Lehrende müssen sich zu Nähe und Distanz weiterbilden: So lautet eine von insgesamt zehn Empfehlungen zum Umgang mit sexualisierter Diskriminierung und Gewalt an Kunst- und Musikhochschulen.
Wessen Freiheit ist gemeint?
Verpflichtende Weiterbildung? Wer wagt es, Künstler*innen so etwas vorschreiben zu wollen? Dreht die Bundeskonferenz der Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten (bukof) an Hochschulen jetzt durch? Denkt die bukof denn auch an die Freiheit der Lehre? Der Ruf nach Weiterbildung per Anordnung mag sich zunächst wie eine überzogene Forderung anhören. Auf den zweiten Blick stellen sich Weiterbildungen als eine in zehn Handlungsempfehlungen eingebettete sinnvolle Maßnahme dar, von der alle Hochschulmitglieder profitieren können. Sie setzen die positiven Entwicklungen an den künstlerischen Hochschulen folgerichtig fort. Doch der Reihe nach:
Die bukof versteht sich als geschlechterpolitische Stimme im wissenschafts- und hochschulpolitischen Diskurs. Hier melden sich erfahrene und engagierte Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte zu Wort. Mit ihren „Handlungsempfehlungen zum Umgang mit sexualisierter Diskriminierung und Gewalt an Kunst- und Musikhochschulen“ fordert die bukof die Rektorenkonferenz der deutschen Musikhochschulen (RKM) sowie diejenige der Kunsthochschulen (RKK) auf, ihre bisherigen Anstrengungen auf Bundesebene zu bündeln und für gemeinsame Maßnahmen Synergien zu nutzen. Ihr Ziel ist es, „angehende Künstler*innen aller Sparten und an jeder künstlerischen Hochschule in Deutschland zu schützen“. Wer wollte dieses Ziel nicht teilen? Über den Weg dorthin und die zehn Maßnahmen darf und soll nun an den Hochschulen debattiert werden:
- Bundesweite Untersuchung zu sexualisierter Diskriminierung und Gewalt.
- Beitritt der Kunst- und Musikhochschulen zur Themis-Vertrauensstelle.
- Bundesweite Kampagne zur Prävention von sexualisierter Diskriminierung und Gewalt.
- Werte- und Verhaltenskodizes an allen Kunst- und Musikhochschulen.
- Verpflichtende Weiterbildungen für Lehrende zum Thema Nähe und Distanz.
- Seminarangebot für Studierende zum Umgang mit Nähe und Distanz.
- Ermutigung betroffener Personen, sich beraten zu lassen und Vorfälle zu melden.
- Weiterbildung und Supervision für das Beratungspersonal an den Hochschulen.
- Genderforschung in den Curricula verankern und Professuren mit Genderdenominationen einrichten bzw. erhalten.
- Einsatz für mehr Sichtbarkeit und Anerkennung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans*, Inter* und Queers (LSBTIQ*).
Dieser Artikel fokussiert sich auf Punkt 5: Weiterbildungen für Lehrende zu körperlicher und seelischer Nähe und Distanz sollen zukünftig verpflichtend sein. Denn die vielen Angebote zur Prävention an den künstlerischen Hochschulen wie Aktionstage oder Workshops sind bislang freiwillig. Auf diese Weise werden jedoch oft lediglich jene Lehrenden erreicht, die sowieso bereits sensibilisiert sind. Diejenigen Lehrenden, die eine Auseinandersetzung mit physischen und psychischen Grenzen und der eigenen Lernbiografie nötig hätten, bleiben den (oft einmaligen) Veranstaltungen meist fern. Die Hochschulleitungen haben keine juristische Grundlage, um sie zur Teilnahme zu verpflichten. Dies müsste in den Hochschulgesetzen auf Länderebene oder auf Ebene der sogenannten Rektorenkonferenzen festgeschrieben sein.
Der Wissenschaftsrat, der nicht im Verdacht steht, feministische Forderungen zu erheben, hat in seinen Empfehlungen zur postgradualen Qualifikationsphase an Kunst- und Musikhochschulen 2021 festgestellt: „Die Berufung auf eine künstlerische Professur aus der künstlerischen Tätigkeit heraus geschieht […] häufig unvermittelt und bedeutet einen oft nicht bewusst reflektierten Rollenwechsel. Für die Hochschulen ist bei einer Berufung nicht immer absehbar, ob eine Künstlerpersönlichkeit auch als Lehrperson […] reüssieren wird“ (WR 2021, S. 15).
Den Gedanken, den Rollenwechsel auf theoretischer wie auch persönlicher Ebene zu reflektierten, greift die bukof auf: Denn Professuren sollten nicht nur mit exzellenten Künstler*innen mit internationalem Renommee besetzt werden, „sondern vor allem auch mit Persönlichkeiten, die ihre Rolle als Lehrende und Mentor*innen für den künstlerischen Nachwuchs verantwortungsvoll und diskriminierungssensibel wahrnehmen können“.
