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Differenziert und präzise: Sukjong Kim dirigiert das „Kritische Orchester“. Foto: Manuela Steinemann
Differenziert und präzise: Sukjong Kim dirigiert das „Kritische Orchester“. Foto: Manuela Steinemann
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„Wir wollen auf Händen getragen werden“

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Das Kritische Orchester gab jungen Dirigentinnen und Dirigenten wieder klares Feedback
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Seit nunmehr 20 Jahren haben talentierte Nachwuchsdirigenten aus aller Welt die Chance, ihr Können mit dem „Kritischen Orchester“ auf die Probe zu stellen. Hier einen der begehrten Plätze zu erhalten, eröffnet den jungen Musikerinnen und Musikern neue Perspektiven für ihre zukünftige Arbeit. Das Projekt, das in diesem Jahr vom 17. bis 20. März abgehalten wurde, findet traditionell an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin statt, der Deutsche Musikrat fungiert als Kooperationspartner.

Von insgesamt 190 internationalen Bewerbern bekamen dreizehn junge Talente das Privileg, an drei Tagen mit dem „Kritischen Orchester“ zu arbeiten. Dieses ebenso ehrenamtliche wie illustre Ensemble unter der künstlerischen Leitung von Prof. Lothar Strauß, erster Konzertmeister der Staatskapelle Berlin, setzt sich aus Instrumentalmusikern führender deutscher Orchester zusammen. Die Einzigartigkeit der hier geschaffenen Probensituation besteht nun darin, dass die Nachwuchsdirigierenden von den versierten Orchestermusikern während der Einstudierung ständig ein sehr offenes und kritisches Feedback erhalten. Bereits der erste Kandidat aus Lettland bekommt bei der Probe von Schuberts jugendlich-ungestümer 5. Sinfonie im wahrsten Sinne des Wortes den Spiegel vorgehalten. Irgendwie scheint die Musik unter seinen Händen nicht richtig zu zünden und das Orchester spielt eher teilnahmslos.

Mit den Instrumentalisten hat dies allerdings nichts zu tun: „Wenn Sie alles gleich dirigieren, spielen wir auch alles gleich!“, gibt ihm Lothar Strauß zu verstehen und eine Kollegin ergänzt: „Geben Sie uns eine Chance, auch andere Klänge zu produzieren.“ Und auch der zweite Kandidat der ers­ten Runde, ein junger, schlaksiger US-Amerikaner, muss sich die Frage einer Musikerin gefallen lassen, was an welcher Stelle denn nun besser gemacht werden solle? Auch bei ihm scheint die Frische und der sprühende Witz des Allegro-Kopfsatzes noch keinen angemessenen Ausdruck zu finden. Der dritte Dirigent aus Aserbaidschan bekommt zwar im nun folgenden Andante-Satz etwas mehr Intensität in die Musik hinein, doch auch bei ihm fühlen sich manche Orchestermusiker vernachlässigt. „Sie zeigen uns gar nicht wo Sie die Akzente haben wollen“, heißt es von einer Musikerin, ein anderer moniert: „Sie haben die ganze Zeit die gleiche Bewegung, da kann sich nichts entwickeln!“ Dann heißt es „Noch drei Minuten!“ und kurz darauf ist diese Probe vorbei. Dass hier niemand mit Samthandschuhen angefasst wird, macht das Projekt so wertvoll, denn von den jungen Dirigentinnen und Dirigenten geht nach einhelligem Bekunden niemand ohne Erkenntnisgewinn für die eigene Arbeit nach Hause.

Aus dem Moment heraus

Als nach der Pause dann Francesco Cagnasso aus der italienischen Schweiz am Pult steht, scheint das Kritische Orchester wie ausgewechselt. Mit viel Charisma und großen, aber nie übertriebenen Dirigiergesten entfaltet der kleine, junge Mann im tänzerischen dritten Satz ein wunderbar reiches Dynamikspektrum. Mehr noch: Mit seinen konkreten Klang- und Gestaltungsideen geht er sogleich an die interpretatorische Detailarbeit. Cagnasso gibt Hinweise zu bestimmten Streicher-Akzentuierungen („pianissimo und trockener“) und erläutert – gut gelaunt – wie er bestimmte Phrasierungen haben möchte. Ja, jetzt entsteht richtig tolle Musik! – freut man sich da innerlich als Zuhörer. „Als Dirigent“, sagt Cagnasso, „muss man immer auch die Fähigkeit haben, das zu nehmen, was gerade kommt und darauf reagieren. Da sind manchmal tolle Sachen dabei, dann ändere ich meine Meinung, denn Improvisation und Spontaneität sollte immer auch dazu gehören.“ Und so kommt Cagnasso bis ins Finale der dritten Runde.

Einen etwas anderen Ansatz hat der hochgewachsene Gaddiel Dombrowner, der sowohl in Frankreich als auch in Israel zu Hause ist. Sachlich und konzentriert, dabei jeden übertriebenen Gestus meidend, führt er das Orchester so gekonnt durch Schuberts Musik, dass es freundlich seinem Dirigat folgt und alles wunderbar aufnimmt und umsetzt. Dombrowner hat, was unschwer zu erkennen ist, schon des Öfteren mit Berufsorchestern gearbeitet; er betont, dass ihm die Arbeit mit dem Kritischen Orchester besonders viel Spaß gemacht hat und er seine Karriere zukünftig mit noch etwas mehr Selbstvertrauen verfolgen wird.

