Semjon, ein ehemaliger Violinschüler von mir, damals 17 Jahre, klagte eines Tages plötzlich über Schwindel und Rückenschmerzen, fing an zu humpeln, außerdem konnte er die Töne auf der E-Saite nur noch als verzerrende Schwingungen hören. Er rannte von Arzt zu Arzt. Niemand konnte ihm helfen; ich damals auch noch nicht. Er war ein begabter Junge, spielte Zigeunerweisen, wollte Musik studieren, aber musste aufgrund dieser Belastungen vollkommen mit dem Geigen aufhören, weil er das Spielen wegen der Tonverzerrungen und Schmerzen nicht mehr ertrug. Wir waren beide verzweifelt.
Ich durchlebte Monate später ein ähnliches Martyrium, ein schmerzhafter Irrweg, fast bis zur Berufsunfähigkeit, durch verschiedenste medizinische, lediglich symptomorientierte Therapien, bis ich nach Jahren endlich – wie ein Puzzle – durch eigenes Hinterfragen, Lesen von medizinischer Fachliteratur, Lernen, Ausprobieren sowie unzähligen Gesprächen mit Ärzten verschiedenster Fachrichtungen, Heilpraktikern, Krankengymnasten, Osteopathen et cetera, die eigentlichen Ursachen und Zusammenhänge erkannte und eine Wende zum Guten einleiten konnte.
Mit meinem heutigen Wissen hätte ich Semjon die richtigen Tipps und Adressen geben können, damit er seinen Traum von einem Musikstudium nicht hätte aufgeben müssen.
Ich möchte Sie in diesem Artikel für das Problem des kindlichen Beckenschiefstands sensibilisieren, das bisher oft noch nicht ernstgenommen und als mögliches ursächliches Problem von Beschwerden und Schmerzen in ganz anderen Körperregionen schon bei Ihren Violinschülern, späteren Krankheiten oder vorzeitiger Berufsunfähigkeit bei Profi-Musikern, rechtzeitig schon im Kindesalter behandelt werden soll.
Beispiel aus der Praxis
Ein paar Beispiele aus meinem Violinunterricht innerhalb des letzten Jahres. Diese Beschwerden der Schüler hätte man normalerweise als Lehrer wohl nicht besonders beachtet, schließlich hat ja jeder mal seine Zipperlein. Oder man hätte verschiedenste methodische und psychologische Schatzkistlein geöffnet, einiges ausprobiert, und wenn sich dann nichts verändert hätte, unter Umständen den Rat gegeben, sich in der Freizeit mehr zu bewegen, Sport zu treiben, nicht so viel Fernsehen zu gucken, früher ins Bett zu gehen, Wärmflasche auf die schmerzenden Stellen et cetera, wenn es denn trotz Arztbesuch gar nicht besser geworden wäre, den Wechsel zu einem anderen Instrument vorgeschlagen
oder ihnen im äußersten Notfall nahegelegt, ganz aufzuhören. Bei solchen Beschwerden und Symptomen werde ich inzwischen hellhörig. Wie wären Sie mit den nachfolgenden Beispielen umgegangen?
Kimberley, 9 Jahre: Nach einem Sturz im Sportunterricht auf den Rücken zunächst beschwerdefrei. Nach einer Woche sich verschlimmernde beidseitige Schulterschmerzen. Die Geige hochzuheben, tut ihr weh.
Nancy, 13 Jahre: Dauernde Beinschmerzen, will deswegen ständig sitzen, X-Beine, wochenlange Übelkeit, wird immer lustloser, Geige zu üben. Diagnose: Wachstumsschmerzen und die Übelkeit wohl psychisch bedingt.
Annika, 11 Jahre: Plötzlich Schwindelanfälle bei ganz normalen Bewegungen. Sie wird immer ängstlicher, traut sich nichts mehr zu.
Charlotte, 12 Jahre: Beschwerden im mittleren Brustwirbelbereich, Nacken und Vibrato verkrampft, Schulterhochstand links, möchte Musik studieren.
Kyra, 8 Jahre: Mag nicht mit der linken Hand greifen, sondern möchte nur auf leeren Saiten spielen, weil sie nach ein paar Tönen sofort Unterarmschmerzen hat. Dehnübungen helfen nur kurzfristig.
Matthias, 18 Jahre: Will Musik studieren, kann seinen Kopf nicht richtig zur rechten Seite drehen, Schmerzen im unteren Rücken, Schulterhochstand links.
Johannes, 17 Jahre: Sportlich sehr aktiv. Nach Foul beim Fußballspielen wochenlange Schmerzen im Gesäß und unterem Rückenbereich. Jeder Atemzug tut ihm außerdem weh. Atmet deshalb nur noch sehr flach, hält die Geige tiefer, Vibrato verkrampft zunehmend.
Georg, 10 Jahre: Nach Wechsel auf’s Gymnasium ständige Kopfschmerzen ist dadurch in gereizter Stimmung. Laute Töne werden ihm unangenehm.
Max, 10 Jahre: Ebenfalls Dauerkopfschmerzen und Schmerzen im linken Oberarm.
Paul, 8 Jahre: Steht nach zwei Jahren Unterricht plötzlich nur noch auf einem Standbein, kippt beim Geigespielen den Oberkörper nach rechts. Linke Schulter höher als die andere. Schulter- und Nackenmuskulatur verkrampft sich.