Die Besonderheiten des musikalischen Studiums sind Einzelunterricht, gegebenenfalls anlassbezogener Körperkontakt im Unterricht und beim Musizieren, Emotionalität als künstlerisches Ausdrucksmittel, tägliches Üben, enormer Konkurrenzdruck und die hohe persönliche Abhängigkeit von den Lehrpersonen, die häufig keine pädagogische Ausbildung haben. Die Lehrenden müssen sich stets ihres verantwortungsvollen Auftrages bewusst sein und dürfen niemals ihre Machtposition missbrauchen. Sie tragen in erheblichem Maße dazu bei, dass die Studierenden angstfrei, mit Freude und Hingabe lernen und ihre Talente kreativ entfalten können. Diese Spezifika setzen von den Lehrenden an Kunst- und Musikhochschulen ein besonderes Maß an Professionalität und Rollenklarheit voraus. Deshalb sollten sie sich regelmäßig fortbilden. Der Studienabschluss von Lehrenden liegt meist viele Jahre zurück, sie haben lange vor der #Metoo-Debatte studiert, die auch an den Hochschulen geführt wird und sich in Satzungen zum Schutz vor Diskriminierung, Belästigung und Gewalt widerspiegelt. Beispielsweise hat die Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin für die Lehre folgendes geregelt:
„Werden sexuelle, erotische, gewaltvolle und/oder rassistische Handlungen künstlerisch dargestellt oder sind entsprechende Inhalte Gegenstand der künstlerisch-praktischen Ausbildung, so ist die Zustimmung der Beteiligten vorab einzuholen und gegebenenfalls ein Gespräch zur Reflexion anzubieten. Eine wirksame Zustimmung setzt voraus, dass die Beteiligten sie ausdrücklich und freiwillig erteilt haben, nachdem sie zuvor umfassend informiert wurden. Eine Zustimmung kann jederzeit vollständig oder teilweise widerrufen werden. Auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung ist darauf zu achten, dass Machtverhältnisse, Rollenbilder sowie strukturelle Formen der Diskriminierung analysiert und kritisch reflektiert werden“ (§ 4 Abs. 3).
Neben ihrer künstlerischen Tätigkeit sollen Lehrende also zusätzlich unterrichten. Da stellen sich viele Fragen: Wie können sie im Hochschulalltag Einvernehmlichkeit zu Nähe und Distanz herstellen? Mit welchen Techniken können sie ihre Rolle als Künstler*innen in der ersten Reihe ablegen und im Unterricht in eine beobachtende und unterstützende Rolle schlüpfen? Wie gelingt in künstlerischen Prozessen die Balance zwischen wünschenswerter Nähe und notwendigem Abstand? Wie geben sie wertschätzend und motivierend Feedback? Wie gehen sie mit veralteten Rollenbildern und sexistischen oder rassistischen Stereotypen im Repertoire um? Wo finden sie Werke von weiblichen und nicht-binären Künstler*innen? Wie leiten sie Studierende aus vielen Ländern mit unterschiedlicher Sozialisation behutsam an, Intimität, Nacktheit, Erotik und auch Gewalt auf der Bühne darzustellen? Aber auch: Wie gehen sie professionell mit Vorwürfen um, sie seien übergriffig oder hätten ihre Macht missbraucht beziehungsweise wie beugen sie diesen vor? Das sind wichtige Fragen, die sich für alle zu diskutieren lohnen. Ideal wäre es, wenn alle Lehrenden selbst bestimmen würden, WIE sie sich dazu schulen und austauschen. Über das OB sollten wir nicht mehr debattieren.
Wenn von „Freiheit der Lehre“ die Rede ist, wessen Freiheit ist dann gemeint? Aus Sicht der Studierenden kann damit gemeint sein, frei von Angst – vor Machtmissbrauch oder vor zu viel Leistungsdruck – zu studieren. Oder die Freiheit, sich in einem gesicherten Setting künstlerisch auszuprobieren. Eine Schutzlücke für Studierende im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) hat die Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2016 in einem Gutachten aufgezeigt. Daraufhin haben alle Hochschulen entsprechende Satzungen erlassen, die Studierende schützen. Es gibt jedoch nach wie vor eine „Schutzlücke“ insofern, als Lehrende an Kunst- und Musikhochschulen zwar Einzelunterricht geben, jedoch größtenteils nicht in Pädagogik, Didaktik und/oder Psychologie ausgebildet sind. (Antje Kirschning: Kunst braucht Nähe. Nähe braucht Regeln. Vom professionellen Umgang mit Grenzen in der musikalischen Ausbildung an Musikhochschulen in: Sexualisierte Belästigung, Diskriminierung und Gewalt im Hochschulkontext – Herausforderungen, Umgangsweisen und Prävention, hrsg. Von H. Pantelmann und S. Blackmore, Wiesbaden 2023. Abrufbar unter https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-658-40467-3_7). Weiterbildungen würden diese Schutzlücke schließen und können ein Kollegium insgesamt für ein respektvolles Miteinander sensibilisieren, was langfristig auf den Kultur- und Musikbereich ausstrahlen wird.
- Antje Kirschning ist Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin, Sprecherin der bukof-Kommission Künstlerische Hochschulen und Mitautorin der Handlungsempfehlungen.
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