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Alan Lane bei seiner Keynote im Konzerthaus Dortmund. Foto: Laurie Hall

Alan Lane bei seiner Keynote im Konzerthaus Dortmund. Foto: Laurie Hall

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Ist die kritische Masse erreicht?

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Eine lebendige Szene im Aufbruch: Zur Community Music Konferenz am Konzerthaus Dortmund
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Rund 300 Stimmen aus Praxis, Forschung und Politik versammelten sich Ende August zur ersten internationalen Community Music Konferenz im Konzerthaus Dortmund, um über Werte, Wandel und Visionen zu sprechen. In Kooperation mit der Hochschule Düsseldorf, dem Community Music Netzwerk Deutschland und dem Paper Lantern Collective entstand ein vielfältiges Programm aus Workshops, Podiumsdiskussionen und Präsentationen. Die Tagung machte deutlich, wie wichtig es ist, jetzt Allianzen zu schließen.

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„Es ist etwas im Gange“, wiederholte Lee Higgins, Professor am International Center of Community Music in York. Was sich im Konzerthaus abspielte, war mehr als eine Fachkonferenz: Es war ein spürbarer Aufbruch. „Wir sind so oft Einzel­kämpfer:innen in unserem Bereich. Das hier gibt Energie!“, betonte Community Musician Jessika Köbele beim Ankommen. Seit 2013 hat das Community Music Netzwerk in Deutschland deutlich an Größe und Sichtbarkeit gewonnen. Nationale und internationale Perspektiven begegneten sich in Dortmund. „Wir konnten alle Sprecher:in­nen, die wir uns gewünscht haben, für die Konferenz gewinnen“, freute sich Marleen Kiesel, Mitbegründerin des Paper Lantern Collective.

Reger Austausch

Im Foyer des Konzerthauses verbreitete sich sofort ein Gefühl des Willkommenseins. Herzliche Umarmungen und reger Austausch prägten die Ankunft. Das Programm reichte von institutionellen Entwicklungen in Deutschland und der Schweiz über Impulse aus Großbritannien, Neuseeland, Kuba, Türkei, Uganda und Kanada bis hin zu Schnittstellen zur Musiktherapie und zu politischen Themen wie feministischer Widerstand. Die Fülle zeigte die gesellschaftliche Relevanz über den Fachkreis hinaus. Matt Robinson, ers­ter Community Musician des Konzerthauses und Mitbegründer des Paper Lantern Collective, betonte: „Alle sitzen in einem Boot und gestalten mit.“

Raphael von Hoensbroech, Intendant des Konzerthauses, eröffnete die Tagung mit Dankesworten an Alicia de Bánffy-Hall. Durch ihre Forschung, die Gründung des Community Music Netzwerks und die Gestaltung des ers­ten Community Music-Lehrstuhls in Deutschland hat sie das Feld wesentlich vorangetrieben. „Community Music sollte das nächste große Thema für Kulturinstitutionen werden“, lautete von Hoensbroechs Plädoyer. Seit 2019 verankert er Community Music strategisch am Konzerthaus.

Auf der Bühne saßen die Teilnehmenden halbkreisförmig auf Matten, Sitzkissen und Stühlen. Einige nickten bei der lebendig vorgetragenen Keynote des Theaterregisseurs Alan Lane, der mit seiner Companie „Slung Low“ während Corona eine „Food Bank“ eröffnete. Die Idee forderte dazu heraus, die Rolle von Kulturinstitutionen zu überdenken. Für Alan Lane war die Prämisse, der Community zu dienen – die Quintessenz kultureller Demokratie.

