Schier unüberschaubar ist die Zahl der Schillerkongresse und -symposien im Schillerjahr 2005. Gleich zwei dieser Tagungen widmen sich dem Thema „Schiller und die Musik“, und eine dritte behandelt zumindest wichtige Aspekte dieses Themas. Man denkt an Beethovens Neunte Symphonie mit ihrer „Ode an die Freude“, an Opern wie Verdis „Don Carlos“ und an Schuberts Schiller-Vertonungen und erinnert sich, dass Liszt in der zwölften seiner Symphonischen Dichtungen „Die Ideale“ von einem Gedicht Schillers ausgeht. Mit Opernlibretti hat Schiller indes im Gegensatz zu Goethe nie experimentiert. Und dennoch konnte er sich der Faszination der Oper nicht entziehen. Ja, eines seiner bedeutendsten Bühnenwerke erschließt sich in seiner ganzen Tragweite erst durch die von ihm vorgesehene Musik.
Dass Musik im Theater der Goethezeit in einem hohen Maße nicht nur ein wesentliches Element der Inszenierung, sondern oft auch der Dramenkonzeption war, ist in Ansätzen seit langem bekannt. In weiten Bereichen der Theaterpraxis der Zeit – auch im Sprechtheater – begann die Aufführung mit einer Ouvertüre, zwischen den einzelnen Akten erklangen Zwischenaktmusiken, und vielfach kulminierten die Ideen des Dramas in einer Schlussmusik, die für den Zuschauer wie beim späteren Hollywoodfilm die Handlung in die eigene Gegenwart verlängerte und die Brücke zur Rückkehr in die Realität bildete. Zum Anderen forderten die Regiebemerkungen in den Dramen selbst immer wieder die Mitwirkung von Musik. Teils sehen die Dramen vor, dass einzelne Lieder wie Gretchens Lied „am Spinnrade“ in Goethes „Faust“ gesungen werden. Teils forderten die Autoren, dass zum gesprochenen Text Instrumentalmusik hinzutreten und dem Zuschauer so den Wechsel in die Sphäre des Metaphysischen signalisieren sollte. In der Inszenierungspraxis der Gegenwart werden diese Regiebemerkungen zumeist als Relikt einer vermeintlich überholten Theaterästhetik vernachlässigt.
Nicht wenige Stücke aus solchen Schauspielmusiken – wie Beethovens Ouvertüre zu Goethes „Egmont“ – führten bald ein Eigenleben. Ein Sonderfall ist das Lied „Mit dem Pfeil, dem Bogen“ aus Schillers „Wilhelm Tell“ (III, 1): Ursprünglich für die Berliner Inszenierung 1804 komponiert, ging es in den Schatz der Volkslieder ein. Und das hat seinen guten Grund, der allerdings zweifellos eher in der Idee und der Rezeption des Dramas als in den musikalischen Qualitäten dieses Liedes begründet liegen dürfte. In Schillers „Wilhelm Tell“ ist es keineswegs ein isoliertes, singuläres Einlagelied, sondern Bestandteil einer das gesamte Drama durchziehenden musikalischen Dramaturgie. Der Musik kommt in Schillers „Wilhelm Tell“, der 1804 in Weimar zur Uraufführung gelangte, insofern eine bemerkenswerte Rolle zu, als die Regieanweisungen an ganz entscheidenden Stellen des Schauspiels Gesänge und Instrumentalmusik vorsehen und auf dem Theater der Zeit auch genau so umgesetzt wurden.
Gleich die erste Szene des „Wilhelm Tell“ ist als regelrechte Opernszene konzipiert. Schillers Regieanweisung sieht vor, dass der Zuschauer auf diese Szene entsprechend eingestimmt wird: „Noch ehe der Vorhang aufgeht, hört man den Kuhreihen und das harmonische Geläut der Heerdenglocken, welches sich auch bei eröffneter Scene noch eine Zeitlang fortsetzt.“ Der dann folgende Beginn des Schauspiels ist einigermaßen ungewöhnlich: Noch bevor ein einziges Wort gesprochen wird, beherrscht die Musik die Szene. Ein Fischerknabe „singt im Kahn“, wie der Regiehinweis vorsieht („Es lächelt der See, er ladet zum Bade“), vom Berge antwortet ein Hirte mit einem Lied („Ihr Matten lebt wohl“), und mit zwei Strophen eines Alpenjägers („Es donnern die Höhen, es zittert der Steg“) endet die musikalische Eröffnung des „Wilhelm Tell“. Die Szene verdient um so mehr Beachtung, als Schiller für das Lied des Fischerknaben ausdrücklich vorschreibt: „Melodie des Kuhreihens“, die dann vom Hirten („Variation des Kuhreihens“) und vom Alpenjäger aufgegriffen wird („Zweite Variation“). Vor dem Zuschauer und Hörer entfaltet sich die Idylle einer heilen Welt.
