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Gesellschaftlicher Auftrag. Kunst im Dienst der Arbeiterklasse. War da nicht mal was? Beim Herumkramen in alten Zeitungsartikeln finde ich einen Artikel über das sozialistische Auftragswesen im Bereich Bildende Kunst. Berechnet wurde nach Quadratzentimetern und nach drei Stufen von gesellschaftlicher Bedeutung. Erstens: “Bedeutende realistische, vor allem figürliche Gestaltung der sozialistischen Gegenwart und der revolutionären Geschichte.“ Zweitens: “Thematische Gestaltung der Vielfalt unseres sozialistischen Lebens.“ Und drittens: “Dekorative Gestaltung sozialistischen Gehalts.“ Wenn Staat, Künstlerverband oder Betrieb einen Auftrag vergaben, so galt diese Honorarordnung, veröffentlicht im Gesetzesblatt vom 31.8.1971.
Checkpoint Carlie (Foto: Martin Hufner)
Quadratzentimeter. Kleinkariert – typisch DDR, mag sich damals der aufgeklärte Westmensch gedacht haben angesichts dieses rührend hilflosen Versuchs, den Wert der Kunst nach Zentimetermaß und ideologischem Grobraster zu bestimmen. Und auch heute noch, zehn Jahre nach dem Untergang des zweitletzten altmodernen Staatsgebildes auf deutschem Boden, ist das der Stoff, aus dem sich die milde Sieger-Ironie derjenigen nährt, die stets auf der richtigen Seite zu Hause waren. Vergessen wird dabei, dass ungefähr zeitgleich in Köln ein einflussreicher Kunstkritiker eine ähnliche Messlatte zurichtete: ein Punktesystem zur Wertermittlung von Bildern, gedacht als Hilfestellung für Galeristen, Sammler und Museen. “Wert“ ganz konkret verstanden. Wo schon von “gesellschaftlicher Bedeutung“ keine Rede mehr sein konnte, sollte wenigstens irgendeine dubiose Kriterienliste dem Handelswert auf die Beine helfen. Eine wundersame Umkehrung der hegelsozialistischen Zauberformel vom Umschlag der Quantität in Qualität. Sozialistisches Auftragswesen und freier Kunstmarkt berührten sich im unendlich fernen Punkt des platten Positivismus.
Zwei unversöhnliche Systeme, Klassenkampf mit dem Mittel der Kultur? Die Beispiele zeigen: Unabhängig von der ideologischen Ausrichtung ist in West und Ost oft der gleiche Schwachsinn gepredigt worden. Und zumindest im relativ wirklichkeitsfernen Bereich der Musik – er wurde seit Anfang der 70er-Jahre von der SED an der langen Leine gehalten, um Liberalität zu demonstrieren – gab es seltsame Analogien, Querverbindungen, Annäherungen. Zwar war ein direkter kultureller Austausch zwischen den beiden deutschen Staaten lange unmöglich. Als 1976 im Sender Freies Berlin ein Konzert mit Werken von Tilo Medek, Friedrich Goldmann, Udo Zimmermann und Paul-Heinz Dittrich stattfand und die vier Komponisten sogar leibhaftig dabei sein durften, war dies noch eine kleine Sensation. Doch in ausländischen Foren wie dem Warschauer Herbst oder dem Künstlerhaus im schweizerischen Boswil waren Kontakte zwischen Komponisten, Kritikern und Veranstaltern aus der DDR und dem Westen damals schon gang und gäbe.
Die Avantgarde-Szenen in West- und Ostdeutschland kamen sich von da an unaufhaltsam näher. Die grenzüberschreitenden Sender mischten in der musikalischen Diskussion in der DDR tüchtig mit. Auf bundesdeutschen Festivals tauchten Stücke von DDR-Komponisten auf. Man schätzte ihre hintergründige Zeitkritik und die frisch zupackende Art, mit der sie “westliche“ Techniken für ihre spezifischen Inhalte fruchtbar machten. Andererseits gelang es ihnen, die Westkultur in kleinen Dosen in die DDR zu importieren, allerdings nur, wenn sich die Parteionkel von deren Harmlosigkeit überzeugt hatten und die Devisenkasse es erlaubte. Die Praxis der “Gruppe Neue Musik Hanns Eisler“ in Leipzig und Avantgarde-Nischen, wie sie Komponisten wie Siegfried Matthus an der Komischen Oper Berlin und Udo Zimmermann in Dresden einrichteten, wurden von der SED geduldet, wenn nicht sogar vorsichtig gefördert. Waren sie doch kontrollierte Experimentierfelder, wo die Resistenz der Arbeiterklasse gegen dekadente Konzepte eines Cage oder Stockhausen getestet werden konnte. Immerhin konnte das nicht das Heranwachsen eines kleinen und renitenten Avantgarde-Publikums innerhalb der urbanen Intelligenz verhindern.
