Anwendungsbezogenes Klavierspiel in seinen vielfältigen Ausformungen ist zentraler Bestandteil eines künstlerisch-praktischen Anforderungsprofils sämtlicher Musiklehrender, seien es Chorleiterinnen, Instrumental- und Gesangspädagogen oder Musiklehrende an Schulen. Die erfolgreiche Umsetzung erforderlicher kontextspezifischer klavierpraktischer Kompetenzen basiert im Besonderen auf der Beherrschung spezieller spieltechnischer, improvisatorischer und stilistischer Fertigkeiten wie etwa der Abrufbarkeit gängiger Begleitmodelle und umfangreicher Stilkenntnis.
Die komplexen Anforderungen an ein qualitativ hochwertiges und künstlerisch anspruchsvolles Klavierspiel in der Chorpraxis oder im Musikunterricht stehen jedoch häufig im Widerspruch zum „Nebenfachcharakter“ der klavierpraktischen Kompetenzen in den meisten Ausbildungskonzeptionen, curricular in der Regel auf eine entsprechende Lehrveranstaltung (zum Beispiel Klavierpraktikum, Schulpraktische Klavierspiel oder praxisorientiertes Klavierspiel) reduziert, anhaftet. Viele Musiklehrende stehen in unterschiedlichen vokalen Praxisfeldern, sei es das Singen im Rahmen schulischen Musikunterrichts, sei es im Rahmen diverser Schul- oder sonstiger Laienchöre. In sämtlichen chorbezogenen Bereichen sind klavierpraktische Kompetenzen hilfreich oder notwendig. In der Kinderchorleitung ist es häufig auch möglich, sich mit anderen Begleitinstrumenten zu behelfen. Diese sind jedoch in ihren Möglichkeiten dem Klavier meist unterlegen. Daher ist der Erwerb klavierpraktischer Kompetenzen auch Bestandteil sämtlicher musikbezogener Hochschulstudiengänge sowie zum Teil auch in Ausbildungslehrgängen für Chorleitende.
Doch was kennzeichnet ein qualitativ hochwertiges und künstlerisch anspruchsvolles, chorpraxisbezogenes Klavierspiel? Der Qualitätsbegriff ist ambivalent. Er beschreibt zum einen die Beschaffenheit von etwas (vgl. Zollondz 2002, S. 9) und zum anderen die Bewertung dieser Beschaffenheit (vgl. Heid 2000, S. 41). Gespräche mit Dozenten verschiedener Hochschulen zeigen, dass bezüglich der Inhalte anwendungsbezogenen Klavierspiels beispielsweise im Rahmen eines Instrumental- und Gesangspädagogikstudiums kaum Konsens herrscht. Ferner ist der Qualitätsbegriff relativ, weil die Bewertung von Qualität immer auch davon abhängig ist, wer die Qualitätsfrage stellt und aus welcher Perspektive Qualität beurteilt wird? So dürften zum Beispiel Jazzmusiker und Kirchenmusiker unterschiedliche Ansichten darüber haben, was als qualitativ hochwertig und künstlerisch anspruchsvoll bewertet wird. In diesem Beitrag betrachte ich Qualität vor allem aus der Perspektive einer Dozentin für Kinderchorleitung und Kinderstimmbildung.
Beobachtungen in der Praxis
Natürlich begleitet mich dabei stets auch meine Sicht als ehemalige Musiklehrerin an Grund- und Musikschulen sowie meine derzeitige Tätigkeit als Professorin für Instrumental- und Gesangspädagogik. Folgendes Szenario wiederholt sich semesterweise in den einzelnen Chorproben sowie in Modul- oder Abschlussprüfungen der Lehrpraxis Gesang ebenso wie in der Lehrpraxis Kinderchorleitung: Das Klavier als absoluter Risikofaktor wird von den Studierenden (häufig Bachelorstudierende der Elementaren Musikpädagogik, der Instrumental- und Gesangspädagogik oder Masterstudierende im Fach Chorleitung mit Schwerpunkt Kinderchorleitung), welche kein Tas-teninstrument als Hauptinstrument haben, tunlichst gemieden. Bei der Liedbegleitung der Kinderchorlieder (frei nach Akkorden oder selbst harmonisiert) wird, wenn überhaupt, oft fehlerhaft und häufig zu laut begleitet, so dass die Kinderstimmen klanglich überdeckt werden. Manchmal sind Studierende so unsicher, dass sie die Kinder irritieren, da es zu rhythmischen und harmonischen Ungenauigkeiten bei der Begleitung kommt. Zudem fließt oft die gesamte Aufmerksamkeit der Studierenden auf das eigene Klavierspiel und nicht auf die Darbietung des Chores. Auch wenn die Studierenden das sehr humorvoll auffangen, stellt sich mir in diesen Momenten immer die Frage, warum das bei einer vorbereitbaren Begleitung regelmäßig und bei mehreren Studierenden vorkommt. Bestenfalls werden einfache Liedbegleitungen beherrscht, die bedarfsorientiert angewendet werden. Noch problematischer wird es bei ausnotierten Begleitungen wie beispielsweise Stücken von John Rutter oder dem berühmten „Schwes-terlein“ von Johannes Brahms. Es ist hörbar, dass die Studierenden bemüht waren, diese Begleitungen einzuüben. Dennoch gelingt es häufig nicht zufriedenstellend. Eine eigene, freie Begleitung wird offenbar nicht in Erwägung gezogen und die vorgenommenen Vereinfachungen scheinen nicht hinreichend.
