Es ist 8.33 Uhr, ich betrete den in freundlichen Gelbtönen gehaltenen Neubau der Uhlandschule in der Mannheimer Neckarstadt. Vor dem Klassenzimmer warten bereits drei bis vier Kinder auf den Unterricht einer Vorbereitungsklasse. Unsere Blicke treffen sich und ein schüchternes Leuchten huscht über das ein oder andere Kindergesicht. Ich merke, wie Freude in mir aufkommt, diese Kinder zu sehen, die eines gemeinsam haben: Sie mussten mit ihren Eltern und Geschwistern ihre Heimat verlassen, alles Bekannte und alle Sicherheiten aufgeben.
Diese Tatsache, dieses Wissen um das je eigene Schicksal eines jeden Kindes, das hier in dieser Klasse zusammenkommt, um neue – auch künstlerisch-musikalische – Erfahrungen zu sammeln, Spuren zu suchen für ein neues Gefühl von Heimat und Sicherheit, bewegen mich.

Neun Jahre Projekt Musik verbindet
Vor dem Hintergrund des aktuellen politischen Diskurses und der Brisanz von unerwartet schnell sich verändernden gesellschaftlichen Umwälzungen, erscheint das nunmehr im zehnten Jahr befindliche Third Mission-Projekt „Musik verbindet“ aktueller und dringlicher denn je.
Begonnen hat es 2016 als Reaktion auf die massiv einsetzenden globalen Fluchtbewegungen, die auch eine Reflexion und Neubewertung des eigenen kulturellen Bildungsauftrags zur Folge hatten. Es entstand der Wunsch, auf die aktuelle Lage zu reagieren und ein interkulturelles Angebot auszuarbeiten, um einen kleinen Beitrag zu einer Willkommens-Kultur zu leisten.
In Rücksprache mit dem Präsidium der Hochschule, welches den Vorstoß sofort und uneingeschränkt unterstützte, wurde nach Möglichkeiten der Umsetzung gesucht.
So ergab sich schnell ein Kontakt zu Ansprechpartner:innen und Verantwortlichen im Rhein-Neckar-Kreis, welche unser Angebot, mit Kindern einer Flüchtlingsunterkunft musikalisch arbeiten zu wollen, mit großer Offenheit begegneten.
Das Projekt, das von meiner Kollegin Simone Reisner und mir konzipiert und durchgeführt wurde, stand ALLEN Studierenden der Musikhochschule Mannheim offen, egal ob mit künstlerischem oder künstlerisch-pädagogischem Schwerpunkt, egal aus welcher Fachrichtung – Jazz, Klassik, Schulmusik oder EMP. Und so fanden sich schnell sechs bis acht Studierende, die auf diese Weise neue Erfahrungen in der Vermittlung von musikalischen und kulturell geprägten Inhalten in einem ungewohnten Unterrichtssetting machen durften.
So boten wir dieses Projekt in unterschiedlichen Einrichtungen in der Metropolregion Rhein-Neckar (Eppelheim, Oftersheim, Ketsch, Mannheim) an, bis jeweils die Kinder mit ihren Familien die Unterkunft verlassen konnten, weil ihnen eine eigene Wohnung angeboten werden konnte. Die Resonanz auf unsere Initiative, auf politischer und gesellschaftlicher Ebene, war sehr groß, und so fanden sich in regelmäßigen Abständen Vertreter:innen der Presse ein, insbesondere dann, wenn sich Politiker:innen von kommunaler und landespolitischer Ebene für unsere Arbeit interessierten.
Die Corona-Pandemie ließ dann alle Initiativen aus den bekannten Gründen abrupt abreißen.
In der Zeit danach gestaltete sich die Suche nach neuen Kooperationspartner:innen nicht einfach, weil sich in der Zwischenzeit vielfältige Angebote mit den unterschiedlichsten Schwerpunktsetzungen etabliert hatten.
In einem Gespräch mit einer Grundschullehrerin erfuhr ich, dass in ausgewählten Grundschulen Baden-Württembergs sogenannte Vorbereitungsklassen (VKL-Klassen) gebildet werden, in denen Kinder aus geflüchteten und migrierten Familien so lange gemeinsam lernen, bis die erworbenen Deutschkenntnisse eine Aufteilung in die jeweiligen Klassenstufen möglich machen.
So nahm ich Kontakt mit der Schulleiterin der Mannheimer Uhlandschule auf und stellte ihr unser Konzept vor. Da sie durch eigene künstlerische Erfahrung eine hohe Affinität zu Musik und musikalischer Bildung hatte, rannte ich – sprichwörtlich – offene Türen ein.
