„Wenn alles frei ist, um welche Tonart geht es dann eigentlich?“, fragte sich Martin Machovits, Fagottist des Radio-Symphoniorchesters Wien zu Beginn des Projekts „raum macht musik. Bewegliche Zugehörigkeiten“, dessen Ergebnisse im Juni im Rahmen des österreichweiten Aktionstages „Orchester für alle“ im Radiokulturhaus in Wien vorgestellt wurden.
Sein Orchester entschied sich dabei für ein improvisatorisch aufgebautes partizipatives Projekt für zwei Gruppen aus Musikern des Orchesters, Profis und Laien aus dem Mittleren Osten und aus Österreich: Studierende trafen auf Sozialarbeiter, Geflüchtete aus dem Irak und Syrien auf Wiener mit und ohne Migrationshintergrund, Hobby- auf Orchestermusiker und Dur-Moll-Tonalität auf das arabische Makam-System. Der Fagottist Martin Machovits fand sich in einem dieser beiden Projekt-Ensembles wieder, das ihm musikalisch eine neue Welt öffnete: „Ich habe wahnsinnig viel profitiert in diesen zwei Wochen! Als Orchestermusiker wäre ich ohne das Projekt nicht in der Lage, ganz frei arabische Musik zu improvisieren.“
Als Master-Mind des Projekts fungiert Annemarie Mitterbäck, Musikvermittlerin mit breitem institutionellem Erfahrungshintergrund geprägt durch Zukunft@BPhil der Berliner Philharmoniker und Jeunesse Österreich. Mittlerweile arbeitet sie als freie Konzeptentwicklerin vorzugsweise daran, transkulturelle Räume zu erschaffen, in denen ein frei fließendes Geben und Nehmen zwischen den Kulturen ästhetisch möglich wird.
Wie Menschen mit individuellem Migrationshintergrund am Kulturgeschehen einer Stadt oder einer Region teilhaben können, beschäftigt Künstler, Vermittler, Kuratoren und Kulturmanager nicht erst seit den großen Flüchtlingsbewegungen der jüngsten Vergangenheit. Spätestens seit den 1990er- Jahren beginnt eine immer stärkere Diversifizierung der Bevölkerung in Europa, die nur mehr wenig mit der von Arbeitsmigration geprägten Gesellschaft davor zu tun hat. Immer schwieriger wird es, einzelne Gruppen auf deren nationale Herkunft zu beziehen, weil sich religiöse, soziale und politische Orientierungen weiter ausdifferenzieren und soziale Milieus wesentlich wichtiger werden. Der Soziologe und Kulturmanager Lutz Liffers spitzt zu: „Eine junge Frau aus dem Performermilieu, deren Großeltern vor 60 Jahren aus Izmir nach Stuttgart eingewandert waren, steht in Lebensstil und Wertevorstellung diesem ursprünglichen, traditionellen Arbeitermilieu der türkischen Gastarbeiter heute distanzierter gegenüber als ein deutscher Betriebsrat.“ (In: B. Mandel, Hg.: Teilhabeorientierte Kulturvermittlung, Bielefeld 2016, S. 249) Er tritt für ein Konzept der „Urban Citizenship“ ein, das zwar vom ungleichen Zugang zu sozialen Rechten, Ressourcen und kultureller Teilhabe ausgeht, aber gleichzeitig in deren Überwindung die Möglichkeit zum Aufbau einer modernen urbanen Zivilgesellschaft sieht.
