„Ich liebe die Dinge über alles, alles. Ich mag die Zangen, die Scheren, ich schwärme für Tassen, Serviettenringe, Suppenschüsseln – vom Hut ganz zu schweigen. Ich liebe alle Dinge, nicht nur die höherstehenden, sondern auch die unendlich kleinen, den Fingerhut, Sporen, Teller, Vasen. Bei meiner Seele, ist der Planet schön, voller Pfeifen, […] voller Schlüssel, voller Salzfässer, voll von allem, was von Menschenhand erschaffen, allen Dingen.“

Wo schläft das Lied? Foto: Juan Martin Koch
Schläft ein Lied in allen Dingen
Pablo Nerudas „Ode an die Dinge“ (1959) – welch eine Huldigung an das, womit wir täglich umgehen, was zu unserem Leben gehört, uns gefällt und angeht, verführt, sich widersetzt, zur Hand, ins Ohr, zu Bruch geht: die Welt der Dinge. Wir können sie praktisch nutzen und gebrauchen, was meist der Fall ist und unser Leben prägt; wir können sie aber auch einfach nur genießen, ihnen Aufmerksamkeit schenken und ihre Schönheiten wahrnehmen. Oder beides, im Gebrauch genießen und im Genuss gebrauchen, in ästhetischer und praktischer Einstellung zugleich und doch unterschieden. Ob man zum Beispiel mit einem Tischtennisball einen sauberen Topspin hinlegt oder eine sensible Klangspur auf dem Flügeldeckel anlegt (auch mit mehreren wie in Sophie-Youjung Lees Konzeptstück „Sing your song, my friends!“), beschreibt verschiedene Umgangsweisen mit dem gleichen Gegenstand, wobei man freilich auch den Klang des Balls beim Aufschlag genießen und aus den Punktklängen des Ping-Pong noch mehr Spaß am Spin gewinnen kann.
Die Beispiele zeigen: Alles, jedes Ding, kann Gedicht und Bild werden – und Musik. So wie es Ding-Gedichte gibt (von Jan Wagner, Seamus Heany, Pablo Neruda, Francis Ponge, Walt Whitman u. a.), so gibt es Ding-Musiken – eine unerschöpfliche Musik der Dinge, die mit den Klängen beginnt, die jeder Gegenstand in sich trägt. Klänge sind überall. In allem ist Musik verborgen, und jedes Ding hat seinen eigenen Klang. Er offenbart sich, wenn wir uns den Dingen mit allen Sinnen, quasi selbstlos, zuwenden, sie berühren, zum Klingen bringen und in einen Dialog eintreten, der ihr musikalisches Leben erweckt. Dadurch wird die zutiefst menschliche „Fähigkeit, mehr an den Dingen wahrzunehmen, als sie sind; der Blick, unter dem, was ist, in Bild sich wandelt“ (Adorno, „Ästhetische Theorie“), zum „Klick, unter dem, was ist, in Klang sich wandelt“, um Adorno heiter zu paraphrasieren. Seit mehr als hundert Jahren ist das so, die Verwandlung von Dingen in Bilder, Gedichte, Skulpturen, Musik, seit Dada, Duchamp, Bauhaus, Fluxus, Cage, Konzeptkunst, Happening, wo Alltagsdinge und Aktionen, Geschehnisse und Gesten, Handlungen und Situationen aller Art zu Kunst und Musik werden, in den Worten von George Brecht: „There is perhaps nothing that is not musical. There’s no moment in life that’s not musical ... All instruments, musical or not, become instruments.“1
Feingefühl und offene Ohren
Dieses alltagsästhetische Verständnis von „Objekten“ als Klangerzeugern lässt sich prima auf das voraussetzungsoffene Musikmachen in der Community Music (CM) übertragen. Die Erfindung einer Musik der Dinge ist für jedermann möglich, sie erfordert keine instrumentalen Fähigkeiten, sondern vor allem Feingefühl, wache Sinne, sensible Hände und offene Ohren – Lust am gemeinsamen Entdecken, Experimentieren, Gestalten vorausgesetzt.