Wer sind die Menschen, die hier in Dortmund zusammentrafen? Wessen Stimmen waren noch nicht bei der Konferenz vertreten? Und, wie Alicia de Bánffy-Hall betonte, „mit wem im Raum könnte ich mich verbünden, um etwas zu bewegen?“ In einem ers­ten Podium trat Marleen Kiesel mit Akteur:innen aus Wissenschaft, Politik und Praxis in Kontakt, um den aktuellen Stand, Ziele und gesellschaftliche Potenziale zu diskutieren. De Bánffy-Hall sah einen Kipppunkt in Deutschland erreicht: Qualitätssicherung sei nun entscheidend, genauso wie die Stärkung der Vielfalt der Praxis – denn es gibt nicht die eine Form von Community Music. Antje Valentin, Generalsekretärin des Deutschen Musikrats, betonte das Ziel, Netzwerke zu bilden, auch mit dem Wirtschaftssektor. Denn sie ist überzeugt, dass Musik für die Gesellschaft wirksam ist. Sie formulierte die abschließende Frage: „Wie kann Community Music integraler Bestandteil in Musikinstitutionen werden?“ Doch Community Music ist nicht nur Diskurs, sondern auch klingende Praxis. Auch das wurde am ersten Tag im Konzerthaus spürbar.

Musik-Momente

Im Komponistenfoyer brummte ein Kontrabass. Eine Violine stieg mit einem sich wiederholenden Motiv ein. Cajon, Gitarre und Chimes kamen hinzu. Einige hörten zu und wippten zur Musik. Ben Sellers, Gründer von Transformance Music und Musiker bei Drake Music, begann eine Melodie aus drei Tönen zu singen. Er forderte mit einer Handbewegung auf, nachzusingen. Alle im Foyer ohne Instrument wiederholten im Chor. Sellers fragte eine Person nach ihrem Namen und entwickelte nach der Sprachmelodie ein absteigendes Motiv: „Jo-ha-naaa“. Er sang vor, Geigerin Elisa Beck verstärkte mit der Violine. Ein neues Namensspiel – eine Teilnehmende schlug vor: „Loo-ree-taa-tatatataa“. Wieder griff Sellers den Impuls auf, der Chor antwortete. Eine neue Komposition entstand, von und mit allen im Raum.

„Inklusion ist das Gefühl, dazuzugehören. Beginne mit dem, was die Menschen können“, so Sellers. Er gab während der Improvisation Sicherheit, ohne sich dabei selbst groß zu machen. Mit Klarheit erläuterte er, wie er in Workshops Verbundenheit und Empowerment schafft. Zum Abschluss des Workshops übergab er die Leitung der Improvisation an die Gruppe.

Nach einem langen Tag lud Romy Hink im Circle Singing zu Entspannung ein. Mit dem Song „Hey ya“ begrüßte sie die Menschen mit der Ukulele und spannte in ihrem Workshop einen theoretischen Bogen zum Nervensystem. Am letzten Abend spielte schließlich das Orchester im Treppenhaus ein persönliches Notfallkonzert mit improvisierter und klassisch-notierter Musik. Intensiver Augenkontakt und spürbares kammermusikalisches Vertrauen schafften bewegende Momente. Die Erlebnisse zeigten: Die Welten von klassischer Musik und Community Music liegen gar nicht so weit auseinander – es geht um Zuhören und Musik, die berührt und verbindet. Während in den Foyers und Probebühnen Musik entstand, zeigten die Beiträge internationaler Gäste, wie tiefgreifend Community Music Kulturinstitutionen verändern kann.

Pioniere des Wandels

Community Musicians werden oft nicht als Unternehmer:innen wahrgenommen, doch ihre Rolle bei der Infragestellung etablierter Normen ist zentral. Te Oti Rakena, live aus Neuseeland nach Dortmund zugeschaltet, bezeichnete Community Musicians als „norm entrepreneurs“. In Neuseeland sei es wichtig gewesen, indigene Perspektiven stärker in Institutionen einzubringen. Als Beispiel nannte er das Christchurch Symphony Orchestra, das Besucher:innen auf seiner Website zuerst auf Maori begrüßt und ein umfangreiches Community Music-Programm anbietet. CEO Graham Sattler, der am Folgetag die Programme des Orches­ters vorstellte, berichtete, dass inzwischen 60 Prozent der Aktivitäten des Orchesters in Communities stattfinden – lediglich 40 Prozent auf der Bühne. Diese Zahlen sorgten im Saal für ein hörbares Raunen.

