Ende April war in der und um die Hamburger Kampnagel-Fabrik wieder einmal Klangfest-Zeit. Frei nach dem altbewährten Motto „aufregend anders!“ ist es den Verantwortlichen auch dieses Jahr gelungen, mit neun internationalen Produktionen in über 30 Aufführungen eine anregende Mischung an altersspezifischen und generationenverbindenden Konzerten, freieren Open-Air-Formaten sowie musikalischen Indoor- und Outdoor-Stationen zum Ausprobieren von akustischen und digitalen Musikinstrumenten und Klanginstallationen zu kreieren. Der folgende Bericht ist in Gemeinschaftsarbeit mit zwei jungen Damen, Carolin (16) und Valerie (14) entstanden. Beide waren bereits selbst als Babys und Kleinkinder Gäste des Hamburger Klangfests und können das Geschehen aus einer nahezu lebenslangen Perspektive beurteilten.

Illustration zu „Bajara“ von Carolin Stiller
Atmosphärisch verzaubernd

Illustration zu „La Poétique de l‘instable“ von Valerie Stiller
La Poétique de l’instable
„La Poétique de l’instable“ oder auch „Die Poesie des Instabilen“ spricht laut Programmheft Menschen von 6 bis 99 an und widmet sich thematisch zahlreichen Überraschungen des täglichen Lebens. Zwei Tänzer und eine ebenso tänzerisch agierende Violinistin bilden das französische Künstlerkollektiv. Mit ihrer im besten Wortsinn einzigartigen Performance gehen die Drei davon aus, dass ständige Stabilität im Leben schnell in Langeweile und Passivität umschlagen kann. Um dies zu vermeiden, bestechen die Künstler:innen durch interaktive Akrobatik mit und zu Musik. Den zentralen Bühnenmittelpunkt ihrer Show bildet eine kunstvolle Stahlkonstruktion, welche sich je nach Situation und thematischem Kontext mitunter klang- und geräuschvoll von einer Garderobe über eine Wippe zu einem Ausruhplatz, einem Schrank, einem Gläserregal, einem Lampenständer et cetera verwandelt. Von Szene zu Szene loten die drei Künstler:innen ihre maximalen Extreme zwischen Balance und Dysbalance aus und entscheiden sich tänzerisch immer wieder neu für Wege des Ungleichgewichts, welches durch Tanz, Bewegung, einen Stoß oder ein inszeniertes Unglück entstehen kann. Gemeinsam verdeutlichen sie, wie schön es ist, Altbekanntes hinter sich zu lassen, Grenzen in Richtung Publikum sensibel auszuloten und selbst nach immer neuen Abenteuern im Leben zu suchen.
Ramkoers
Die niederländische Gruppe „BOT“ wirbt im Programmheft des Klangfests mit „Ramkoers“, einer „Performance auf Kollisionskurs, die man nicht so schnell vergessen wird“. Dem ist nichts hinzuzufügen. Allein das Aufführungsformat auf der größten Bühne der Kampnagel-Fabrik bildet eine verrückte Show zwischen Konzert, Event, Abenteuer, Trash, Traditionals, Kleinkunst, Sport, Folk und vielem anderen mehr. Auch die Aufforderung an das 6- bis 99-jährige Publikum, für eine Stunde alle Komfortzonen traditioneller Konzertkulturen zu verlassen und sich stattdessen auf klapperndes Eisen, schreiende Fallrohre, ein Rhönrad, wilde Stahlkonstruktionen und reichlich rostige Fässer einzulassen, könnte präziser formuliert nicht sein. Dass heutzutage wohl kaum ein Ensemble mehr ohne Techniker:in auskommt, ist weitestgehend Standard, dass neben den vier Musikern von BOT jedoch gleich ein mehrköpfiges Team an virtuos agierenden Bühnenarbeiter:innen während der Show für Umbauten und technischen Support benötigt wird, ist in der Konzertszene für junges Publikum wohl noch ein Novum. Von einem leeren Feld entwickelt sich die Bühnenfläche im Laufe der Veranstaltung zu einer einzigartigen Mischung aus Spiel- und Schrottplatz, der gleichzeitig Kulisse wie Aktionsort ist, und auf dem alles zu klingendem Leben erweckt wird, was klappert, klingelt, klimpert, und kracht. Den vier niederländischen Musikern und Performern sei höchster Respekt gezollt, wie sie es konditionell schaffen, gleich mehrere dieser enorm kräftezehrenden Shows an nur zwei Tagen darzubieten.