Bemerkenswerterweise weist diese Eröffnungsszene deutliche Affinitäten zu jener in Grétrys 1791 entstandener Revolutionsoper „Guillaume Tell“ auf. Dort soll in der ganz analogen Eingangsszene der „Rhans des Vaches“ und das Kuhhorn eine ähnliche Aura evozieren. Die Übereinstimmungen in der Beschreibung der Szene und der Einfall, den Kuhreigen noch vor der Ouvertüre bzw. vor dem Heben des Vorhangs erklingen zu lassen, mögen auf Zufall beruhen, sind aber unübersehbar, zumal das Libretto von Sedaine in vielen weiteren Details erstaunliche Parallelen zu Schillers „Wilhelm Tell“ aufweist. Bislang fehlt allerdings der Nachweis, dass Schiller Sedaines Libretto oder Grétrys gedruckte Partitur kannte. Auch die Librettisten von Rossinis späterem „Guillaume Tell“ (1829) griffen nicht nur auf Schillers Drama, sondern auch auf eine spätere Fassung (1828) dieser Oper Grétrys zurück.
Mehr als klingendes Requisit
Der Kuhreihen oder Kuhreigen ist jener Melodietyp, der von den Schweizer Hirten gesungen wurde, um die Kühe zum Melken zu rufen, und der seit der berühmten Beschreibung Jean-Jacques Rousseaus in seinem „Dictionnaire de Musique“ (Paris 1768) die Fantasie von Komponisten und Autoren bis gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder beflügelte. Der Kuhreigen verkörperte für Rousseau die ursprüngliche Ausdruckskraft und Wirkungsmacht der Musik schlechthin. Diese beruhe, wie er hervorhob, wohl nicht primär auf Intervallkonstellationen, sondern auf den Assoziationen, die sich mit dieser Melodie verbinden. Dieser Passus fand dann Eingang in Johann Gottfried Ebels „Schilderung der Gebirgsvölker der Schweiz“. Dort heißt es:
„Wenn bei den schweitzerischen Regimentern in Frankreich der Kuhreihen gespielt oder gesungen wurde, so zerfloßen die Alpensöhne in Thränen, und fielen, wie von einer Epidemie ergriffen, haufenweise plötzlich in solche Heimsehnsucht, daß sie desertirten, oder starben, wenn sie nicht ins Vaterland gehen konnten. Diese außerordentliche Wirkung jener Alpenmusik ward der Grund, warum bei Todesstrafe verboten wurde, den Kuhreihen weder zu pfeifen noch zu singen.“
Schiller kannte diesen Text Ebels. Mit dem Stichwort ,Schweiz‘ verbindet sich in seinem „Tell“ in diesem Sinne die Idee von Freiheit und Vaterland – in der konkreten Situation der deutschen Staaten um 1800 ein politisch höchst aktuelles Thema.
Der Kuhreigen bleibt in Schillers „Wilhelm Tell“ nicht als isolierte Liedmelodie auf die Eingangsszene beschränkt, sondern ist eine Art Leitmotiv, das immer wieder im Text oder als Melodie anklingt. In der Auseinandersetzung zwischen Rudenz und Attinghausen im 2. Aufzug, V. 823-860 wird er semantisch als Symbol für die Identität der Schweiz beziehungsweise der Schweizer und zugleich für die Sehnsucht nach dem Vaterland, der Heimat dechiffriert. Wie eine Paraphrase über Rousseaus Beschreibung des Kuhreigens und seiner elementaren emotionalen Wirkung mutet es an, wenn Schiller Attinghausen verkünden lässt:
„Mit heißen Thränen wirst du dich dereinst / Heim sehnen nach den väterlichen Bergen, / Und dieses Heerdenreihens Melodie, / Die du in stolzem Ueberdruß verschmähst, / Mit Schmerzenssehnsucht wird sie dich ergreifen, / Wenn sie dir anklingt auf der fremden Erde. / O mächtig ist der Trieb des Vaterlands!“ (V. 842-848)
Schon hier wird deutlich, dass für Schiller der Kuhreihen mehr ist als ein klingendes Requisit. Er steht für die zentralen Themen des Schauspiels, für die Idee der Freiheit und des Vaterlands.
