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Musik als kommunikative, kooperative Vernetzung. Foto: Martin Hufner
Musik als kommunikative, kooperative Vernetzung. Foto: Martin Hufner
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Ein Modell sozialen Handelns?

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Gedanken zur ethischen Dimension der Musik · Von Hans-Jürgen Schaal
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Musik weckt Emotionen – und Emotionen sind die Grundlage aller Empathie. Empathie wiederum ist die Voraussetzung einer ethischen Lebenshaltung der Toleranz und des friedlichen Miteinanders. Auf diese Weise soll Musik erzieherisch wirken – so der Grundgedanke idealistischer Philosophie.

„Ich werde ein besserer Mensch, wenn mir dieser Bizet zuredet.“
Friedrich Nietzsche

Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827), der Reformpädagoge und Zeitgenosse Goethes, ist von der ethisch-erzieherischen Bedeutung der Musik tief überzeugt. Musik, so schreibt er, „bereitet die Seele für die edelsten Eindrücke vor und bringt sie gleichsam mit ihnen in Einklang“. Indem die Musik schöne Emotionen weckt, wird sie gleichsam zur Schule sozialen und ethischen Verhaltens. Hinter diesem pädagogischen Konzept steht die Bildungsidee der Aufklärung – ihr Ziel ist der gute, anständige, verantwortliche Bürger, fähig zu Empathie und Kooperation. Doch auf welchem Wege die Musik eigentlich emotionalisierend wirkt, ist bis heute nicht geklärt. Die Theorie simpler Gefühlsübertragung (vgl. Affektenlehre) meint: Eine schnelle und intervallfreudige Melodie macht uns fröhlich, eine langsame und absteigende eher traurig. Differenzierter ist die moderne Persona-Theorie, wonach die Hörer*innen in ein Musikstück wie ins Innenleben eines Menschen eintauchen – mit vielen komplexen und auch widersprüchlichen Gefühls-Schattierungen. Die Hirnforschung wiederum lehrt, dass wir beim Musikhören ständig unbewusste Voraussagen treffen, die sich dann bestätigen oder auch nicht – weshalb wir in permanenter emotionaler Erregung sind.

Die Harmonie des Weltalls

Schon in der antiken Philosophie ist die ethische Dimension der Musik ein heißes Thema. Für Platon (ca. 428 bis ca. 348 v.Chr.) beruht die moralische Erziehung des Menschen sogar „vor allem in der Musik“ – weil „am tiefsten in die Seele Rhythmus und Harmonie eindringen, sie am stärksten ergreifen und ihr edle Haltung verleihen“. Ob es Platon dabei in erster Linie um das Glück des Menschen geht, ist fraglich. Unstrittig ist dagegen, dass er die allgemeine Tugend und das Wohl des Staates im Sinn hat. In seinem idealen Staat will er nur bestimmte Tonarten, Rhythmen und Künstler erlauben. Klänge zum Zwecke unvernünftiger Lust hält er für ein Übel. Außer Lyra, Kithara und Syrinx lässt er keine Instrumente gelten. Die Musik beschreibt Platon als ein Geschenk der Götter, um in den unharmonischen Zustand der menschlichen Seele die „Harmonie“ zurückzubringen. Demnach übersetzen sich die „richtigen“ Tonarten, Rhythmen et cetera direkt in die menschliche Seele oder haben sich am Ausdruck und Lebensrhythmus des ordentlichen und tapferen Mannes zu orientieren. Das Schöne ist zugleich das Ethische.

Diese Analogie zwischen musikalischer Harmonie und Tugendhaftigkeit gründet letztlich in der Musiktheorie des Pythagoras (ca. 570 bis ca. 510 v. Chr.). Der legendäre Philosoph soll (mithilfe eines Monochords) erstmals die Mathematik der Intervalle beschrieben haben, etwa die Frequenzverhältnisse 2:1 (Oktave), 3:2 (Quinte), 4:3 (Quarte) et cetera. Dass wir ganzzahlige Frequenzverhältnisse als „konsonant“ empfinden, ist für Pythagoras angeblich der Beweis dafür, dass der gesamte Kosmos einer mathematischen Ordnung gehorcht: „Das ist das Wesen der Musik, dass sie die Seele zur Harmonie des Weltalls stimmt.“ Dieser Gedanke hält sich im Grundsatz bis in die moderne europäische Philosophie. Descartes (1596–1650) begründet die große Wirkung der Musik auf den Menschen mit der mathematischen Ordnung der Töne. Noch von Leibniz (1646–1716) stammt der Satz: „Musik ist die versteckte arithmetische Tätigkeit der Seele, die sich nicht dessen bewusst ist, dass sie rechnet.“ Die Musik ist hier ein Modell des Kosmos und des Ethos zugleich.

