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Flügelauswahl zum 15. Van Cliburn International Piano Competition, abgehalten in der Bass Performance Hall in Fort Worth, Texas: Rachel Cheung spielt auf einem Steinway aus New Yorker Produktion. Foto: Ralph Lauer
Flügelauswahl zum 15. Van Cliburn International Piano Competition, abgehalten in der Bass Performance Hall in Fort Worth, Texas: Rachel Cheung spielt auf einem Steinway aus New Yorker Produktion. Foto: Ralph Lauer
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Für Karriere wird keine Garantie übernommen

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Glanz und Elend von Musikwettbewerben · Von Harald Eggebrecht
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„Zum Kampf der Wagen und Gesänge,/ Der auf Korinthus‘ Landesenge/ Der Griechen Stämme froh vereint,/ Zog Ibykus, der Götterfreund.“ So beginnt­ Friedrich Schillers berühmte Ballade „Die Kraniche des Ibykus“, in der es allerdings dann nicht um die Wettkämpfe geht, sondern um einen Mord und seine unvermutete und überraschende Aufklärung. Doch die Idee, dass man sich nicht nur im Laufen, Springen, Werfen, Boxen, Ringen et cetera messen kann, sondern auch als Sänger, Schauspieler, Tänzer oder Instrumentalist, auch Dichter oder Rezitator in Wettstreit treten kann zu Ehren der Götter, haben die alten Griechen schon mindestens sieben Jahrhunderten vor Christus in die Tat umgesetzt.

Aber im Gegensatz zu sportlichen Wettkämpfen lassen sich musische Konkurrenzen nicht exakt ausmessen, auswiegen und auszählen. Gewiss kann man feststellen, ob Verse korrekt geschmiedet werden nach den Regeln des Versmaßes oder ob die Intonation bei einem Sänger oder Musiker stimmt, ob er das Instrument technisch beherrscht. Oder ob einer ein perfektes Gedächtnis hat, wenn er als Schauspieler rezitiert oder als Musiker ein Stück ohne Noten vorträgt. Aber wenn es dann um Kategorien wie Schönheit, Überzeugungskraft und Ausstrahlung der musischen Darbietung geht, gar um die individuelle Eigenart und Persönlichkeit in der Darstellung des Auftretenden, betreten die Kampfrichter Regionen des letztlich Unwägbaren, des subjektiv legitimen doch keineswegs allgemeinen Empfindens, der ästhetischen Geschmacksurteile. Dort kann es im Sinne des Exakten, Präzisen, Unzweifelhaften keine „Gerechtigkeit“ und keinen Anspruch auf absolute Richtigkeit geben. Und das trotz besten Wissens und Gewissens der Juroren.

Also wurden bei den Olympischen, Pythischen, Isthmischen oder Nemeischen Spielen zwar Gesangs-, Tanz- und Instrumentalwettbewerbe abgehalten, aber auch schon damals kam es zu Einflussnahmen und fragwürdigen Entscheidungen. Man denke nur an den römischen Kaiser Nero, der sich als Sänger und Lyraspieler allüberall bei solchen Spielen preiskrönen ließ. Seine Künste sollen gar nicht schlecht gewesen sein, doch die Macht des Herrschers tat in jedem Falle ein Übriges. 

Auch in späteren Jahrhunderten gab es immer wieder musikalische Konkurrenzen, aber sie hatten trotz öffentlichen Effekts etwas Privates an sich, wenn etwa Georg Friedrich Händel gegen Domenico Scarlatti an Cembalo und Orgel antrat, oder Wolfgang Amadé Mozart gegen Muzio Clementi. Mozart ironisierte denn auch dergleichen, als er darum wettete, wer die meisten Noten auf einmal anschlagen könne. Er gewann, weil er seine lange Nase als elften Finger einsetzte. Virtuosenduelle wie Niccolò Paganini gegen Charles Philippe Lafont oder Franz Liszt gegen Sigismund Thalberg waren zwar spektakulär, aber auch hier war jenseits des rein Artistischen bei der Beurteilung eine Menge kunstpolitischer Streitereien, ästhetischer Parteilichkeiten und Geschmacksvorlieben im Spiel.

