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Ein subversives Netzwerk im Untergrund

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nmz-Gespräch mit Philip Boa über seine Karriere und die Zukunft der Pop-Musik
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Vielleicht verkörpert kein anderer so exemplarisch das Schicksal der Pop-Musik in Deutschland seit Mitte der 80er-Jahre wie Philip Boa: ein Gespräch über himmelstürmende Karrieren, jähe Katastrophen, notwendige Einsamkeit und die Lust auf Kooperation.

Vielleicht verkörpert kein anderer so exemplarisch das Schicksal der Pop-Musik in Deutschland seit Mitte der 80er-Jahre wie Philip Boa: ein Gespräch über himmelstürmende Karrieren, jähe Katastrophen, notwendige Einsamkeit und die Lust auf Kooperation.Aller Anfang ist groß. Zumindest in der britischen Pop-Presse, deren Spezialität das permanente Ausrufen neuer Trends und die totale Vergesslichkeit ist: „Seit langer, langer Zeit habe ich keine Pop-Musik mehr gehört, die so kraftvoll und subversiv ist.“ Das schrieb Mick Mercer im „Melody Maker“. Und Andy Gill vom Konkurrenz-Blatt NME sekundierte pflichtschuldigst, um nur ja nichts zu verpassen: „Ein Sound, wie ich ihn noch nie gehört habe.“

Was wird da beschrieben? Die Anfänge der Beatles, der Stones oder zumindest der Sex Pistols? Nein, das Debüt einer deutschen Band: „Philistrines“ von Philip Boa und seinem Voodoo Club. Das war Mitte der 80er- Jahre. C-86 war gerade das „große Ding“, womit ein Jahrgang genauso beschrieben wurde wie eine Aufnahme- und Vertriebstechnik, die sich der Kontrolle der großen Konzerne entzog.

Ein neuer Sommer der Liebe im Zeichen großer, orgiastischer und damals noch gitarrenbestimmter Raves stand bevor. Philip Boa war ein junger Mann, der nach der Devise „wir wollen alles und zwar sofort“ gleich zwei Karrieren startete: die eine als Komponist und Sänger, die andere als Label-Boss. In seiner Erinnerung sieht das so aus: „Wir haben unser erstes Album auf Red Flame veröffentlicht; das war damals ein renommiertes britisches Label; wir dachten transnational.“ Und Boa Constrictor? „Ja. Das war unser eigenes Label. Keine Firma, um das große Geld zu machen. Eher ein Unternehmen, das die Musik, die wir selber hören wollten und die schwer zu bekommen war, zugänglich machen sollte.“ Und das Programm? „Kein explizites Programm. Schräges Indie-Zeug im Wesentlichen. Sachen, die in der SPEX diskutiert und gut besprochen wurden.“ Schon damals war das zentrale Motiv „die Idee einer Kollektivität“, wie Boa es heute nennt, die Vorstellung, Teil einer Bewegung zu sein, zusammen mit anderen Musikern groß zu werden und nicht gegen sie. Dieses „nicht gegeneinander“ bestimmt seine Arbeit bis heute. Es kehrt im nmz-Gespräch anlässlich der Veröffentlichung seines neuen Albums „The Red“ wie ein Mantra wieder: an die Stelle der Konkurrenz soll die Kooperation treten. Nicht der Kampf um die knappen Kuchenkrümel bestimmt das Denken und Handeln, sondern gewissermaßen das Backen des Kuchens. Nicht die Verteilung oder der Konsum von Reichtum, sondern seine Herstellung: das kulturelle Kapital soll sich den üblichen Kreisläufen entziehen.