Die seelische Besserung

Platons zeitweiliger Schüler Aristoteles (384–322 v.Chr.) besitzt offenbar ein liberaleres Verständnis der ethischen Funktion von Musik. Er meint, Musik diene nicht nur der Erziehung, sondern ebenso dem Vergnügen. Sie sorge dabei für seelische Entlastung (wir würden heute sagen: Stressabbau) als auch für seelische Reinigung (wir würden sagen: Abreaktion). In seiner „Poetik“ führt Aristoteles aus, dass eine solche „Reinigung“ durch die Künste auf „Furcht und Mitleid“, also auf Empathie beruht. Man darf also vermuten, dass in Aristoteles’ Menschenbild der glückliche Mensch, der durch die Musik von Affekten gereinigt ist, zugleich der mitfühlende und ethisch handelnde Mensch ist. Die Individualethik (eine heitere Daseinsgestaltung unter anderem durch Musik) wäre demnach zugleich eine Sozialethik (Mitgefühl mit anderen). Letztlich ist das Vergnügen an der Musik ohnehin ein Teil des allgemeineren Vergnügens an der Gemeinschaft. „Demnach zieht man vernünftigerweise die Musik auch beim geselligen Beisammensein zu und beim Zeitvertreib, weil sie eben in der Lage ist, zu erfreuen.“

Im christlichen Mittelalter wird die Musik ganz in den Dienst der (Glaubens-)Ethik gestellt. Platons Ansichten gelangen über Musiktheoretiker wie Boëthius (ca. 480 bis ca. 525) in die Kirchenlehre und werden hier christlich gewendet. Der ethische Gehalt von Musik ergibt sich aus dem frommen Gesangstext, dessen Wirkung sie zu verstärken hat. „Musik zwingt die Gläubigen in den Zustand der bußfertigen Reue“, schreibt schon Augustinus (354–430). Daher ist die reine Instrumentalmusik, die den Gedanken der Gläubigen völlige Freiheit lässt, in der Kirche lange verpönt. Auch Blasinstrumente werden kritisch gesehen, weil sie zu viel eigenen Ausdruck besitzen – hier wirkt Platons Staatslehre nach. Martin Luther (1483–1546) dagegen erkennt den ethischen Eigenwert der Musik, „durch welche die Menschen geduldiger und sanfter und einsichtiger werden“. Indem Musik über „alle Bewegung des menschlichen Herzens“ regiere, könne sie übermäßige Gefühle stillen und dämpfen und „Neid und Hass“ vermindern. Die Klänge berühren uns emotional, stimmen uns weich, friedlich und versöhnlich. Luther empfiehlt sie unbedingt für die schulische Erziehung – anders als sein Zeitgenosse Erasmus (1466–1536), der die Beschäftigung mit Musik in der Schule für pure Zeitverschwendung hält.

Einsam oder gemeinsam?

Es sind die Denker der Romantik, die die Instrumentalmusik zur „idealischen, engelreinen Kunst“ und zum poetischen Geisterreich erklären. Musik, so schreibt E.T.A. Hoffmann (1776–1822), habe „nichts gemein mit der äußeren Sinnenwelt“, sei vielmehr abstraktes Gefühl, eine Art von pseudo-religiöser Offenbarung. Robert Schumann (1810–1856) meint, die wahren Beethoven-Verehrer hörten die späten Quartette nur hinter verschlossenen Türen – „mit Andacht“. Eine erzieherische, auf das praktische Leben bezogene Perspektive der Musik fehlt in der romantischen Kunstreligion. Aus diesem Mangel speist sich der in der Moderne häufiger geäußerte grundsätzliche Zweifel an der ethischen Bedeutsamkeit von Musik. Stattdessen wächst ein Misstrauen gegen ihre moralische Unzuverlässigkeit. Für Sören Kierkegaard (1813–1855) ist die Musik „das Dämonische“ – „das Dunkle, Unerklärliche, Unmittelbare“. Friedrich Nietzsche (1844–1900) mutmaßt, Musik sei etwas für Menschen mit einem „Hang zur Einsamkeit, zu halbdunklen Gedanken und zur Verehrung alles Unaussprechlichen“. Thomas Mann (1875–1955) vergleicht die Musik gar mit einem Aufstand „der Mystik gegen die Klarheit“. 