Eine völlig andere Qualität und dramaturgische Funktion hat die Schlussmusik des zweiten Aufzugs: Am Ende der zweiten Szene, der Rütli-Szene, die Stauffacher beschließt, soll nach Schillers Regieanweisung die Musik das letzte Wort haben: „Indem sie zu drei verschiednen Seiten in größter Ruhe abgehen, fällt das Orchester mit einem prachtvollen Schwung ein, die leere Scene bleibt noch eine Zeitlang offen und zeigt das Schauspiel der aufgehenden Sonne über den Eisgebirgen“. Nach Stauffachers Aufruf zur Besonnenheit kommt der Musik in Verbindung mit dem szenischen Vorgang der aufgehenden Sonne als „Wahrzeichen der Aufklärung“ die Funktion zu, eine Ahnung vom Ausgang des Dramas zu vermitteln: Sie antizipiert die Überwindung der Tyrannei und die Erlangung der Freiheit, die der Text verheißt, und damit ein wesentliches Element der Empfindungen des Schlussbildes. Fast scheint es, als habe Schiller sich hier an Goethes Schluss des „Egmont“ mit seiner Siegessymphonie orientiert, den er selbst 1796 für das Weimarer Hoftheater bearbeitet hatte.
Auch der dritte Aufzug des „Wilhelm Tell“ beginnt mit Musik. Walther, Tells Sohn, singt hier sein Lied „Mit dem Pfeil, dem Bogen, / Durch Gebirg und Thal“, dessen Text von Schiller bemerkenswerterweise erst während der Weimarer Bühnenproben im März 1804 eingefügt wurde. Entscheidend für die dramaturgische Funktion dieses Liedes ist die Tatsache, dass Walther in der dritten Szene des Aufzugs fast zum Opfer des von Geßler erzwungenen Gottesurteils des Apfelschusses wird. Walthers Lied, das den unerschütterlichen Glauben an das Metier und die Freiheit des Jägers artikuliert, wird dadurch, dass es als Gesangsstück aus dem Kontext herausgehoben ist, gleichsam zum Motto des gesamten nachfolgenden Aufzugs.
Zweischichtendramaturgie
Musik spielt erneut eine zentrale Rolle in der Schlüsselszene des „Wilhelm Tell“, nämlich in der dritten Szene des vierten Aufzugs, in der es zur Katastrophe kommt: Sie beginnt mit dem großen Monolog Tells („Durch diese hohle Gasse muß er kommen“) und scheint zeitweilig in eine heitere Alpenidylle umzuschlagen, in der der Zuschauer mit den Protagonisten den Hochzeitszug des Klostermeyer zunächst aus der Ferne wahrnimmt, dann über die Szene ziehen sieht. Wir sehen den Hochzeitszug nicht nur, sondern wir hören ihn, bevor wir ihn sehen (Regieanweisung: „Man hört von ferne eine heitre Musik, welche sich nähert“). Während Tell seinen Monolog beschließt, erscheint der Hochzeitszug auch auf der Bühne (nach V. 2650): „Eine Hochzeit zieht über die Scene und durch den Hohlweg hinauf.“ Doch was zunächst als ‚tönendes Requisit‘ erscheint, erweist sich als Element einer außerordentlich wirkungsvollen Zweischichtendramaturgie, die der Musik eine eigene kontrastierende Ebene zuweist: Während sich der Konflikt mit Geßler zuspitzt, erklingt erneut von ferne die heitere Musik des Hochzeitszuges, aber der Tonfall hat sich verändert: „Man hört die vorige Musik wieder auf der Höhe des Wegs, aber gedämpft“ (V. 2773). Gedämpfte Bläsermusik steht in der Oper seit eh und je für den Ausdruck der Trauer. Hier signalisiert sie dem Zuschauer den tragischen Ausgang der Handlung. Der Hochzeitszug mit seinem Bauernmarsch kommt schließlich in dem Moment wieder auf der Bühne an, in dem der Konflikt kulminiert und Geßler sein Leben aushaucht: „indem die vordersten von dem Brautzug auf die Scene kommen sind die hintersten noch auf der Höhe, und die Musik geht fort“ (V. 2797). Zur heiteren Musik des Hochzeitszuges, der zunehmend die Bühne füllt, verblutet der Tyrann. Die Musik verrät gegen den Augenschein der äußeren Handlung, dass der letale Ausgang für die Menge, die das Bühnengeschehen beherrscht, für das Volk, kein Grund zur Trauer ist. In einem jähen Schnitt wird die Musik von Rudolph dem Harras zum Verstummen gebracht: „Rast dieses Volk, / Daß es dem Mord Musik macht? Laßt sie schweigen. (Musik bricht plötzlich ab, es kommt noch mehr Volk nach.)“
Und nun, nach dem Verstummen der Musik, bricht Schiller seine Zweischichtendramaturgie durch den schroffen Kontrast: Mit einer erst während der Proben für die Weimarer Uraufführung ergänzten Trauermusik, die gleichsam in den Vordergrund der äußeren Handlung zurückführt, schließt Schiller den Aufzug, und zwar mit einem Chor der Barmherzigen Brüder, der das Vorbild der antiken Tragödie nicht verleugnen kann:
„Rasch tritt der Tod den Menschen an, / Es ist ihm keine Frist gegeben, / Es stürzt ihn mitten in der Bahn, / Es reißt ihn fort vom vollen Leben, / Bereitet oder nicht, zu gehen, / Er muß vor seinen Richter stehen!“ (V. 2833-2838)
Ähnlich wie beim zweiten Aufzug beschließt auch hier die Musik den ganzen Akt. Es ist nicht zu übersehen, dass durch diesen sakralen Chor die Provokation des Tyrannenmordes zu den Klängen des Bauernmarsches nur scheinbar gemildert wird. Hier wird kein Trauerchor angestimmt, sondern sentenzhaft die Unausweichlichkeit und Schicksalshaftigkeit des Todes besungen. Bei der dritten Weimarer Aufführung strich Schiller diesen Chor wieder.