Heute werden Musikwettbewerbe gern als Veranstaltungen zur Förderung des begabten Nachwuchses propagiert. Doch wer als Juror oder engagierter Zuhörer über Jahre hin diverse solcher Veranstaltungen miterlebt hat und erlebt, wird bei Gutwilligkeit und Selbstvergewisserung sicher jene Zweifel nicht los werden, die den großen Felix Mendelssohn Bartholdy dazu brachten, an keiner Jury teilzunehmen. Im März 1840 schrieb er an seine Mutter: „Dieser Tage habe ich den Entschluss gefasst, über welchen ich seelenvergnügt bin, nämlich niemals mehr an irgendeiner musikalischen Preisbewerbung als Richter teilzunehmen. Es kamen mehrere Aufforderungen dieser Art, und ich wusste gar nicht, was mich so verstimmte, bis mir klar wurde, dass es im Grunde eine bloße Arroganz sei, die ich von anderen nicht dulden möchte und daher am wenigsten selbst begehen sollte, sich so als Meister aufzuwerfen und seinen Geschmack voraufzustellen, und die armen Bewerber in einer müßigen Stunde sämtlich Revue passieren zu lassen und abzukanzeln, und will’s Gott, dabei auch einmal die schreiendste Ungerechtigkeit zu begehen. So hab ich denn ein- und für allemal abgesagt und bin seitdem ganz froh.“ Auch bedeutende Musiker im 20. Jahrhundert – etwa der legendäre Cellomeister Janos Starker – haben nie an Jurys teilgenommen, weil sie das Un-, ja, Antimusikalische, das in jeder Konkurrenz dieser Art unweigerlich steckt, nicht vertragen können und den Wert solcher Veranstaltungen grundsätzlich in Frage stellen und ablehnen.

Sieger und Platzierte

Dennoch gilt der Sieg in einem internationalen Musikwettbewerb weiterhin für viele Agenten und Medienvertreter als Garantie für Klasse und Rang eines jungen Solisten. Wer etwa als Geiger beim Jean-Sibelius-Wettbewerb in Helsinki, beim Paganini-Wettbewerb in Genua oder beim Concours Reine Elisabeth in Brüssel gewonnen hat, dem wird eine große Zukunft vorausgesagt. Wenn man an David Oistrach (in Brüssel 1937), Isabelle Faust (in Genua 1993) oder Sergei Khachatryan (in Helsinki 2000 und in Brüssel 2005) denkt, stimmt das tatsächlich. Doch die Vorstellung, dass die möglichen Sieger von nun an wichtig und erfolgreich sein werden, täuscht auch. Oft treten gerade die Gewinner keineswegs die Weltkarriere an, sondern einst nur Platzierte.­ So wurde Janos Starker im Genfer Cellowettbewerb 1946 nur Sechster und ein so feuriger mitreißender Cellist wie Heinrich Schiff hatte nie Fortune in Wettbewerben, er flog in ersten Runden heraus. Der sagenumwobene Pianist Arturo Benedetti Michelangeli endete in Brüssel 1938 auf Platz sieben. Viele überragende Musiker aber haben ihren Weg ganz ohne großen Wettbewerb gemacht, etwa die Geiger Anne-Sophie Mutter, Frank Peter Zimmermann oder Julia Fischer – sieht man von den Preisen bei Jugend musiziert der beiden ersten einmal ab.

Wenn sich Wettbewerbe ein Renommée erarbeitet haben, dann aufgrund untadeliger Seriosität, einigermaßen nachvollziehbarer Jury-Entscheidungen und imponierender Preisträger. In Deutschland steht dafür der ARD-Wettbewerb in München. Dabei zieht nicht so sehr das hier eher schmale Preisgeld die Teilnehmer an – nur 10.000 Euro für den Gewinner, beim Joseph-Joachim-Violinwettbewerb in Hannover sind es gleich 50.000 Euro – als vielmehr der gute Ruf der Ernsthaftigkeit und die Aussicht auf vermehrte Engagements unter anderem bei den diversen deutschen Rundfunksymphonieorchestern.

Außerdem lockt der ARD-Wettbewerb nicht nur Pianisten, Geiger und Cellisten, sondern auch Bläser, Schlagzeuger, Harfenisten, Sänger und Ensembles an. Übrigens folgt diesem ARD-Modell auch der Musikwettbewerb in Peking.

Eigene Gesetze

Wettbewerbe funktionieren vor allem nach anderen Gesetzen als der sonstige Musikbetrieb, in dem es oft kalt, abweisend, stressig und mühsam zugeht, eben ganz wie im richtigen Leben. Bei Wettbewerben entsteht dagegen häufig eine nahezu familiär-freundschaftliche Atmosphäre zwischen Kandidaten, dem Publikum, das die Teilnehmer in den verschiedenen Runden meist über Wochen hin begleitet, und der Jury, die je nach Entscheidung mal geliebt, dann wieder gehasst wird. Das Ganze gleicht daher eher der Exis­tenz auf einer Insel außerhalb der Realität, auf der eine Mischung aus Hocherregtheit, Sym- und Antipathien und Fangeist herrscht und jene Spannung steigert, die nicht so sehr aus künstlerischem Empfinden, sondern eher aus sportlichen Kategorien wie dem Durchhaltevermögen, der artistischen Geschicklichkeit, der Tagesform und einem auffallend großen Ton herrührt. Wenn dann noch die äußere Erscheinung gefällt, wächst um solche Kandidaten schnell das Raunen, dies sei der mögliche Sieger. Dabei bleibt aber jeder Wettbewerb nur eine unter den je spezifischen Bedingungen mögliche Momentaufnahme, schon beim nächs-ten vor einem anderen Publikum, einer anderen Jury mit anderen Kandidaten sieht alles anders aus.

