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Soziale Präsenz im Hier und Jetzt: BMU-Kongress 2018. Foto: BMU
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Im flackernden Puls der Zeit

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Ein schulischer Blick auf den 4. Bundeskongress Musikunterricht in Hannover
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Ein Kongress-Motto soll neugierig machen und einladend wirken, aber auch einen inhaltlichen Schwerpunkt setzen. Hieß es vor zwei Jahren in Kob­lenz noch nachdenklich „Musik erleben – Musik reflektieren“, so jetzt in Hannover weltzugewandt „Im Puls der Zeit – Bildung, Musik, Kultur“. Auf Plakat, Flyer und Programmheft sind dazu eine Gitarre, eine Djembétrommel, ein Notenständer mit der aufgeschlagenen Partitur eines Mendelssohn-Streichquartetts, ein Kopfhörer und zwei Audio-Piktogramme abgebildet – allesamt Koordinaten musikpädagogischer Vielfalt. Doch darüber legt sich eine große EKG-Kurve. Die wirft Fragen auf: Wie schlägt der Puls der Zeit? Und wie der des Musikunterrichts? Ist der Musikunterricht gar der Patient, dem man den Puls fühlen muss? Und wenn ja, wie sind die Überlebenschancen?

Die Zeit des unbeschwerten Musizierens ist anscheinend vorbei. Konzepte sind gefragt, und zuvor noch: Diagnosen. Ein Gefühl von Krise prägt diesen 4. BMU-Bundeskongress. Immerhin scheint sich nach der Totalabstinenz der Bildungspolitik in Koblenz das Blatt gewendet zu haben: Ministerpräsident Stephan Weil hat die Schirmherrschaft. Kultusminister Grant Hendrick Tonne (SPD) lässt sich zur Eröffnung interviewen und bekennt sich zum Fach Musik als Bestandteil des Fächerkanons. Es tagt sogar ein Arbeitskreis der Musikbeauftragten in den Kultusministerien. Wie stark das Fach gefordert ist, zeigt die Vielzahl der Podien. Auf der Agenda stehen das Kongressmotto selbst (mit einem Schwerpunkt auf Digitalisierung), das angestrebte Gesamtkonzept musikalischer Bildung (im Anschluss an die 2016 verabschiedete „Agenda 2030“ des BMU), die Inklusion, die musikalische Arbeit mit geflüchteten Menschen, die Professionalisierung der Lehrerausbildung und die Szenische Interpretation. An wie vielen „Baustellen“ kann ein Verband gleichzeitig arbeiten, an wie vielen ein Ausbilder, an wie vielen die einzelne, manchmal einzige Lehrkraft an einer Schule?

Mühsame Selbstbehauptung

Knapp 30 Personen nur kommen zum Podium „Gesamtkonzept Musikalische Bildung“. Es schleppt sich lange müde dahin. Es geht um Institutionen und Prozeduren, man spürt das mühselige Geschäft der Verbandsarbeit. Ins Publikum kommt erst Leben, als Ulrich Rademacher, Vorsitzender des Verbandes deutscher Musikschulen, seine Problemliste verliest: Es fehlt dem Unterricht an Zeiten und Räumen. Mühsam ist die Selbstbehauptung gegen den Druck der MINT-Fächer. Die Qualifikation von Seiten- und Quereinsteigern ist problematisch. An Hochschulen werden Stellen gestrichen. Im ländlichen Raum fehlt die Infrastruktur für die Digitalisierung. Außerschulische Leistungen werden nicht genügend anerkannt. Der Besuch einer Musikschule hängt von den Finanzen der Eltern ab. – Die Liste lässt sich verlängern: Woher soll Musiklehrer-Nachwuchs kommen, wenn die Belastung an den Schulen steigt, das Sozialprestige des Berufs weiter sinkt und die Existenz des Faches auf der Kippe steht? Rademacher schlägt „eine Allianz zwischen den PISA-Verlierern Musik und Sport“ vor. Martin Maria Krüger, Präsident des Deutschen Musikrats, warnt vor dem kommenden Staatsvertrag zwischen Bund und Ländern, man müsse aufpassen, „dass Musik nicht hinten runterfällt“. Hans Bäßler von der Föderation musikpädagogischer Verbände in Deutschland rät, präventiv über eine Zukunft nachzudenken, in der es an den Schulen keinen Musikunterricht mehr gebe, „aber trotzdem ganz viel Musik“.