Nicht nur den Anfang des „Wilhelm Tell“, sondern auch den Schluss prägt die Musik. Die Stringenz der musikalischen Dramaturgie wahren die beiden letzten Szenen, wenn Schiller (V. 3270) erneut den Kuhreihen erklingen und damit als eine Art Leitmotiv des gesamten Schauspiels das Symbol für Vaterland und Freiheit ein weiteres Mal in Erscheinung treten lässt: „Man hört den Kuhreihen von vielen Alphörnern geblasen.“ Nicht ein einziges Mal war diese Melodie während des Konfliktes mit den Habsburgern erklungen.
In der anschließenden letzten Szene wird Tell als „Erretter“ gefeiert: „Die Musik vom Berge begleitet diese stumme Scene“ (nach V. 3281). In einem kurzen Schlussdialog wird die endgültige Aussöhnung mit Bertha und Rudenz vollzogen. „Indem die Musik von neuem rasch einfällt, fällt der Vorhang“, heißt es in Schillers Regieanweisung nach Rudenzens letzten Textworten. Wie im Film ist die Musik hier integraler Bestandteil des Werkschlusses. Goethes „Egmont“ mit der vom Dichter selbst vorgesehenen Schlussmusik einer Siegessymphonie, die über die Handlung hinaus verweist, ist somit kein Einzelfall in der Theatergeschichte. Bemerkenswert ist, wie Schiller diese Schlussmusik am Ende des ersten Aufzugs vorbereitet hat, wenn er Melchthal nach dem Bericht über die Folterung und das Blenden des Heinrich von der Halden prophezeien lässt: „Blinder alter Vater! / Du kannst den Tag der Freiheit nicht mehr schauen, / Du sollst ihn hören (…)“ (V. 744-746)
Kraft der Instrumentalmusik
Musik prägt vom Tableau der ersten bis zur „Freudenkunde“ vom „Tag der Freiheit“ der letzten Szene entscheidende Szenen des „Wilhelm Tell“. Und es ist sicher kein Zufall, wenn Schiller den ersten Akt mit einer Folge von Liedern eröffnet, die Teilmomente der Idylle in einem Totaleindruck aufgehen lassen, das Schauspiel aber mit Instrumentalmusik beschließt, die auf der Grundlage des leitmotivisch verwendeten Kuhreihens das Konkrete der sprachgebundenen Musik gleichsam ins Abstrakte, ins Allgemeine wendet. Es ist bezeichnenderweise nicht ein gesungenes Opernfinale, sondern die eben erst in der Symphonik der Klassik gewonnene Ausdruckskraft der Instrumentalmusik, auf deren Wirkung Schiller vertraut, dem viele seiner Interpreten schon gar zu oft mangelnde musikalische Bildung unterstellt haben. Instrumentalmusik verkündet nicht nur im vierten Akt die wahren Empfindungen über den Tyrannenmord, sondern sie weist am Schluss wie eine Vision über das Ende der eigentlichen Handlung und die Schweiz als „der Freiheit Land“ hinaus und lässt den Zuschauer in seinen Empfindungen teilhaben am Triumph der Freiheit.
Leicht veränderter Nachdruck eines Artikels der Zeitschrift „Das Parlament“ vom 29. März / 4. April 2005