Urban Citizenship
Das Modell der Transkulturalität, das dem Projekt des Radio-Symphonieorchesters zugrunde liegt, beschreibt und unterstützt das Entstehen von kultureller Durchlässigkeit und Aneignung und stellt in Abrede, dass Kultur aufgrund ethnischer oder nationaler Herkunft eindeutig oder unveränderbar sein kann. Wie in einer Versuchsanordnung wurden zwei Projektensembles parallel zueinander gebaut, die die neue Wiener „Urban Citizenship“ exemplarisch abbilden sollten: Zuschreibungen von „die Geflüchteten“, „die arabischen Musiker“ oder „die Profi-Musiker“ sollten sich auflösen zugunsten zweier Ensembles, die ihre Unterschiede und Gemeinsamkeiten improvisatorisch ausloten. Gerald Resch, Komponist und einer der Workshopleiter, bringt es auf den Punkt: „Mich hat überrascht, wie groß das Bedürfnis aller war, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Ich dachte, es würde stark um Unterschiede gehen – da bist du, da bin ich. Aber im Grunde ging es darum, sich zu einigen: im Tonmaterial oder im Rhythmus, damit wir zusammen spielen konnten. Woher was oder wer kommt, ist völlig verschwommen.“
Zwei Tage vor dem öffentlichen Konzert spürt man die Anspannung bei den Proben der beiden Ensembles. Unterschiedliche Menschen haben unterschiedliche Auffassungen von Pünktlichkeit und Konzentration und ein unterschiedliches Erinnerungsvermögen an künstlerische Zwischenergebnisse. Die Klarinettistin und Workshop-Leiterin Mona Matbou Riahi reizt den Improvisationscharakter bis zuletzt aus: „Ich finde es super, was ihr gerade gespielt habt – aber können wir noch einmal ganz was Anderes probieren!“ Nun gilt es, die einzelnen Improvisationsteile in eine Gesamtdramaturgie des Konzerts zu verweben und in der Aufführung zu Vor- und Nachspielen von Kompositionen von Gerald Resch („Bossa Nova Arabica“ und „Ein Stück Land“) und MAias Alyamani („One way ticket to Damaskus) werden zu lassen – eine Gratwanderung zwischen intendiertem Aushandeln in den heterogenen Gruppen und künstlerischer Zuspitzung für die Aufführung.
Leichtigkeit und Coolness
Am Konzertabend herrscht großes Gedränge auf der Bühne des Radiokulturhauses. Die beiden Projektensembles nehmen ebenso Aufstellung wie das RSO Wien, eine Moderatorin führt durch das Geschehen und lässt zwischen den Stücken die Projektbeteiligten zu Wort kommen. Die Kompositionen von Resch und Alyamani verströmen Leichtigkeit und Coolness zugleich und verweisen auf ein entspanntes arabisches Lebensgefühl, das die täglichen Nachrichten von Krieg und Vertreibung konterkarieren. Die improvisatorischen Teile der beiden Projektensembles kommentieren, schattieren und begleiten die Kompositionen und lassen tatsächlich sowohl die Grenzen zwischen komponierter und improvisierter Musik als auch die Grenzen zwischen Profis und Liebhabern der Musik verschwimmen. Das Publikum, ebenso divers wie auf der Bühne, applaudiert begeistert und stolz! Ein neues Gefühl von Zugehörigkeit ist in diesem „dritten Raum“ tatsächlich zum Greifen nah.
Für die beobachtende Musikvermittlerin bleibt ein einziger Wunsch offen: Wie bei so vielen partizipativen Projekten liegt das Herzblut und die Energie der Projektentwickler und -leiter in der Workshop-Phase. Die Aufführung selbst nimmt auf diese Weise häufig mehr den Charakter einer Projektpräsentation an als eines Konzertes. Wie aufregend könnte es sein, die Ergebnisse für sich sprechen zu lassen und ihrer Entstehung das Geheimnis zurückzugeben, das ihrer improvisatorischen Erarbeitungsphase zugrunde liegt.
Am 14. Juni 2017 riefen die österreichischen Berufsorchester erstmalig den bundesweiten Aktionstag „Orchester für alle“ aus und präsentierten mit elf Projekten an acht Orten einen Einblick in die Arbeit und Erfolge der Musikvermittlung in Österreich. Mit ihren Projekten leisten die österreichischen Klangkörper seit vielen Jahren grundlegende Arbeit, klassische Musik und Kultur für unterschiedlichste Zielgruppen zugänglich und erfahrbar zu machen. Zu erleben waren bei dem Aktionstag Projekte der Wiener Philharmoniker, der Wiener Symphoniker, des ORF Radio-Symphonieorchesters Wien, der Volksoper Wien, des Tonkünstler-Orchesters Niederösterreich, der Bühne Baden, des Bruckner Orchesters Linz, des Mozarteumorchesters Salzburg, des Tiroler Symphonieorchesters Innsbruck, des Symphonieorchesters Vorarlberg und des Grazer Philharmonischen Orchesters.