Das vielbemühte “Zusammenwachsen“ setzte musikalisch also lange vor 1989 ein und hat auch schon wenn auch nicht blühende Musiklandschaften, so doch ein paar Früchte hervorgebracht. Der Anteil des Ostens ist dabei keineswegs plattgemacht worden. Die Besten der ostdeutschen Komponisten können sich auch auf der freien Wildbahn des kapitalistischen Musikbetriebs behaupten, die Berliner Musikbiennale, einst ein Aktionsfeld des DDR-Komponistenverbands, ist dabei, ihr Potenzial als bedeutendes Ost-West-Forum zu entwickeln, die (Ost-)Berliner Theoriezeitschrift “Positionen“ ist aus der bundesdeutschen Neue-Musik-Diskussion nicht mehr wegzudenken, und ein Ossi ist heute Schlüsselbewahrer eines bundesdeutschen Avantgarde-Museums, der Donaueschinger Musiktage.
Zum gesamtdeutschen Erbe gehören auch die schlechten Gewohnheiten, etwa die Veranstalterpraxis, Programmideen durch das Zelebrieren runder Geburts- und Todestage zu ersetzen. “Mendelssohn ist unser!“ – “Schütz ist unser!“ hieß es 1972 in der DDR zum 125. oder 300. Todestag der Komponisten. Die Erschließung des “bürgerlich-humanistischen Erbes“ geschah hauptsächlich über kampagnenartige Öffentlichkeitsarbeit durch Gedenkjahre. Phantasielose westliche Veranstalter haben diese Terminkalenderkultur mit Freude kopiert. Unter dem Deckmantel der kulturellen Systemkonkurrenz (“Beethoven ist unser!“ – “Nein, unser!“) konnten sie damit von ihrer eigenen Ideenlosigkeit ablenken. Das Terminkalender-Prinzip hat sich seither wie ein Krebsübel verbreitet und in den 90er-Jahren in den kulturindustriellen Strategien zu Mozart-, Schubert- und Goethe-Jahren seinen spätkapitalistischen Triumph gefeiert. Das Gedenkjahr 1999 (“Die DDR ist unser!“ – “Nein, unser!“) steht in einer soliden Tradition.
Wo sich gute und mindere Erbstücke aus Ost und West so prächtig zum neuen, gemütlich vor sich hinprosperierenden Gesamthaushalt fügen, verliert die Frage nach den möglichen Defiziten einer musikalischen Wiedervereinigung an Interesse. Die Frustration vieler Ostdeutscher über tatsächliche und vermeintliche Ungerechtigkeiten nach 1989, auch diejenige im Westen über die undankbaren und nicht anpassungsfähigen Beitrittsbürger mag als politische Hypothek noch lange nachwirken. Sie in den kulturellen Diskussionen immer wieder zum Thema zu machen oder womöglich zu glauben, aus ihr eine Triebfeder für fruchtbares Handeln gewinnen zu können, wäre jedoch steril und nach einem Jahrzehnt obendrein langweilig. Eine gesamtdeutsche Nabelschau ist das Allerletzte und so unnötig wie ein Kropf. Man denkt, in den Plapperrunden der Talkshows wäre sie bestens aufgehoben. Doch schon wird sie zum Gedenkjahr 1999 wiederbelebt: Im Zusammenhang mit der Debatte Sloterdijk versus Habermas wird das Thema von konservativer Seite mit neuer, bleischwerer Bedeutung aufgeladen. “Erleben wir die metaphysische Gründung der Berliner Republik?“, fragt sich mit innerem Beben ein Kommentator der FAZ, der in Sloterdijk offenbar den Messias einer neudeutschen Nationalphilosophie entdeckt hat. Der deutsche Hang zur Tiefgründelei, den schon Nietzsche verulkt hat – muss er sich ausgerechnet wieder an der Politik beweisen?
Wer hartnäckig am nationalen Thema bleibt, auch unter dem dialektischen Etikett der Negation, muss sich die Frage gefallen lassen, ob er damit nicht von den Problemen der Gegenwart ablenkt. Es ist natürlich leichter, über wie auch immer falsch Gewordenes zu jammern oder über dessen künftige metaphysische Überwölbung zu spekulieren, als zu versuchen, in einer dramatisch sich verändernden kulturellen Landschaft neue Orientierungspunkte und Perspektiven für die gesellschaftlichen Prozesse im Spannungsfeld von Kunst, Künstler und Gesellschaft zu entwickeln. Hintergrund dieser Prozesse ist die weltweite digitale Revolution. Sie nimmt auf Ländergrenzen und nationale Traditionen keine Rücksichten. Wenn das Bewusstsein für tradierte Werte schwindet, wenn die gesellschaftliche Rezeption von Kunst immer mehr von abstrakten Marktgesetzen gesteuert wird und die Digitalisierung der Köpfe so weit fortgeschritten ist, dass “live“ produzierte Kunst wie ein Märchen aus alter Zeit erscheint, helfen aber Überlegungen, die sich ausschließlich um regionale Belange drehen, nicht weiter. Ein Zurück ins Dampfzeitalter der nationalen Metaphysik, ob mit linken oder rechten Vorzeichen, ist deshalb reichlich überflüssig.