Wie weit ist es von Hannover nach Weikersheim? Der geografische Ort des Sitzes der Jeunesses Musicales Deutschland, die Abgeschiedenheit, über die manch ein Kongressteilnehmer am Anreisetag klagte – beides eine Frage des Standpunktes, den von Hannover aus zu bestimmen sich anbietet. Wir erinnern uns: „Kinder und Musik im 21. Jahrhundert“, die Auftaktveranstaltung der angeblichen Dachkampagne „Hauptsache: Musik“, war der groß angelegte Versuch, ein Netz in Sachen musikalische Bildung möglichst flächendeckend und medienwirksam auszuwerfen. Kleine Fische also im Weikersheimer Beiboot?
Wohl kaum, der Kongress „Neue Wege für junge Ohren“ zielte vielmehr auf eine engmaschigere, weil thematisch klarer abgegrenzte Fangquote in internationalem Gewässer. Die Neugier, von anderen Ländern lernen zu können, aus vorgestellten Konzepten Anregungen zu beziehen, durchzog den dreitägigen Kompetenzaustausch auf so dominierende Weise, dass es schon beinahe erleichternd war, eine organisatorisch und finanziell so beeindru-ckend unterfütterte Kinderkonzertreihe wie die der New Yorker Carnegie Hall musikdidaktisch auf solch bescheidenem Niveau angesiedelt zu sehen. Der künstlich erhobene Zeigefinger, den Phyllis Beeson Barbash über die fantasielose Hörpartitur „aus der neuen Welt“ wandern ließ, war hier das erheiternde Pars pro Toto. Sonst hätte man über die Lebendigkeit und Professionalität der Präsentationen aus England und Schottland, über die beeindruckende Konsequenz und Vielfalt des staatlichen norwegischen Konzertinstituts fast vergessen können, dass es auch hier zu Lande eine Reihe hochklassiger Angebote gibt, die lediglich für neue Zielgruppen oder auf neue Programme hin zu adaptieren, zu multiplizieren wären.
Der schnell und durchaus berechtigt vorgetragene Einwand von der beschränkten Übertragbarkeit ausländischer Modelle darf den Blick dafür nicht versperren, dass sich in Deutschland mitunter diejenigen Institutionen aus der Verantwortung stehlen, die in Sachen Konzertpädagogik eigentlich in der Pflicht stünden: die Veranstalter von Hochglanz-Aboreihen und die subventionierten Kulturorchester, die offenbar nicht einmal der Selbsterhaltungstrieb aus der Lethargie zu zwingen vermag. Letzteren sind zwar englische Verhältnisse nicht unbedingt zu wünschen, dass dort staatliche Subventionen aber mit der Auflage verknüpft sind, eben so mit Kindern zu arbeiten wie es beim London Symphony Orchestra oder beim Royal Scottish National Orchestra geschieht, stimmt schon nachdenklich.
Drei Dinge, so könnte man vereinfachend zusammenfassen, sind vonnöten, will man die deutsche Kinderkonzertszene qualitativ und quantitativ beleben: Inhalt, Marketing und Kulturpolitik. Und es ist bezeichnend, dass beim „Neue-Wege-Kongress“ die erste Gruppe personell stark, die zweite schwach und die dritte nicht vertreten war. Die Verknüpfungen sind klar: Ohne Inhalte keine vernünftigen Konzerte für Kinder, ohne Marketing keine wirtschaftliche Basis, ohne Kulturpolitik keine Öffentlichkeit und kein institutionelles Umfeld.
In Sachen Inhalte wäre es an der Zeit, die Impulse des Kongresses und anderer Begegnungen aufnehmend, die Qualität vorhandener Modelle kritisch zu hinterfragen und bei Bedarf entsprechend weiterzuentwickeln. Dies erfordert von den „Machern“ freilich auch die Fähigkeit, mit der (Selbst-)Kritik leben und konstruktiv umgehen zu können.
Was den Bereich Marketing angeht, so sind Kulturmanager gefragt, die in der Lage sind, das „Produkt Kinderkonzert“ an Kinder, Eltern, Schulen, Sponsoren und Politiker so zu verkaufen, dass das „Kulturgut Kinderkonzert“ dabei keinen Schaden nimmt.
In der kulturpolitischen Auseinandersetzung schließlich käme es darauf an, den Verantwortlichen das Thema Konzerte für Kinder als Möglichkeit zur Profilierung und Konkretisierung blumiger Absichtserklärungen so schmackhaft zu machen, dass ihnen nur noch der Sprung auf fahrende Züge bleibt.
Womit wir wieder in Hannover wären: Es kann nicht darum gehen, zwei konzeptionell so verschiedene Veranstaltungen gegeneinander abzuwägen, sie müssen vielmehr zusammen gedacht werden im Kontext einer dort breit gestreuten, hier trotz der hohen Teilnehmerzahl beinahe familiär gebündelten Signalwirkung, die aus Weikersheimer Sicht das Motto tragen müsste: Musikalische Bildung ist das Thema, Konzerte für Kinder sind der Testfall!