Wiebke, 13 Jahre: Die linke Schulter steht mindestens vier Zentimeter höher als die andere. Extrem starke Wirbelsäulenverbiegung (Skoliose).
Elisabeth, 9 Jahre: Sehfähigkeit der Augen verschlechtert sich, mag deshalb nicht mehr nach Noten spielen, sondern nur noch auswendig, soll Brille bekommen.
Louise, 12 Jahre: Nach Einsetzen einer festen Zahnspange Schmerz im linken Wangen- und Kopfbereich. Geige festzuhalten wird als unangenehm empfunden, Vibrato verkrampft sich.
Gustav, 10 Jahre: Ein richtiger Sportskerl, hat plötzlich nach ein paar Minuten Violinspiel Rückenschmerzen, nimmt die Geige herunter und kreist mit seinen Schultern, um sich zu entspannen.
Symptome ernst nehmen
Sie fragen sich jetzt vielleicht, warum ich so viele Schüler mit Zipperlein habe. Bitte glauben Sie nicht, dass ich so einen katastrophalen, verkrampfenden Violinunterricht gebe, dass meine Schüler ständig Schmerzen haben, im Gegenteil: Alle Kinder sind heute beschwerdefrei und spielen begeistert weiter Geige, weil ich sie und die ratlosen Eltern über den schon länger bestehenden, oder jüngst erworbenen Beckenschiefstand, dessen Folgen für den übrigen Körper und die Zusammenhänge aufgeklärt habe und dadurch die jeweils notwendige Therapie eingeleitet werden konnte. Aber wenn in meiner Violinklasse schon so viele Kinder mit nicht ernstgenommenen oder ursächlich richtig diagnostizierten Beschwerden und Schmerzen sind, wie hoch mag dann die Dunkelziffer bei anderen sein. Die Schulärzte hierzulande achten nicht unbedingt auf Beckenschiefstand – ganz im Gegensatz zu Schweden.
Reihenuntersuchungen
In Stockholm hat der Chiropraktiker Ackermann vom Ackermann College of Chiropractic noch zu seinen Lebzeiten die Behörden davon überzeugen können, in den Schulen Reihenuntersuchungen zu diesem Thema durchzuführen, um frühzeitig einen möglichen Beckenschiefstand bei Kindern diagnostizieren und behandeln zu können (zirka 40 bis 60 Prozent aller Schulkinder sind davon betroffen), damit Spätschäden vermieden werden. So bleiben auch den Krankenkassen Unsummen an Therapiekosten erspart. Bis dahin ist es in Deutschland wohl noch ein weiter Weg.
Ich bin der Meinung, dass man auch als Instrumentallehrer über einige anatomische Besonderheiten und Probleme Bescheid wissen sollte, einfach deshalb, weil wir ständig mit dem Körper arbeiten, er ein unverzichtbarer Teil des Musizierens ist und Störungen sich direkt auf die Qualität des Unterrichts und Übens auswirken, sie deshalb schon während des Wachstums korrigiert werden sollten.
Als Schüler mit dem Instrumentalunterricht wegen unerklärlicher Beschwerden aufzuhören, wie Semjon, ist für Lehrer wie Kind ein frustrierendes Erlebnis. Als schmerzgeplagter Student zum Musikmediziner zu gehen ist oft schon zu spät, da der Körper dann schon ausgewachsen ist.
Sollte ich Sie neugierig gemacht haben, und da dieser Artikel ein bestimmte Länge nicht überschreiten darf, möchte ich Sie auf zwei Veranstaltungen hinweisen, bei denen ich Ihnen in einem Vortrag und Workshop meine Erfahrungen weitergeben und Ihnen erklären möchte, was ein Beckenschiefstand eigentlich ist, dann seine möglichen Folgeschäden, ebenso die Auswirkungen im übrigen Körper sowie im Instrumentalunterricht mit Kindern.
Einfache Tests für Schüler
Danach möchte ich Ihnen ein paar einfache Tests erläutern, wie Sie selber einen möglichen Beckenschiefstand bei Ihrem Schüler erkennen können, Ihnen außerdem eine prophylaktische Übung zeigen als Hilfe zur Selbsthilfe, und für Interessierte auf weiterführende Therapie- und Fortbildungsmöglichkeiten sowie auf vertiefende Literatur verweisen. Es ist mir eine Herzensangelegenheit, Ihnen Querverbindungen und Zusammenhänge aufzuzeigen, damit Sie die oft ratlosen Eltern aufklären und Ihren Schülern helfen können, beschwerdefrei ihr Leben lang zu musizieren und Ihnen von dieser Seite her die Begeisterung am Musizieren erhalten bleibt.
Aktuelle Veranstaltungen zum Thema
Kongress der ESTA (European String Teachers Association)
15.–17. Oktober 2004
Ort: Musikhochschule Stuttgart
Vortrag: 15.10 2004 um 17 Uhr, Workshop: 20 Uhr
Info-Tel.: 06131/47 95 68Meisterkurs und mehr
11.–17. März 2005
Prof. Maria Egelhof (Violine), Katharina Apostolidis (Vortrag und Workshop: 13. März 2005 um 10 Uhr)
Ort: Landesmusikakademie Neuwied-Engers, Info-Tel.: 02622/905 20