Ganz praktisch kann man sich an folgendem Bericht über eine bekannte US-amerikanische Künstlerin orientieren: „Alison Knowles sammelt banale, wertlose Dinge. In ihren Händen werden sie durch ihre liebevolle Aufmerksamkeit und einen fast rituellen Umgang zu magischen Objekten. Während einer Performance legt sie viele von diesen Gegenständen auf einem auf dem Boden liegenden Tuch aus. Sie nimmt einen nach dem anderen in die Hand, läßt ein Holzstück klingen, einen Spielzeugfrosch quaken, zerreißt langsam ein Stück Papier. So einfach, fast ärmlich die Dinge auch sind, so reich sind ihre Geräusche.“2 Für die Gruppenarbeit in der CM bedeutet das, dass entweder der Facilitator, als zurückhaltender Arrangeur von CM-Aktivitäten, eine Anzahl von Gegenständen bereitstellt, quasi den Tisch oder das Tuch mit Dingen des Lebens deckt; oder die Mitwirkenden bringen (Lieblings-)Dinge mit, vertraut oder unvertraut, finden sie im Raum oder in der Umgebung vor und legen sie in der Mitte aus. Das können ganz verschiedene Dinge sein wie etwa Töpfe, Tassen, Teller, Besteck – Flaschen, Gläser, Becher, Büchsen, Dosen – Küchen- und Bad-Dinge – Zeitungen, Zeitschriften, Pizzakartons – Luftballons, Luftpumpen, Reißverschlüsse, Regenjacken, Regenschirme, Kleidungsstücke, Turnschuhe, (Tisch-)Tennisbälle und vieles mehr. Sie alle werden von der Community in Ruhe gesichtet, bewundert, bestaunt und gegebenenfalls mit ersten Klängen assoziiert.
Bewährt hat sich die Teilung einer größeren Gruppe in kleinere Ensembles von zirka drei bis vier Leuten, von denen sich jede:r das Klangobjekt aussucht, das ihn oder sie quasi anlacht, „anmacht“, affiziert. Die Trios oder Quartette ziehen sich sodann in einen geschützten Raum oder in eine Ecke im Raum zurück und explorieren einzeln und gemeinsam die klanglichen Eigenschaften und musikalischen Möglichkeiten der Dinge. Die Techniken der Klangerzeugung geben die Dinge einerseits selber vor, indem man sich von ihnen einfach führen und berühren lässt – Beispiele: mit Gläsern anstoßen, Flaschen entkorken, Bälle springen, Teller kreisen und Luftpumpen atmen lassen et cetera, auch mit gegenseitiger Berührung verschiedener Klangerzeuger. Oder man verwendet bewusst weitere Gegenstände wie Holz- oder Filzschlegel, Geigenbögen oder Gummibälle, die das Klangspektrum erweitern, und probiert verschiedene Klangmöglichkeiten aus.
Die Aufgabe besteht nun darin, innerhalb der Freiarbeitsphase ein kleines Stück von ein bis drei Minuten Dauer zu erfinden und zu formen, gleichsam zu komponieren (ohne Noten). Die Mitwirkenden untersuchen das musikalische Leben der ausgewählten Gegenstände, bilden Klangketten, Kanons, Dialoge, Kontraste, experimentieren mit Tonhöhen oder Helligkeitsstufen, Rhythmen, Lautstärken und erschaffen kleine Formen, die mit Lust an Klang und Körper geübt und performt werden. Dabei können sowohl Stilmittel der populären Musik wie Beat, Groove, Tanzrhythmen als auch Techniken der Avantgarde wie Punktklänge, Klangflächen, Strukturklänge, Texturen et cetera oder ihre Kombination zum Einsatz kommen (wenn zum Beispiel groovende Beats sich ballen und zu Texturen verdichten). Wenn die gesamte Gruppe wieder zusammenkommt, stellen die einzelnen Ensembles einander ihre Dingmusik-Miniaturen vor. In eine stimmige Reihenfolge gebracht, können die einzelnen Beiträge auch zu einem mehrteiligen Stück „Musik der Dinge“ zusammengefügt werden, aufgeführt von mehreren im Raum verteilten Ensembles. Klar, dass, wenn gewünscht, eine Videoaufnahme schön und sinnvoll ist, die sich die Gruppe später selber ansehen und genießen kann.