Natürlich können Dirigierende mit dem Kritischen Orchester auch ein Wechselbad von Zustimmung und Kritik erleben. So gestaltet Jakub Przybycien aus Polen den ersten Satz von Schuberts fünfter Sinfonie ausgesprochen souverän, indem er vom ersten Moment an schöne Ideen für melodische Phrasierungen und Akzente anbringt, dynamische Entwicklungen voraussieht und ausgestaltet und schließlich mit viel Freude jede Instrumentengruppe musikalisch berücksichtigt. Schuberts jugendliches Meisterwerk sprudelt in vielen Schattierungen. Zwei Tage später, als Przybycien in der Finalrunde steht, kann er mit seinem Dirigat des 3. Satzes aus Beethovens 4. Sinfonie das Orchester allerdings kaum für sich gewinnen. Przybyciens manchmal leicht distanzierte Art wird ihm hier gleichsam zum Verhängnis, denn das von ihm geforderte sehr schnelle Tempo, das den Musikern in einem rasanten Wechselspiel ohnehin einiges abverlangt, korrespondiert nicht mit seinem zurückgenommenen Dirigat. „Wenn Sie von uns wollen, dass wir wirklich Maximum spielen, dann zeigen Sie es auch!“ – „Sie können nicht von uns 100 Prozent fordern, aber selbst nur 80 Prozent geben“, so lautet die Kritik der Musiker.

Zeigen statt sagen

Die eingeforderte Musik wirklich innerlich mitzuerleben, dabei immer auch vorausschauend zu agieren, ist freilich wichtiger Bestandteil der dirigentischen Arbeit. Will man eine Leitidee formulieren, die dieses Projekt ständig begleitet, dann die, dass ein Dirigent, eine Dirigentin im Prinzip keine Worte braucht. Die Aufforderung „Sie können uns das, was sie sagen, ebenso gut zeigen!“, war von den Orchestermusikern immer wieder zu vernehmen. Freilich ergeben sich dann in der Praxis vielfältige Probleme: Ist ein Metrum erst einmal gesetzt, muss es häufig nicht weiter angegeben werden, die genaue Phrasierung von melodischen Linien hingegen wollen Orchestermusiker durchaus oft angezeigt bekommen. Und selbst feinste dynamische Abstufungen lassen sich durch den befähigten Dirigenten genau darstellen. „Ich erwarte von einem Dirigenten“, erläutert der Geiger Daniel Schad, „dass er mich auf Händen trägt und alles anzeigt – egal in welche Richtung es geht.“ Ein Dirigat, das im vollen Einklang mit der Musik stehe, so Schad, erzeuge einen „Flow“, der dazu führe, dass alle voll und ganz in der Musik drin seien „und das finde ich am Schönsten“. 

Die beiden südkoreanischen Dirigentinnen Rira Kim und Sukjong Kim, die in Berlin beziehungsweise Hamburg studieren, schaffen es in die 2., Sukjong sogar in die 3. Finalrunde, wobei ihr jeweiliges Dirigat unterschiedlicher kaum sein könnte. Mit viel Leidenschaft und fast überbordender Energie befeuert Rira die Musiker. Sie hat viele gute Interpretationsideen, die bereitwillig und mit viel Spiellust übernommen werden. Doch ein wenig steht sie sich selbst im Weg, nämlich dann, wenn ihr Enthusiasmus dazu führt, dass eine manchmal übertriebene Gestik nicht immer mit einer wirklich plausiblen Klanggestaltung einhergeht. „Meine Freunde nennen mich ‚korenaischer Vulkan‘“, sagt Rira scherzhaft und gesteht, dass sie sich zukünftig in ihrem Dirigat ein bisschen zurücknehmen möchte.

Sukjong Kim hingegen versteht es, ihre Energie mehr zu zügeln und setzt diese in ein erstaunliches Arbeitstempo um. Von ihr lassen sich die Musiker augenscheinlich gerne striezen, ohne dabei Spaß und Spielfreude zu verlieren, denn bei Schubert kommt die ganze Verspieltheit seiner originellen Musik wunderbar zum Ausdruck. In Beet­hovens 4. Sinfonie wiederum gelingt ihr ein sehr differenziertes und präzises Dirigat. Der vorwärtsdrängende Gestus, die vielen Akzente und plötzlichen Änderungen der Dynamik sowie das stete Wechselspiel der Solisten, deren Phrasierung sie stets gestisch ausformt, fügen sich wunderbar zu einem Ganzen.

„Grundsätzlich mache ich mir keine Sorgen um den Nachwuchs“, bekennt Lothar Strauß, „denn vielen Dirigierenden, die wir hier erlebt haben, traue ich zu, mit dem Dirigentenstab in der Hand aus ihrem Leben etwas zu machen“.

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