Illustration zu „Bajara“ von Carolin Stiller
Bajara
Das Stück Bajara ist eine hauseigene Eigenproduktion von KinderKinder für Menschen von 5 bis 99. „Eine fantasievolle Reise, erzählt mit Tanz, Handschattenkunst, Live-Musik und immersiven Videos“, so steht es im Programmheft. Nicht ansatzweise kann der geschriebene Text vermuten lassen, welch gleichermaßen vollkommene wie konzentrationsstarke und interdisziplinäre Bühnenkunst sich dem Publikum bei „Bajara“ bietet. Kulturelle Vielfalt zwischen Hamburg und dem bengalischen Kolkata, trubelig projiziertes indisches Stadtleben im Wechsel mit weiten Naturlandschaften, wirre Stimmen und flirrende Naturfarben, das ist grob gesagt die außermusikalische Thematik. Gestaltet wird diese von mehreren Protagonist:innen, die in dieser Konstellation gemeinsam wohl ein einzigartiges Künstler-Kollektiv bilden: ein Kammer-Ensemble mit traditionellen indischen Instrumenten, ein dunkel gekleideter Tänzer, der zum Film und vor der Leinwand zahlreiche Szenen als Wesen zwischen Mensch und Tier performt und nicht zuletzt ein in Hamburg aufgewachsener Handschattenkünstler indischer Herkunft, der das junge Publikum mithilfe seiner Erzählungen mitnimmt in seine Kindheit auf seine ersten Familienbesuche nach Indien. Ab und an entzieht er sich den Geräuschen der Großstadt, und mithilfe seiner Handschattenkünste erwachen die Eindrücke in seinem Inneren zu immer neuem Leben. Die hohe Komplexität des künstlerischen Geschehens kann mithilfe der Bildabfolge hoffentlich ein wenig erahnt werden.
Kettenreaktionen
„backstage music“ für alle von 5 bis 99 hat sich über die klangfest-Jahre als Konzept für Familien mit Kindern unterschiedlichen Alters bewährt. Innerhalb von knapp eineinhalb Stunden findet im Wortsinn backstage ein geführter Rundgang über das Kampnagel-Gelände statt, bei dem neben der Besichtigung eines großen Hinterbühnen-Bereichs mit moderner Bühnen- und Theatertechnik drei kurzformatige Konzerte in Proben- und kleineren Veranstaltungsräumen besucht werden. Dieses Jahr wurden die drei Kurzkonzerte unter dem Titel „Kettenreaktionen“ von Mitgliedern des Decoder-Ensembles für Neue Musik gestaltet.
Darum herum …
Im Foyer und vor dem Kampnagel-Gebäude war in altbewährter Form Michael Bradke mit seinen Klangskulpturen vertreten. Auch die Open-Air-Bühne in Form eines nostalgisch anmutenden, heimeligen und an einer Seite offenen Wohnwagens bot schon beim Betreten des Kampnagel-Geländes durch unterschiedliche Besetzungen verschiedener kleiner Ensembles aus dem norddeutschen Raum musikalische Abwechslung zwischen Pop, Klezmer, Jazz und Gipsy.
Wer das Klangfest schon des Öfteren besucht hat, freut sich über das bewährte Gesamtformat, das sich selbst wunderbar treu bleibt. Wer zum ersten Mal dabei ist, genießt die Programmdichte, welche hier nur in Ausschnitten aufgezeigt werden kann.
Bei aller Programmvielfalt, Virtuosität und Verschiedenheit lässt sich feststellen, dass sämtliche Beiträge in hohem Maße von der enormen Spielfreude jede:r einzelne:n Künstler:in selbst geprägt sind. Hierin liegt das Geheimnis für die hohe Qualität, die unmittelbar und spürbar zum Ausdruck kommt, das Publikum in ihren Bann zieht und es atmosphärisch regelrecht verzaubert.
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