Ganz im Gegensatz dazu steht die philosophische Grundhaltung der heutigen Musikpädagogik. Sie sieht in der Musik an sich schon ein Modell ethisch verantwortlichen Handelns. Musizieren und Musikhören sind ja Aktivitäten von grundsätzlich friedlicher Natur. Aufbau und Praxis von Musik betonen zudem Kooperation, Gemeinsamkeit, Respekt und Austausch – das gilt für Ausübende wie Rezipierende. Die Struktur von Musik ähnelt dabei der gesprochenen Wortsprache, dem wichtigsten sozialen Verständigungsmittel. Stärker noch als die Sprache erlaubt und fördert sie aber die Interkulturalität. Die Psychologie bestätigt, dass die Musik von früher Kindheit an eine wichtige Rolle für unsere sozialen Bindungen und die Gruppendynamik spielt. Der Anthropologie zufolge war Musik auch bereits für die Entwicklung des Homo sapiens und seiner Kooperationsstrategien wesentlich. „Ohne Musik hätte es der Mensch nicht durch die Evolution geschafft“, schreibt der Musikpsychologe Stefan Kölsch. Musik ist demnach ein zeitloses Modell für soziales, kooperatives, versöhnliches, achtsames Handeln.

Das utopische Spielfeld

Auf dem „Spielfeld“ der Musik wird gemeinschaftliches Verhalten eingeübt. Das Musizieren selbst und die hörende Auseinandersetzung mit Musik konfrontieren uns mit Menschen, Schicksalen, Konflikten, eigenen und fremden Gefühlen, Kommunikationsfragen, kreativen Problemstellungen, Strukturfindungen, Komplexität und Widersprüchen. Wir schulen auf dem Übungsfeld Musik all das, was wir für ein ethisch verantwortliches, gemeinschaftliches Leben benötigen. Der Musikpädagoge Peter W. Schatt sieht zum Beispiel im Musikunterricht eine Hilfestellung für die Schüler, um „ihr künftiges Leben sinnvoller: genussreicher, erkenntnisreicher, aufgeschlossener, vielfältiger, den Möglichkeiten der Welt angemessener, menschenwürdiger gestalten zu können“. Wenn Musik gelingt oder wir Musik als gelungen wahrnehmen, kann sie einen utopischen Entwurf für ein glückvolles Zusammenleben liefern. In diesem Sinn attestierte die deutsche Kultusministerkonferenz dem Musikunterricht schon 1998, er leiste „einen unverzichtbaren Beitrag zur Erziehung des jungen Menschen“.

Die Anleitung zu ethischem, sozialverträglichem Verhalten ist nach dieser Philosophie quasi in der Struktur von Musik verankert. Nicht nur haben Melodien und Rhythmen „sprachähnlichen“ Charakter (das bestätigt die Hirnforschung), sie entwickeln sich auch in einer kommunikativen Frage-und-Antwort-Form. Schon allein das Geflecht der Stimmen, Funktionen und Tonbeziehungen in einem Musikstück kann als Modell für kommunikative, kooperative Vernetzung dienen. „Töne nehmen Bezug aufeinander, sie sind Beziehungswesen, resonieren auf- und miteinander“, schreibt der Musikwissenschaftler Ulrich Mahlert. „Es gibt wohl kein dichteres, subtileres zwischenmenschliches Agieren und Resonieren als im Proben und Spielen von Kammermusik.“ Aber auch wenn Musik solistisch gespielt ist – und selbst wenn sie solistisch improvisiert wird –, sind das Gegenüber, die Gemeinschaft, das soziale Umfeld, die musikalische Sprache, die Musikgeschichte et cetera immer mitgedacht. Theodor W. Adorno (1903–1969) brachte das einmal in den Satz: „Polyphone Musik sagt ‚wir‘, selbst wo sie einzig in der Vorstellung des Komponisten lebt und keinen Lebenden sonst erreicht.“

Zur Vertiefung:

  • Musik und Ethik. Ansätze aus Musikpädagogik, Philosophie und Neurowissenschaft, hrsg. von K. Bradler und A. Michel, Waxmann Verlag 2020

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