Drei Reformgedanken seien hier skizziert: Ein großes Problem bildet das zu spielende Repertoire in den Durchgängen. Meistens sind es wohlbekannte Standardstücke und sonst wenigstens ein für den Wettbewerb komponiertes neues Stück. Doch wäre es nicht viel gescheiter, Wettbewerbe auch zu nutzen, um das Repertoire zu erweitern, selten Gespieltes, Abgelegenes und viel Neues einzufordern, so dass sich weitaus weniger Möglichkeiten ergäben, das vielfach auf Tonträgern Festgehaltene zu imitieren? Kein Wunder, dass Juroren allzuoft klagen, es würden kaum die Partituren genau studiert, um zu einer plausiblen eigenen Konzeption zu kommen, als vielmehr die Eigenarten und Marotten einschlägiger Stars und Lehrer nachgeäfft, wie sie YouTube und CDs reichlich bieten. Manchmal klingt dann alles sehr ähnlich, ganz gleich, ob die Kandidaten aus Asien, Europa oder Amerika kommen. Mut also zu Pflichtstücken, die für alle ungewohnt und neu sind. Zum Beispiel sollten bei Violin-Wettbewerben die großen sechs – Beethoven, Mendelssohn, Brahms, Bruch, Tschaikowski, Sibelius – verschont werden. Für Mendelssohn könnte man das Schumann-Konzert nehmen, für Brahms das Elgar-Konzert, für Bruchs erstes, sein kompositorisch viel interessanteres, technisch anspruchsvolles zweites Violinkonzert, für Tschaikowski Khatchaturians Violinkonzert, für Sibelius das Nielsen-Konzert. Bei Cello-Wettbewerben sollte die 5. Solosuite von Bach grundsätzlich mit vorgeschriebener Skordatur und die 6. Solosuite, wie von Bach verlangt, auf fünf Saiten geboten werden. Bei Cellosonaten sollte man den reichen Fundus französischer Cellomusik aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nutzen und die explosionsartig gewachsene Literatur im 20. Jahrhundert vorführen. Mit einer solchen Repertoire-Politik würde man mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen, nämlich bei Spielern, Juroren und dem Publikum den musikalischen Literaturhorizont zu erweitern!

Auch die Altersgrenze sollte bedacht werden. Heute reicht sie meistens bis Ende zwanzig. Es wäre besser, bei Wettbewerben nicht so sehr die vermeintlich reife künstlerische Persönlichkeit zu fordern, sondern den Spaß an der Konkurrenz, wie sie junge noch nicht „fertige“ Musiker, etwa bis 25, viel leichter entwickeln und weder Sieg noch Platzierung zu schwer nehmen. Es befremdet, wenn längst namhafte, mit Preisen ausgezeichnete und schon in der Karriere vorankommende Musiker plötzlich gleichsam erneut Abitur machen wollen, obwohl sie es schon bei anderen Konkurrenzen mehrfach abgelegt haben. So verständlich dabei die Hoffnung auf vermehrte Engagements ist, so problematisch ist die Teilnahme, die ja Jüngeren auch den Platz nehmen kann. Gelingt das „Abitur“ dieses Mal nicht, dann beschädigt das womöglich den Ruf des Künstlers, oder die Frustration über die verlorene Liebesmüh schlägt sich in seinem Spiel danach nieder. 

Der dritte Vorschlag betrifft die Jury. Es sollte prinzipiell niemand als Juror fungieren, der Schüler in der Konkurrenz hat. Die Abmachung, dass der Lehrer im Falle seines Studenten nicht mitstimmt, reicht nicht aus. Immer mal wieder beschleicht einen das Gefühl, dass es eine Art gegenseitiger Beißhemmung unter den Juroren gibt, wenn Kandidaten aus dem jeweils eigenen „Stall“ antreten. Auch sollten die Jurys daher nicht nur mit den jeweiligen Instrumentalprofessoren, sondern auch mit neutralen Kennern aus Management, Medien und Veranstaltern besetzt werden. Außerdem sollte das Altersspektrum der Jury möglichst viele Jahrzehnte an Musikerfahrung erfassen, also von Altmeistern bis zu Jung­stars. Deshalb sollten eher große Jurys gebildet werden, um aus einer solchen breit gestreuten Vielfalt zu punkten und zu entscheiden.