Rakena betonte, dass Fragestellungen und Zielsetzungen neu gedacht werden müssen. Statt den Blick lediglich auf Publikumswachstum und Einnahmesteigerung zu richten, sollte der Schwerpunkt auf Teilhabe und Zugehörigkeit liegen: Von Fragen wie „Wie vergrößern wir unser Publikum? Was bringt mehr Einnahmen?“ hin zu „Wie stärken wir Beteiligung?“ und „Was fördert Verbundenheit?“. Seinen inspirierenden Vortrag gibt es auf dem YouTube-Channel „Community Music Learning“ zum Nachhören.

Auch Raphael von Hoensbroech, Intendant des Konzerthauses, machte deutlich: „Wir verkaufen keine Tickets. Wir wollen Menschen im Innersten bewegen.“ Doch eine Musikvermittlerin fragte im Plenum kritisch, wo eigentlich die Intendanzen der übrigen Orchester, Theater und Konzerthäuser in Deutschland seien. Eine Geigerin wunderte sich ebenfalls, warum sie die einzige Vertreterin ihrer Institution zu diesem zukunftsweisenden Thema war. Für einen strategischen Wertewandel müssen über Abteilungen hinweg alle einer Institution beteiligt sein. Dass dies nicht immer „von oben“ angestoßen wird, zeigten die Anwesenden im Raum.

Impulse aus der Praxis

Viele Präsentationen machten deutlich: Community Music ist in den Ursprüngen eine Graswurzel-Bewegung. Akteur:innen schließen sich weltweit in Kollektiven zusammen, um lokale Bedarfe und Herausforderungen anzugehen. Geigerin Mariana Hutchinson, die in den Niederlanden studierte, kehrte in ihr Heimatland Kuba zurück und stellte das Kollektiv Yukali anhand eines Baumes vor: Die Äste des Baumes repräsentierten Workshops, Trainings und Forschung. Der Baumstamm bildete den kubanischen Kontext, geprägt von starker Ausdruckskraft und extremer ökonomischer Krise, während die Wurzeln Zusammenarbeit, Inklusion, Freude, Experimentierfreude und geteilte Verantwortung darstellten. Eine Poster-Ausstellung im Foyer präsentierte elf nationale Perspektiven des Community Music Netzwerks. „Kreativ und Orchester – passt das eigentlich zusammen?“, fragte Musikvermittlerin Anne Kussmaul augenzwinkernd, als sie ihren Vortrag über das Kreativorchester der Elbphilharmonie begann. Mobile Wasserinstrumente im öffentlichen Raum, Programme der Kölner Philharmonie, in Musikschulen, in Kitas und Senior:innenheimen, in Stadtvierteln und auf Festivals: Es ist etwas im Gange.

Ausblick

Community Music wächst in Deutschland und etabliert sich zunehmend – doch bleibt die Frage: Wollen wir ankommen oder im ständigen Wandel bleiben? Lee Higgins griff abschließend zentrale Themen der Konferenz auf und forderte die Teilnehmenden zur Reflexion auf: Pädagogik, institutionelle Rahmenbedingungen, Forschung sowie das Zusammenspiel von Exzellenz und Inklusion standen im Fokus. Er ermutigte dazu, Veränderungen klar zu benennen. Der Impuls brachte viele Ideen hervor: die Ausbildung von Musiker:innen neu zu denken, Angebote in Kooperation mit Bildungspartnern zu entwickeln und Community Music stärker in den Musikunterricht zu integrieren. Zudem müssen Werte und Normen infrage gestellt und Privilegien geteilt werden.

Louisa Riedel, Kultur-Bereichsleiterin der Beisheim Stiftung, zog ein Fazit: „Besonders inspirierend war die Aufbruchstimmung und der Austausch internationaler Perspektiven. Community Music in Deutschland steht an einem spannenden Entwicklungspunkt, und wir haben konkrete Ideen mitgenommen, wie wir weiter dazu beitragen können.“

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