Staunen, etwas Schönes und Großes erleben, unerwartete Wendungen im Unbekannten erforschen, Dissonanzen zwischen den Wahrheiten nachgehen und aushalten – all das gehört nicht nur zum Wesen ästhetischer Wahrnehmungsweisen, sondern zu allen kindlichen Selbst- und Weltzugängen.
Im Staunen sieht Aristoteles den Beginn des Philosophierens. Sollten wir daher nicht alle diese oft als „kindlich“ umschriebene Neugier in uns tragen, die im gläubigen oder ungläubigen Staunen zum Ausdruck kommen möchte? Im 17. Jahrhundert hat Descartes dieses Staunen noch als eine höchst negative Verwirrung des Gemüts beschrieben, die nur mit geistiger Anstrengung überwunden werden könne. Und wenn nun mit den internen Standards einer aufgeklärt empirischen Sozialforschung der Blick auf Schule geworfen wird, dann werden basale Kompetenzen ausschließlich in solchen verwunderungsfreien Zonen ausgemacht und untersucht. Deutlich wurde dies bereits am Gutachten „Basale Kompetenzen vermitteln – Bildungschancen sichern“ der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz. Künstlerische Weltzugänge, ästhetische Erfahrungen, die Affektion des Gemüts, all das, was die schöne Seele leistet, gehören hier nicht zu dem, was den Menschen zum Menschen macht, von Musik ist in diesem Papier ohnehin nicht die Rede. Und wenn nun die aktuellen Ergebnisse der neuesten IGLU-Studie wieder einmal bestätigen, dass es an Lesekompetenzen mangelt, wird der Ruf nach weiteren Beschleunigungs- und Überholungsvorschlägen laut, um den festzustellenden Bildungsungerechtigkeiten entgegenzuwirken: Zur Disposition steht der Englisch-Unterricht, weil er dem lebensnotwendigen Kerngeschäft „Lesen“ die nötige Lernzeit raubt. Schuld sei die Digitalisierung, weil Kinder, die mit dem Handy statt mit Büchern aufwachsen, schlechter lesen. Natürlich lassen sich hier auch die Herausforderungen einer Migrationsgesellschaft ins Feld führen, gerade wenn es um das Beherrschen der Sprache geht. Kinderbücher gibt es jedoch auch in anderen Sprachen. Wichtig ist, dass überhaupt gelesen wird. Einen ohnehin nur homöopathisch dosierten Musikunterricht hier in Frage zu stellen, würde keine lohnenden Ressourcen bereitstellen, zumal dieser ohnehin bereits ausfällt oder sich in Lernliedern dienlich verzweckt hat: Hier erwägt die Melodie in ihrer Hast der Arbeit keinen Umweg mehr, selbst Musik wird zum Monotonen, verkommt zum Rechnen.
Wer in solch einer Schule das Staunen verlernt hat, der wird auch in seinem späteren Leben keine Verwunderungsübungen mehr zulassen. Die nun eingehenden Reaktionen und Empfehlungen mögen dabei kaum überraschen, wenn diejenigen Wächter, die nun kritisch Bilanz ziehen, sich an den Normen ihrer eigenen Forschungsparadigmen und an denen des zu untersuchenden Betriebes orientieren. Wer hier nur Antworten gibt, aber keine grundlegenden Fragen stellt, der kann einzig die Rezepturen und Dosierungen ändern, um dann im eigenen Tun zu ersticken. Letztlich tun wir alle so, als ginge es in der Schule wie auf dem Kapitalmarkt einzig darum, „short cutted money“ zu machen.
Nun ließen sich im Gegenzug wieder einmal Friedrich Schillers Briefe zur ästhetischen Erziehung anrufen, der das „Spiel“ so anthropologisch hochwertig einschätzte und sich damit als Gewährsmann für eine mit Hashtag formatierte und so populär daherkommende Forderung wie „Mehr Musik in der Schule“ einsetzen ließe. Solche Kurzschlüsse, die sich in der politischen Forderung begnügen, neue Verhaltensoptionen den alten an die Seite zu stellen, können jedoch nicht zu den von Schiller bezeugten Glücksmomenten führen, wo der Mensch wieder ganz Mensch sein dürfe. Will man aus den selbstauferlegten Zwängen aussteigen, gilt es zunächst, das eigentliche Problem zu erkennen. Für Peter Sloterdijk artikuliert sich dieses in der Preisgabe eines „humanistischen und musischen Überschusses, um sich einem mehr oder weniger entgeisterten Betrieb pseudowissenschaftlich fundierter didaktischer Routinen zu widmen“. Die Verheißungen der Musik könnten uns also zu noch ganz anderen Wirksamkeiten der Kunst führen, würde sich die Schule noch als ein solcher Ort der Bildung verstehen. Und wenn Friedrich Nietzsche in seinen Schulreden ein „höheres organisches System“ forderte, in dem Kunst, Wissenschaft und „practische Weisheit des Lebens“ zusammenfänden, dann ist hier bereits von solch übergreifenden Argumentationslinien die Rede.
Dass wir hier nicht nur das System Schule betrachten, sondern gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen den Spiegel vorhalten müssen, dürfte bereits deutlich geworden sein. Verordnete Kreativität wird hier wie dort zur Ressource des Wachstums, bereits in der Schule werden die Kinder zum Unternehmer ihrer selbst. Wo bleibt eine Zeit der Muße, der eigenen Bildung, wo doch die durch Fortschreiten und Fortschritt versprochenen Ausblicke in die Freiheit in neuen Zwängen und Notwendigkeiten münden? Wenn wir Sloterdijk folgen und erkennen, dass wir den musischen Überschuss verloren haben, gilt das nicht nur für das hier beäugte System Schule. Längst hat eine Abkehr der sich gebildet nennenden Mittelschicht von jenen Idealen stattgefunden, die zu früheren Zeiten noch als erstrebenswert galten. Neue Wissensspeicher, Streaming-Plattformen und Mediatheken haben die Klassiker der Weltliteratur abgelöst, Bücherregale gehören längst nicht mehr zu den Insignien unserer neuen Open-Access-Kultur, die uns alles verfügbar hält, aber nichts durchdringen lässt. Wo finden wir heute noch jene Momente, die uns in die Dinge vertiefen lassen, um in solch schöpferischer Ruhe die Menschen zum Staunen zu bringen? Wenn sich nun Kinder und Jugendliche den Verlockungen neuer Medien ergeben, dann ist dies ein Ergebnis jener beschleunigenden Maßnahmen, die wir ihnen im System Schule auferlegen, und auch Teil unserer eigenen Wisch-und-Weg-Gesellschaft.
Letztlich geht es um mehr, als den Marginalisierungen von Kunst und Musik in der Schule wie in unserer Gesellschaft entgegenzuwirken. Es geht um das von Nietzsche beschworene „höhere System“, um Kunst, Wissenschaft und praktische Weisheit des Lebens zusammenzuführen.