Das Unterrichtssetting gestaltet sich aktuell so, dass wir donnerstags von 8.45 bis 9.40 Uhr in der VKL-Klasse sind. Diese besteht aus 12 bis 18 Kindern im Alter von 6 bis 11 Jahren. Neben Simone Reisner und mir sind vier EMP-Studierende dabei, sowie die Klassenlehrerin, bzw. die stellvertretende Klassenlehrerin. Die EMP-Studierenden nutzen dabei das Angebot als Lehrpraxis für jeweils zwei Semester, indem sie neben der Hospitation und der anschließenden Reflexion auch selbst eigene Unterrichtseinheiten konzipieren und durchführen, die intensiv vor- und nachbereitet werden.
Eine Besonderheit ist, dass sich die Zusammensetzung der Klasse kontinuierlich ändert. Von heute auf morgen kann ein Kind einer Regelklasse zugeführt werden oder neue Kinder kommen in die VKL-Klasse dazu. Dadurch verändert sich das soziale Gefüge der Klasse nicht unerheblich, was wir immer wieder beobachten konnten.
Besonders auffällig war es bei einem Jungen, der als unbegleitetes Kind (!) nach Mannheim gekommen ist. Sein offener Blick, seine Begeisterung Neues lernen zu wollen, seine hohe soziale Kompetenz -in einer aus ca. 11 verschiedenen Nationalitäten zusammengewürfelten Klasse- fiel sofort ins Auge. Seine ausgleichende und vermittelnde (Vorbild-) Funktion fehlte auf einmal, als er die Klasse verlassen und die Gruppe sich neu finden musste.
Die Tatsache, dass die Kinder fast kein Deutsch verstehen, macht die Arbeit besonders. Die Notwendigkeit für ein nonverbales Agieren und Anleiten ist naheliegend und verstärkt die Einsicht, dass im künstlerisch-pädagogischen Vermittlungsprozess insgesamt dem nonverbalen Anleiten eine Chance zukommt, die der Wirkung von Musik in besonderer Weise zuträglich ist.
Der facettenreiche methodische Aufbau von Lern- und Lehrgegenständen, seien es Lieder, Bodypercussion-Patterns, Aspekte freier Bewegung -mit und ohne Material-, Tänze oder instrumentale Begleitungen und Gestaltungen, schafft vielfältige musikbezogene Erfahrungsräume und Kommunikationsmöglichkeiten jenseits der Sprache. Diese Möglichkeiten immer wieder zu suchen und zu nutzen, ist ein wichtiger Mehrwert, den Studierende aus dieser Arbeit, auch für andere Unterrichtskontexte, mitnehmen können.
Besonders intensive Momente ergaben sich im freien instrumentalen Spiel, bei dem sich kleine Duette, quasi als Zwiegespräche entwickelten, und die Kinder mit höchster Konzentration und Aufmerksamkeit agierten und auf ihr musikalisches Gegenüber reagierten. Es war beglückend zu sehen, wie lange die anderen Kinder bereit waren den jeweils aktiven Kindern ihren Hörraum zu gewähren.
Hierbei wird deutlich, wie wichtig es ist, eine ausgewogene Balance von vorgegebenen und frei zu (er-)findenden Ausdrucksformen in der Unterrichtsplanung zu berücksichtigen. Erst die Fähigkeit, Unterrichtsprozesse binnendifferenziert anzuleiten und zu gestalten, schafft nachhaltige künstlerische Erfahrungen und evoziert Flow-Erlebnisse.
Es ist mir bewusst, dass diese Arbeit vor dem Hintergrund der aktuellen Herausforderungen nur ein winziger Beitrag sein kann für mehr Toleranz, Wertschätzung, Vielfalt - und im besten Sinn als Baustein für eine freie Lebensgestaltung… Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Über den Autor

Elias Betz wuchs in Hamburg auf und studierte Musikwissenschaft, Kunstgeschichte sowie Musik- und Tanzpädagogik mit Schwerpunkt Komposition in München und Salzburg. Er war viele Jahre in der Elementaren Musikpädagogik und Percussion an der Musik- und Singschule Heidelberg tätig und lehrt seit 1990 an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Mannheim, wo er seit 2010 Professor für EMP und Leiter des Studiengangs ist. Er entwickelte den musikalischen Schwerpunkt an der Thadden-Grundschule Heidelberg und war Mitautor einer städtischen EMP-Konzeption für Kitas. Als Mitglied des AEMP war er zeitweise stellvertretender Sprecher und ist in verschiedenen hochschulpolitischen Gremien aktiv. Künstlerisch konzentriert er sich auf Kompositionen für Schlagwerk, Klavier und Chor. Mit Projekten wie Tänze ums tönende Erz trat er international auf. Betz publiziert regelmäßig, ist Mitautor zentraler EMP-Werke und konzipierte mit Simone Reisner den berufsbegleitenden Lehrgang Musikgeragogik in Baden-Württemberg.
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