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Musik war auf dem 28. Evangelischen Kirchentag in Stuttgart omnipräsent. Morgens empfingen einen Choralbläser auf dem heimischen S-Bahnhof, nachmittags beschwingte Dixieland-Klänge vor einer der Kirchen und spät nachts im Hauptbahnhof Bachsche Präludien und Fugen aus dem „Wohltemperierten Klavier“. Und die Jugend brachte mit ihren Papphockern auch ihre eigene Musik mit, vom Song – wie das gute alte Kirchenlied heutzutage heißt – bis zum Rap. Die swingende und ravende Kirche ist offen geworden, aber auch brav – so angepaßt, daß der prominente Gast Rudolf Scharping für seine Verteidigung des NATO-Krieges in Serbien kaum Widerspruch erntete.
Ähnlich pluralistisch gestreut war das Kulturprogramm, aus dem das Projekt der vier in Württemberg ansässigen Musikhochschulen herausragte. Unter dem Kirchentagsmotto „Wenn das Salz kraftlos wird“ präsentierten die Studierenden auf dem Hauptbahnhof ein viertägiges, anspruchsvolles Nonstop-Programm mit Andachten, Lesungen, Konzerten und künstlerischen Aktionen. Ein solches Engagement ist aller Ehren wert, aber doch wohl der falsche, untaugliche Versuch, Nachdenken, Besinnung und Stille in die Unrast des täglichen Lebens einer Großstadt zu tragen. Bevor das Wort Fleisch werden kann, bedarf es der Irritation, des schmerzhaften Stachels. Die meisten Passanten nahmen das Zusammentreffen von Kunst, Kirche und Kommerz als Happening, als bunte Abwechslung in einem Eventangebot, das heute alles zur Show degradiert. Und Eingedenken ist in der Musik eben doch zunächst eine Frage des Lärmpegels!
Konzentration auf die eigene Sache, die in der Musik ja nicht nur eine „erhöhte“, sondern mehr noch eine „erhörte“ Bereitschaft voraussetzt, aber führt ins Abseits. Das demonstrierten grosso modo die vier der „Kirchenmusik im 20. Jahrhundert“ gewidmeten Konzerte. Mit Ausnahme der freilich auch nicht ausverkauften „Lukas-Passion“ von Krzysztof Penderecki blieben hier die Eingeweihten unter sich. Selbst die Aufführung von Franz Schmidts selten zu hörendem spätromantischen Oratorium „Das Buch mit sieben Siegeln“ auf Texte der Offenbarung fand vor gähnend leerem Saal statt – ein Desinteresse, das weder das eigenwillig-spröde Werk noch die inspirierte Interpretation durch den Konzertchor Darmstadt und die Stuttgarter Philharmoniker unter der
Leitung Jörg-Peter Weigles verdient hatten.
Geistliche Musik ist heute funktionslos, weil sie keiner Liturgie mehr dient. Das gilt auch für die Programme der beiden übrigen, kleinbesetzten Chorkonzerte, die neben Uraufführungen von Jonathan Harvey („Marah I“), Pierluigi Billone („Scrittura. Cammino“) und Salvatore Sciarrino („Cantare con silenzio“) noch Kompositionen von Morton Feldman („For Stefan Wolpe“), Brian Ferneyhough („Funérailles“) und Luigi Nono („Quando stanno morendo“) vorstellten. Diese Werke gründen – bei aller Unterschiedlichkeit – nicht mehr oder nicht allein im religiösen, sondern in einem umfassend spirituellen Bewußtsein von der Vergänglicheit des Menschen und der Gefährdung der Schöpfung.
„Die Zeit der Stille und der Risse ist angebrochen“, heißt es in den Erläuterungen Sciarrinos – ein Satz, der für alle diese Komponisten gleichermaßen gilt. Vertraute Penderecki in seiner bereits merkwürdig abgestanden, manchmal fast sentimental wirkenden „Lukas-Passion“ noch der großbögigen Bachschen Passionsform, wobei die Musik nur hin und wieder die Semantik des Textes unterläuft oder gar zerstört, so ist es für die jüngere Komponistengeneration charakteristisch, die Dissoziation des vokalen wie instrumentalen Gestus bis an die Grenzen des Fragmentarischen, ja des Stillstands auszureizen. Das gilt für Harveys mehrschichtige Klanggestaltung wie für Billones subtile Raumdramaturgie. Beide Male enstehen klingende Sprachlandschaften, in denen die vokale Artikulation vom Brummen bis zur belcantistischen Phrase, vom Tierlaut bis zum Schrei eine schier unerschöpfliche Ausdrucksskala durchläuft. Das dergestalt in seine phonetischen Bestandteile zerlegte Wort nimmt geradezu magische Klangwirkungen an.
Reduktion der Mittel kennzeichnet auch Salvatore Sciarrinos Chorwerk „Cantare con silenzio“, in dem virtuose Klangexperimente der Flöte – ein Instrument, für das der Sizilianer seit jeher eine Vorliebe besitzt – mit extremst artikulierten Vokalpassagen abwechseln. Der von Sciarrino angezielten „Wahrnehmungsreinigung“ dienen auch die mit Klangsteinen erzeugten Geräusche sowie aggressive Pistolenschüsse. Im selben Konzert erklang noch Luigi Nonos 1981/82 entstandene Komposition „Quando stanno morendo“, die sich heute bereits wie ein Klassiker ausnimmt. Nono ist es in dieser rituellen Klage gelungen, der Gefahr der Geschwätzigkeit und leeren Repetition auszuweichen, der so manches Experiment erliegt. Er treibt die vier Frauenstimmen in gleichsam überirdisch verklärte Regionen und weitet die Töne der Baßflöte und des perkussionsartig verwendeten Cellos elektronisch zu einem Raumklang von beklemmender Wirkung aus.
„Quando stanno morendo...“ – „Wenn sie sterben, singen die Menschen.“ Nonos kompromißloses Werk bezeichnet den Ort, an dem sich eine gleichermaßen engagierte wie radikal spirituelle Kunst heute befindet: im Abseits. In der Diaspora überwintert die Hoffnung. Oder, wie Nono es ausgedrückt hat: „Das Moment der Katastrophe ist im Sinnbild der Apokalypse nicht von dem der Erlösung zu trennen.“ So sind die Künstler mit ihrer messianischen Vision heute einer populistisch hinter dem Trend hinterherhetzenden Kirche voraus. Die Interpreten der beiden Uraufführungskonzerte – das SWR-Vokalensemble unter Rupert Huber und Johannes Uhle sowie die Neuen Vocalsolisten Stuttgart mit dem phänomenalen Flötisten Mario Caroli unter Manfred Schreier – leisteten Außerordentliches. Es waren musikalische Ereignisse, die am Kirchentag vorbeigingen, die er aber immerhin ermöglicht hat.