Um anwendungsbezogene Aspekte des Klavierspiels aus chorpädagogischer Perspektive zu erörtern, ist es hilfreich, sich die Funktionen des Klavierspiels in Chorproben zu verdeutlichen: Das Klavier dient der stimmlichen Entlastung der Chorleitenden. Es ermöglicht die klangliche Demonstration der Chorstimmen in Originallage. Mit dem Klavier kann dem Chor ein künstlerischer Eindruck des Stückes vermittelt werden und der Chor kann, wenn er noch unsicher ist, klanglich unterstützt werden. Dies betrifft harmonische, rhythmische oder intonatorische Aspekte. Zudem kann das harmonische Geschehen verdeutlicht und herausgehoben werden. Häufig ist das Klavier ein zuverlässiges Korrektiv bezüglich Intonation, beispielsweise wenn Töne mithilfe des Klaviers angegeben wurden und der Chor die ursprünglich angegebene Tonhöhe verliert.
Die genannten Funktionen lassen sich in zwei Kategorien einteilen. Zum einen ist das Klavier ein Werkzeug zur Vor- und Nachbereitung sowie zur Durchführung von Chorproben, zum anderen ist es der künstlerische Partner des Chores, nämlich dann, wenn der Chor zusammen mit dem Klavier musiziert. Letzteres ist aber in den Chorproben eher untergeordnet und meist erst am Ende einer Einstudierungsphase der Fall. Ebenso ist zu bedenken, dass bei Auftritten der Chorleitende meistens nicht am Klavier ist, um den Chor zu begleiten. Alle genannten Funktionen lassen sich, mit Ausnahme der „Vermittlung eines künstlerischen Eindrucks“, der Funktion „Klavier als Werkzeug“ zuordnen. Beim einstimmigen Singen mit Kindern hat das Klavier meistens folgende Funktionen: Es dient als Melodiestütze, ermöglicht niederschwellig die Erfahrung von Mehrstimmigkeit und Harmonik und lässt somit eine erweiterte Klangmöglichkeit zu, welche die des einstimmigen Gesangs von Kinderstimmen in gleicher Lage ergänzt. Die Atmosphäre eines Kinderliedes und dessen musikalischer Charakter lassen sich verdeutlichen, ferner wird das Klavier zur musikalischen Begleitung von Bewegungsspielen benötigt oder es lassen sich Zwischen-, Vor- und Nachspiele zu den Chorliedern ergänzen. Improvisatorische Fertigkeiten sind daher wünschenswert. Klavierpraktische Kompetenzen bei Kinderchorleitenden zahlen sich also aus – denn sie dienen neben allen handwerklichen Aspekten auch dem ästhetischen Erleben der Musik im Rahmen von Chorpraxis.
Betrachtung der Curricula
Eine Betrachtung der Curricula verschiedener Universitäten und Musikhochschulen zeigt, dass vor allem solistisches Spiel, Partiturspiel oder bei Chorleitungsstudierenden zusätzlich Korrepetition unterrichtet wird. Diese Reduktion ist im Hinblick auf die anwendungsbezogenen Erfordernisse für Chorleitende von Laienchören wenig nachvollziehbar. Es wäre aus meiner Sicht wünschenswert, wenn mehr Augenmerk auf pragmatische, probentechnische Aspekte gelegt würde und weniger auf Literaturspiel und künstlerische Perfektion, welche von den Nicht-Pianisten unter den Studierenden ohnehin nicht ansatzweise erreicht wird. Wichtiger wären Übungen zur Koordination von Stimme, Dirigat und Klavier, strikte Reduktionen der Chorpartitur auf das harmonische Gerüst. Für Chorsingende ist es häufig sehr viel hilfreicher, die Einzelstimmen im harmonischen Zusammenhang am Klavier zu hören, als die komplexe Partitur. Anwendungsbezogenes Klavierspiel heißt auch, dass Chorleitende befähigt werden, spezifische Herausforderungen der jeweiligen Chorpartitur zu erkennen und am Klavier andeuten zu können, beispielsweise komplizierte Einsätze, Tonsprünge, rhythmische Herausforderungen und generell schwere Stellen, denn das exakte Abspielen des Chorsatzes ist in Chorproben selten notwendig oder hilfreich.
Vielleicht sollte sich ein praxisorientierter, anwendungsbezogener Klavierunterricht von der Frage, „wie stütze ich den Chor ohne ihn klanglich abzudecken“ und von der Formel „so viel wie nötig, so wenig wie möglich“ leiten lassen. Vielleicht wäre weniger Literaturspiel, dafür mehr Improvisation angemessen. In jedem Fall benötigen Studierende und angehende Chorleitende Übetechniken für die genannten, chorrelevanten klavierbezogenen Kompetenzen.
Verwendete Literatur:
- Heid, H. (2000): Qualität. Überlegungen zur Begründung einer pädagogischen Beurteilungskategorie. In: Helmke, A. et al. (Hg.): Qualität und Qualitätssicherung im Bildungsbereich: Schule, Sozialpädagogik, Hochschule. Zeitschrift für Pädagogik (41). Weinheim und Basel: Beltz, S. 41–51.
- Zollondz, H.-D. (2002): Grundlagen Qualitätsmanagement. Einführung in Geschichte, Begriffe, Systeme und Konzepte. München: Oldenbourg.
Diese Überlegungen wurden von der Autorin im Rahmen eines Vortrags beim Internationalen Symposium „Klavierpraxis im Fokus des modernen Musikunterrichts“ der Universität Mozarteum Salzburg, Department für Musikpädagogik Innsbruck vom 9. bis 10. November 2017 vorgestellt und diskutiert (www.klavierpraxis.at).