In den vergangenen Jahrzehnten sind viele neue Veranstaltungen dazugekommen, die einen bestimmten Ort, eine bestimmte Hochschule hervorheben sollen, oder speziell dem Gesang oder nur einem bestimmten Instrument gewidmet sind. Eine solche Vermehrung mindert jedoch die Bedeutung der traditionsreichen „Competitions“ in München, Brüssel, Helsinki, Genf, Bozen, Warschau, Leeds, Fort Worth und so fort. Der einst so weithin strahlende Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau hat vor nicht langer Zeit seine Reputation leider durch korrumpierende Interessenpolitik gleich selbst beschädigt.  

Eine Art des Wettbewerbs kann allerdings lebensentscheidend sein und hat daher eine ganz andere Bedeutung als die bisher beschriebenen Konkurrenzen. Es sind die Probespiele der Orchester, denen dann noch ein Probejahr folgt, das keineswegs die Festanstellung garantiert, sondern auch mit der Trennung enden kann. Inzwischen gehen die Bewerbungszahlen für eine Tuttistelle bei nahezu jedem Orchester in die Hunderte. So hatten sich beim Gustav Mahler Jugend-Orchester schon mal circa 2.000 Musiker beworben! Die Orchester wählen aus und finden in den Biografien sehr oft als Ausweis der Klasse eines Bewerbers Mitwirkung oder Siege bei berühmten Konkurrenzen. Auch danach laden sie Kandidaten ein, die aber nicht nur musikalisch überzeugen müssen, sondern auch damit, ob sie in die jeweilige Gruppe und damit ins Orchester hineinpassen. Erfahrene Orchestermusiker sagen, oft entscheide vor allem diese charakterliche Eignung. Viele derer, die nicht genommen würden, seien keineswegs instrumental schlechter, aber die Betreffenden müssten eben den klanglichen und gruppendynamischen Vorstellungen des jeweiligen Orchesters entsprechen. Wettbewerbe können also gleichsam seismografisch auch etwas über den Stand der Ausbildung von Musikern mitteilen. Als „advocatus diaboli“ lässt sich natürlich fragen, wofür eigentlich diese Riesenzahl an Nachwuchsmusikern ausgebildet wird und zwar weltweit, wenn doch der Bedarf, sprich der Musikmarkt begrenzt ist und das öffentliche Konzertleben nur mehr von einem älteren und daher womöglich abnehmenden Publikum erhalten werde. Außerdem würden alle jungen für Solistenkarrieren geschult, obwohl man doch viel mehr Orchestermusiker und Ensemblespieler brauche. Eine wenig befriedigende Antwort könnte lauten, dass man eben eine genügende Anzahl an Musikern heranziehen müsse, um überhaupt Spitzenkönner hervorzubringen.

Besser ist eine andere Überlegung: Wer Musiker, ob Solist, im Orchester oder in kleineren Ensembles, werden will, weiß, dass Komponisten nach Maßgabe ihrer künstlerischen Phantasie und der „Kompositionswissenschaft“, um es mit Joseph Haydn zu sagen, schrieben und schreiben. Dafür braucht man, ganz gleich, ob man im Tutti sitzt oder als Kammermusiker auftritt und erst recht als Solist immer das höchstmögliche Können. Sonst können Partituren wie die von Richard Wagner, Igor Stravinsky oder Wolfgang Rihm, um nur drei Namen zu nennen, gar nicht realisiert werden. In jedem Finale aber, welchen Wettbewerbs auch immer, bleibt, wie schon erwähnt, das grundsätzliche Problem der Nichtmessbarkeit der musikalischen Leistung in einem letztlich antimusikalischen Wettkampf bestehen. Daher kann es von vornherein keinen definitiven Sieger geben. Doch kann ein „Sieg“ Folgen haben für den Verkauf von Konzertkarten und so weiter.

Zuletzt aber muss sich jeder Musiker in der Wirklichkeit des Konzertbetriebs bewähren. Da macht er dann oft eine bittere Erfahrung: Diejenigen, die als Publikum beim Wettbewerb die Säle füllten und jubelten, lassen häufig ihre Favoriten im Stich, wenn die eine Saison später im normalen Konzert erscheinen. Es wäre schon viel geholfen, wenn die jungen Spieler im späteren Musikleben auf die gleiche positive Resonanz und Empathie treffen würden, die sie in der exterritorialen Wärme auf der Wettbewerbsinsel erlebt haben.

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