Variationsmöglichkeiten
Das Modell „Musik der Dinge“ lässt sich, wie alles in der CM, vielfältig abwandeln, erweitern, differenzieren, indem man beispielsweise die Dinge nach Größe und Beschaffenheit auswählt: winzig kleine, unscheinbare Gegenstände („im Kleinsten ist das Größte enthalten“) in Beziehung setzt mit besonders großen – ganz unterschiedliche bis gegensätzliche Dinge zusammenbringt – eine Auswahl aus bestimmten Lebensbereichen trifft wie Küche, Wohnzimmer, Bibliothek mit ihren spezifischen Sounds (jeder gedeckte Tisch bereits ein Klang-Ensemble) – von Menschen geschaffene Dinge ausgewählten Naturmaterialien gegenüberstellt (Musik der Alltagsdinge zusammen mit „Sticks“ und „Stones“ von Christian Wolff zum Beispiel oder mit Konzepten aus dem reichen Fundus der Musik der Elemente Wasser, Feuer, Luft) – Musik der Dinge mit Musik der Stimme verbindet, etwa in Form von Atem- und Flüsterlauten oder eines chorisch geatmeten Dauersummtons.
Vorstellbar ist auch eine umweltbewusste Vorgehensweise dergestalt, dass gemeinsam, wie Paul Klee mit seinen Schülern am Bauhaus, auf der Straße Dinge gesucht und gesammelt werden, besonders solche, die achtlos liegengelassen oder weggeworfen worden sind, „schrecklich einsame und hilflose Dinge“ (Stefan Wolpe, „Lecture on Dada“), Merk- und Mahnmale unserer Überflussgesellschaft. Wie wir Dinge behandeln, sagt etwas über uns und unsere Kultur des Umgangs mit einander und den Dingen aus. Jede Flasche, Dose, Tüte, die irgendwo herumliegt, erzählt eine Geschichte, enthält Spuren des Lebens und birgt Klänge. Sie aufzusammeln, aufzuheben im Wortsinn, ihren praktischen und ästhetischen Wert zu erkennen und kleine Musikstücke daraus zu formen, verbindet Kunst und Leben ebenso wie Menschen und Menschen sowie Menschen und Dinge. Unsere Lebensvollzüge sind in die Dinge eingeflossen und dadurch sie in uns. Indem wir Dinge berühren, berühren sie uns. Und plötzlich ist das Leben wieder da, Zeit für den Augenblick des Lebens (M. Seel) und für die Erfahrung des Für- und Miteinanders von Menschen und Dingen. Dinge sind mehr als Gegenstände des Gebrauchs. Sie als klingende Subjekte anzusehen, die uns etwas zu sagen haben und unser Leben mit ausmachen, erweitert und verändert uns, bringt uns in Kontakt zu uns und zur Welt und wirkt sich vielleicht auch auf unsere Beziehung zu anderen Menschen aus. Denn nicht der Mensch ist das Maß aller Dinge; die Dinge selbst besitzen ein eigenes Maß und ihre eigene Musik.
Fussnoten
1 https://forschung-kuenstlerpublikationen.de/Dripping-1959–1962.html (Stand: 15.05.2025).
2 Elisabeth Jappe: „Plastik hört man, bevor man sie sieht“ Klangperformance von bildenden Künstlern, in: Improvisation – Performance – Szene. Vier Kongressbeiträge und ein Seminarbericht, hg. von B. Barthelmes und J. Fritsch (Veröff.des INNM Darmstadt, Band 37), Schott: Mainz 1997, S. 29–41, hier S. 33.
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