In vielem erinnert die Karriere des Underground-Gurus Philip Boa, der halb wider Willen zum Pop-Star mutierte, an das Schicksal Kurt Cobains – nur dass Boas Boom nicht in der Katastrophe, sondern im mutwilligen Abseits endete. Aber wie der Charismatiker Cobain, so kam auch der Charismatiker Boa nur schlecht mit seinem Erfolg, mit der Vorbild- und Stellvertreter-Funktion, mit der neuen Verantwortung zurecht: „Es wurde zu schnell zu groß. Es waren Entscheidungen zu treffen, die mich überforderten; die ich vielleicht auch gar nicht wollte.“ Auch Cobain wollte sich nach dem Mega-Seller „Nevermind“ in den unkonsumierbaren Lärm flüchten: so schräg sein, dass die Idee der Gefolgschaft scheitern muss. Boa, der beinahe schon im Pop-Olymp angekommen war, machte aus dem Voodoo-Club ein Metal-Projekt: „Das war sogar für die Hardcore-Fans schwierig.“ Und, vielleicht mit einem leichten Bedauern: „Davon habe ich mich bis heute nicht erholt.“

Es folgten der Rückzug, die Verweigerung, das Malteser Exil. Das ist das eine, dunkle, weltabgewandte Gesicht Boas. Das andere ist das kooperationsbereite, ja oft sogar -süchtige. Wenn er nicht schon ein wenig zu alt dafür und die Rolle längst anderweitig besetzt wäre, würde er vermutlich singen: „Ich will Teil einer Jugendbewegung sein.“

So sucht er, der immer und heute mehr denn je Songwriter sein und eine Songwriter-Band haben möchte, den Anschluss an die avanciertesten Technologien und Verarbeitungsformen: Remix heißt die Devise. Ein Netzwerk der Schöpfer kann so entstehen, wo jeder an den Ideen des anderen weiterarbeitet.

70 Boa-Remixe gibt es mittlerweile, irgendwann, das ist derzeit vielleicht Boas größter Traum, soll ein Tripel-Album erscheinen. Auf den Beitrag von Aphex Twin ist er unüberhörbar besonders stolz. Und sonst, die anderen Kooperationen? Selbst die Pop-Autorin Sibylle Berg („Sex II“) ist ja auf seinem neuen Album zu hören: „Das ist natürlich auch immer Zufall. Ich habe nach einer deutschen Stimme gesucht, aus dem Alltag. Ich selbst kann nicht deutsch schreiben oder singen. Sibylle Berg habe ich bei einem Interview für „Die ZEIT“ kennen gelernt.

Sie selbst hat eine Zeit lang bei ihren Lesungen Boa-Musik aufgelegt. So kam das zustande.“
Auch ansonsten ist das Remix- und Kooperations-Modell natürlich zufallsoffen. Kontingenz erzeugt Kreativität. Boa: „Am besten gefallen mir oft die Bearbeitungen, in denen die Vorgabe, also der Song, scheinbar vollkommen ignoriert wird; wo etwas radikal Neues, Anderes entsteht. Aber selbstverständlich fordert jede Interpretation, jeder Bearbeitungsvorgang den Autor und Komponisten heraus. Er lernt dabei, wird selbst ein anderer.“

Boa zwischen Song und Sound. Für ihn kein Gegensatz. Denn auch als Komponist ist für ihn der „Groove“ entscheidend. Dass man sich bei seinem neuen Album kaum ruhig halten kann, ist für ihn das größte Kompliment.

Dabei liebt er die Abstraktion und Reduktion. Schneider TM geht dabei, auf dem Intro des Albums, vielleicht am weitesten. Aber bei ihm bleibt ja auch noch der synthetischste Klang immer ganz und gar physisch: ein osmotischer Vorgang, ein durchdringendes Ereignis.

Auf „The Red“ – das Cover zitiert den vor kurzem verstorbenen britischen Abstrakten Victor Pasmore – gibt es die Zusammenarbeit mit Kreidler, Stella und Notwist, also der nächsten Generation, und, besonders explizit, mit dem Miles-Sänger Tobias Kuhn. Kooperation, kein Konkurrentismus, lautet Boas Devise. Was in den 80ern schon Arbeitsweise und Programm seines Labels Boa Constrictor bestimmte, kehrt jetzt etwas verändert wieder. Nicht nur ein ästhetisches, sondern auch ein politisches Projekt. Zusammenhang und Zusammenhalt in den Zeiten des Neoliberalismus und seiner nichtakademischen Realität: des „Raubtier-Kapitalismus“.

Aktuelles Album

Philip Boa & the Voodooclub: The Red, BMG/RCA

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