Deutlich besser besucht und lebendiger ist das Podium „Am Puls der Zeit“. In den Vordergrund schiebt sich immer wieder die Digitalisierung – einerseits selbstverständliche Alltagserscheinung, andererseits bildungspolitischer Fetisch. Zwischen beiden Polen laviert der Musikunterricht. Viele Aussagen vom Podium sind ernüchternd. Geht es darum, geeignete technische Mittel für den Musikunterricht zu finden, oder ist der Unterricht Zulieferer für neueste technische Entwicklungen? Ludger Rehm, Fachleiter in Niedersachsen, sieht die didaktische Entwicklung gegenüber der technischen um bald 30 Jahre in Rückstand. Philipp Ahner, Professor für Musikdidaktik in Trossingen, verweist darauf, wie viel Musik heute auf digitalem Weg produziert werde und wie viele sinnvolle Anwendungen es mittlerweile gebe. Aber wie sollen sich diese Anwendungen durchsetzen, wenn die Produktzyklen nur drei bis fünf Jahre betragen, es zu wenige Fortbildungen gibt, Schulleitungen die Teilnahme an diesen dann nicht gestatten, Studienseminare nicht einmal über einen WLAN-Zugang verfügen …?

Klaffende Lücken

Zwischen den großen Worten der Politik, dem Handeln der Schulverwaltungen und den Realitäten an den Schulen klaffen beachtliche Lücken. Auf dem Podium fällt das böse Wort von den „Schreibtischtätern“, und im Publikum wird einmal mehr von Whiteboards berichtet, die seit Jahren ungenutzt im Keller einer Grundschule verstauben. Kurz blitzt auch die Frage nach Internet-Abhängigkeit und Spielsucht auf. Und müsste man nicht noch weiterdenken? Wie ist damit umzugehen, dass junge Menschen mit dem Gefühl in den Unterricht kommen, das „eigentliche Leben“ finde ohnehin nicht in der analogen Welt statt, sondern in den sozialen Netzwerken? Was kann der Musikunterricht tun, um körperliche, emotionale, geistige und soziale Präsenz im Hier und Jetzt zu erzielen?

Ziemlich stark scheinen inzwischen Bereitschaft und Bedürfnis, sich Rat zu holen. Workshops zu didaktischen Fragen sind gut besucht, zum Teil überfüllt. Hans Jünger, der erfahrene Hamburger Musikdidaktiker mit gesunder Distanz zum akademischen Betrieb, nimmt in seiner Veranstaltung „Wie viel Innovation braucht das Schulfach Musik?“ ziemlich virtuos und systematisch die widersprüchlichen Erwartungen von Bildungspolitik und Hochschuldidaktik an den Musikunterricht aufs Korn, ohne allerdings die selbst gestellte Frage zufriedenstellend zu beantworten. Hilfreich im Alltag ist sicher Jüngers implizit und offen vermittelte Überzeugung, dass es die eigenen Schüler sind, denen im Unterricht die primäre Verantwortung gilt. Plausibel ist auch das Modell einer Schule, in der durch eine Kombination von Pflichtunterricht und differenzierten Wahlmöglichkeiten eine Balance zwischen Orientierung und Vertiefung entsteht. Aber braucht es keine didaktischen Weichenstellungen?

Bis auf die letzte freie Bodennische besetzt ist der Seminarraum bei Ruth Andersens und Dorothee Barths Workshop „Analyse ohne Noten“. Eingespannt zwischen den ambitionierten Zentral-Abitur-Anforderungen einiger Bundesländer und der seit Jahren diagnostizierten Theoriemüdigkeit, stellt sich die Frage nach Sinn und Methode von musikalischer Analyse inzwischen mit erhöhter Dringlichkeit. Der Impuls der Referentinnen, Musik durch Visualisierung, Bewegung und Texte zu erschließen, ihre Unterscheidung zwischen Struktur, Semantik, Emotion, Funktion und Ästhetik (das „Fünffingermodell“) und die vermittelte Überzeugung, Analyse müsse „eine Richtung, ein Ziel, einen Sinn“ haben, sind hilfreich dafür, Analyse nicht länger nach überliefertem Mus­ter als Selbstzweck zu betreiben. Irritierend ist allerdings die Ansicht, die Fähigkeit des Notenlesens sei ein dem privaten Instrumentalunterricht vorbehaltenes Privileg und könne daher selbst im Oberstufenunterricht nicht vorausgesetzt werden. Doppelt irritierend ist sie, wenn man wenig später erfährt, wie im Musikunterricht einer Grundschule im sozialen Brennpunkt Duisburg-Marxloh erfolgreich mit relativer Solmisation gearbeitet und darüber organisch die Notenschrift eingeführt wird.

Nicht nur in diesem Punkt erweist sich die vom Klavier-Festival Ruhr koordinierte Veranstaltung „Musik des 20. Jahrhunderts interaktiv entdecken“ als aufschlussreich. Wie viel verbindendes, kreatives, bildendes, welterschließendes Potenzial hat gelingender Musikunterricht! Und wirkt er damit nicht auch auf den (oft beängstigend flackernden) Puls der Zeit? Ist er wirklich nur Patient – und nicht auch potenzieller Therapeut? Es scheint an der Zeit, in der gesellschaftlichen Diskussion nicht nur die Defizite des Faches zu benennen, sondern auch seine Chancen. Oder – in den Worten eines Diskussionsteilnehmers – „eine Vision zu entwickeln.“ 

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