heiter wie die mild-sonnigen Herbsttage.
Für Jörn Peter Hiekel, Professor für Musikwissenschaft und Leiter des Instituts für Neue Musik, ist es klar, dass die Besinnung auf die Kernaufgaben weiterhin Priorität hat: Lehre, Forschung, die Ausbildung des Nachwuchses. Noch mehr bedeutet ihm jetzt aber die Öffnung nach außen, auch mit komplexen Nischenthemen. Deshalb wurde der „Konzeptkomponist“ Johannes Kreidler (geb. 1980), der an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig „Felix Mendelssohn Bartholdy“ am 2. November beim Symposium-Tag „Zeitgenössisches Musik-Theater. Zum Verhältnis von Komposition, Inszenierung, Medien und Performance“ referierte, zu einem Workshop mit Gesprächskonzert und öffentlicher Probe am 7. November eingeladen.
Selbst interessierten Besuchern fällt der programmatische Unterschied nicht auf, dass sich die Dresdner Hochschule mehr der Neuen Musik, die Leipziger mehr der Tradition verschreibt. Die Bemühungen um Neue Musik strahlen in beiden sächsischen Ausbildungs- und Forschungsstätten aus, zum Beispiel mit dem Dresdner Projekt der Briefmarkenopern (eine Kooperation mit der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin) oder der Uraufführung der Kammeropern „Letzte Tage Lodz/Freiberg“ als Studioproduktion des Leipziger Masterstudiengangs Gesang mit Ensemblemitgliedern des Mittelsächsischen Theaters Döbeln/Freiberg. Der Informationsfluss zwischen dem Fachbereich Neue Musik in Dresden und dem Leipziger Zentrum für Gegenwartsmusik funktioniert gut. Beim Workshop von Johannes Kreidler liegt die Beteiligung bei etwa 20 Personen, die Hälfte Studierende.
Am 14. November hieß es „Ein Tag für Erwin Schulhoff – Vor 100 Jahren in Dresden“. Auch dieses Veranstaltungsmodul, ein Symposium mit internationalen Fachreferenten, ist bewährt: Letztes Jahr widmete man den Komponisten-Tag Max Reger, 2019 folgt Udo Zimmermann. Im Schulhoff-Konzert berührt der von den Schauspielern Andreas Herrmann und Klaus Jung vorgetragene Briefwechsel mit dem darin aufreißenden Konflikt zwischen Arnold Schönberg und dem zwanzig Jahre jüngeren Erwin Schulhoff (1894–1942) aus dem Jahr 1919. Schönberg, der als Jude eineinhalb Jahrzehnte später aus Nazi-Deutschland emigrieren wird, schlug einen markanten Ton an, in dem er sich nach Entstehung seiner revolutionären Werke „Pierrot lunaire“ und der Kammersinfonie als Anhänger einer deutschnationalen, verinnerlichten Haltung darstellt, die der rhetorisch gewitzte Erwin Schulhoff kritisiert. Neben vertiefenden Aspekten bieten die Referate des Erwin-Schulhoff-Tages Basisfakten: Dr. Marketa Hebelkova, Leiterin der musikalischen Sammlung im Nationalmuseum Prag, gab eine Einführung über Angebote ihrer Institution, die auch umfangreiche Teile des Nachlasses von Erwin Schulhoff verwaltet. Die Einflüsse des Dadaismus, dem Schulhoff nach einer tendenziell expressionistischen Phase in Dresden verbunden war, erweisen sich als bedeutsam. Hiekels Referat über „Schulhoffs avantgardistische Strategien im Kontext der Zeit“ ist eine Kampfansage gegen jede Form von Klischee-Schubladen im Musikmarketing, in den Medien und nicht zuletzt durch die Interpreten selbst. In diesem Kontext wurde auch der Unterschied deutlich zwischen dem lebenden Johannes Kreidler, dessen Konzept-Environments auf verschiedene Interpreten übertragbar sind, und Erwin Schulhoff, der sich wie Franz Schreker gegen Etikettierungen seines Schaffens sträubte.
Als Training für Performance-Strategien sind zwei Stücke Schulhoffs spannendes Material: Der Klavier-Student Svjatoslav Korolev hatte eine hintergründige Freude an „In futurum“, der dritten von „Fünf Pittoresken für Klavier WV51“. Das Stück besteht nur aus Pausen. Deren Dauer und Proportion sind präzise notiert. Interpreten können diese Periodik der in verschiedenen Tonhöhen notierten Pausenzeichen den „Hörern“ allenfalls mit Gesten übermitteln. Das nimmt schon einige der ästhetischen Prämissen Kreidlers und anderer lebender junger Komponisten vorweg: Musik sei nicht allein als akustisches Phänomen, sondern nur im Kontext von Anlass, Aufführung, Medien und Ambiente wirksam.
Erwin Schulhoffs Angebot, seinen Interpreten in den „Fünf Gesängen mit Klavier WV 52“ durch Verzicht auf Vortragsangaben die Freiheit des Gestaltens zu überlassen, wurde von Prof. Christine Weise am Flügel mit der Sopranistin Viktoria Wilson sehr maßvoll genutzt. Dagegen geriet die abschließende „Sonata erotica“ zum Super-Event: Hinter einem Rednerpult ächzte, stöhnte und tirilierte sich Viktoria Wilson durch die fast ohne Worte auskommende „A-cappella-Solokantate“, die eine weibliche Erregungskurve beim Geschlechtsverkehr akustisch abbildet. Das Stück ist nicht in Schulhoffs Werkverzeichnis gelistet.
Eine der wenigen Fragen Studierender an Johannes Kreidler lautete: „Dachten Sie nie daran, für Stimmen zu komponieren?“. Im Kontext des Gesprächskonzerts störte die Moderation mit Interview und hob die pointierten, stellenweise witzigen Momente von Kreidlers Soloperformances auf. Sound- und Video-Beispiele, Rückblicke auf seine philosophische Ahnengalerie und die Instrumentalisierung von Medien, Hilfsmitteln und Musikern, die sich in jedem Werk auf andere Interaktions-Modi einlassen müssen, bündeln sich bei Kreidler zum Spannungsmix. Für das, was er selbst „Sonifikation“ nennt, braucht er in Konservatoriums- und Hochschulstrukturen gründlich ausgebildete Interpreten und Mitakteure. An Vokales denkt er tatsächlich so gut wie nie.
Diese beiden Porträt-Tage widmete man also einem neben den Szenen stehenden lebenden Künstler, der gerade einen Trend kreiert, und einem vernachlässigten Komponisten, dessen Abwehr von ästhetischen Zuschreibungen zum bremsenden Handicap seiner Rezeption wurde. Zu den Rahmenbedingungen des Schaffens von Kreidler und Schulhoff gehören also künstlerische Freiheit, eigenwillige Identität und der Anspruch auf kreative Experimente. Erwin Schulhoffs zweijähriger Aufenthalt in Dresden ruft auch Erinnerungen an die ästhetischen Diskurse in „Elbflorenz“ wach, die in scharfem Kontrast zum Image von Dresdens konservativem Traditionalismus stehen. So unterstützen diese Veranstaltungen die Initiative „Für ein weltoffenes Dresden“, selbst wenn das in den Räumen der Hochschule für Musik „Carl Maria von Weber“ niemand in Worte fassen will.