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Max Fuchs: Notizen zur Europäischen Kulturpolitik

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Der Vorsitzende des Deutschen Kulturrates, Prof. Dr. Max Fuchs, diskuttiert am Freitag, den 08. Juni 2007, auf dem 4. Kulturpolitischen Bundeskongreß der Kulturpolitischen Gesellschaft in dem Panel "europa.macht.kultur - aber wie? Anforderungen an eine europäische Kulturpolitik der Zukunft" mit. Im Folgenden senden wir Ihnen zu diesem Anlass seinen aktuellen Text "Kultur in Europa - Notizen zur Europäischen Kulturpolitik und zur Mitteilung der EU-Kommission“.

Max Fuchs

Kultur in Europa - Notizen zur Europäischen Kulturpolitik und zur „Mitteilung der EU-Kommission“
Die Rolle der Europäischen Union in der Kulturpolitik
Was heißt Integration
Konzeptionen von Kulturpolitik
Die Mitteilung der Kommission zur Kulturpolitik
Bewertung und Forderungen

1. Die Rolle der Europäischen Union in der Kulturpolitik

Dies vorab: Kultur in Europa braucht offensichtlich keine gezielte europäische Kulturpolitik. Zumindest ist sie ohne eine (zentral gesteuerte) Kulturpolitik entstanden. Wie die reichhaltige Kulturgeschichte Europas zeigt, haben sich die Künste, aber auch die Sprachen, Religionen, Lebensweisen, Wissenschaften und all das, was man je nach bevorzugtem Kulturbegriff zu „Kultur“ rechnen will, sehr gut entwickelt. Insbesondere gilt dies für die Kultur in den Ländern der Europäischen Union. Man hat sich daher sogar die Frage gestellt, ob man überhaupt eine Europäische Kulturpolitik braucht – und wer diese entwickeln, gestalten und ausführen soll. Allerdings lohnt sich eine allzu kritische Infragestellung einer europäischen Kulturpolitik nicht mehr. Denn inzwischen gibt es eine rechtliche Basis für kulturpolitisches Handeln der Union durch Art. 151 des EG-Vertrages von Amsterdam, der hier seiner Bedeutung wegen vollständig wiedergegeben werden soll:
Die Gemeinschaft leistet einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedsstaaten unter Wahrung ihrer nationalen und regionalen Vielfalt sowie gleichzeitiger Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes.
Die Gemeinschaft fördert durch ihre Tätigkeit die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und unterstützt und ergänzt erforderlichenfalls deren Tätigkeit…
Die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten fördern die Zusammenarbeit mit dritten Ländern und den für den Kulturbereich zuständigen internationalen Organisationen, insbesondere mit dem Europarat.
Die Gemeinschaft trägt bei ihrer Tätigkeit aufgrund anderer Bestimmungen dieses Vertrags den kulturellen Aspekten Rechnung, insbesondere zur Wahrung und Förderung der Vielfalt ihrer Kulturen.
Dieser Artikel, ein Ergebnis eines langwierigen Aushandlungsprozesses, der zudem auf langjährigen Erfahrungen mit der Förderung von Kultur basiert,
verleiht kulturpolitischem Handeln der EU Legitimität,
legt inhaltliche Ziele, Bereiche und Begrenzungen fest (Ziffer 2),
setzt sich in einen Kooperationszusammenhang mit anderen Akteuren (Ziffer 3),
formuliert eine Kulturverträglichkeitsklausel (Ziffer 4),
beschreibt Handlungsformen und Prozedere (Ziffer 5).
Eine wichtige Erkenntnis der letzten Jahre, zu der gerade die EU beigetragen hat, besteht zudem darin, dass Kulturpolitik nicht nur dort praktiziert wird, wo von dieser explizit die Rede ist (also etwa im genannten Artikel 151, wobei die dort angesprochenen Fördermaßnahmen den immer wieder belächelten oder skandalierten Betrag von 7 Cent pro EU-Bürger ausmachen).

Kulturpolitik wird nämlich sehr viel entscheidender in der Binnenmarkt- oder Rechtspolitik der EU betrieben, also dort, wo das Urheberrecht oder die Ausdehnung des freien Binnenmarktes auf Kunst und Medien geregelt werden, wo also eigentlich Ziffer 4 von Art. 151 greifen müsste.

Ein Mangel an der (deutschen) Debatte über die Kulturpolitik der EU besteht dabei darin, meist nur die Kulturförderprogramme als Kulturpolitik der EU zu thematisieren und den sehr viel größeren kulturpolitischen Einfluss in den anderen Ressorts zu vernachlässigen.

Die EU hat erhebliche Auswirkungen auf die Gestaltung der Europäischen Kultur, allerdings gerade nicht dort, wo sie der EG-Vertrag regelt und wo sie in der Organisationsstruktur der Kommission ressortiert.

Europa und die EU sind allerdings gerade in Hinblick auf die kulturelle Entwicklung nicht dasselbe.

Spricht man von einer Europäischen Kulturpolitik, so werden die meisten zuerst an den Europa-Rat denken. Dieser wurde 1949 gegründet mit den Zielen
Stärkung der Prinzipien der Demokratie und der Menschenrechte,
Suche nach Lösungen großer gesellschaftlicher Probleme (Rassismus, Umweltschutz, Intoleranz etc.),
Stärkung der europäischen Identität.
Diese Ziele wurden in der Europäischen Kulturkonvention von 1954 präzisiert, u.a.

Schutz des gemeinsamen kulturellen Erbes,
Förderung der Sprachen,
Abstimmung der nationalen Kulturpolitiken,
Bewegungsfreiheit und Austausch von Kulturgütern und Personen.
Letztlich – obwohl nicht explizit so genannt – geht es (auch) um die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Identität.

Die Arbeit des Europa-Rates geschieht in weitgehend hierarchiefreien Netzwerken. Allerdings stehen fast keine Mittel zur Verfügung, um mehr als ideelle und konzeptionelle Impulse zu geben. Immerhin ist der Europa-Rat bis heute diejenige europäische Instanz, die die Dimension „policy“, also Ziele, Inhalte und Konzepte von Kulturpolitik qualifiziert füllt. Und diese inhaltliche Füllung läuft – dies zeigen bereits die aufgeführten Ziele – auf eine Bestimmung von Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik hinaus. Zuletzt wurde dieser Ansatz durch die Schrift „In from the Margins“ ausformuliert, der als europäischer Beitrag Europas zur Weltdekade Kultur und Entwicklung verstanden wurde.

Diese erste Sichtung dessen, wer auf welche Weise (Akteure; politics) was (Inhalte; policy) mit welchen Mitteln und Institutionen (polity) auf europäischer Ebene im Kulturbereich tut, hat zumindest gezeigt, dass eine Fokussierung des Blicks bloß auf den für Kultur zuständigen Kommissar innerhalb der Kommission der EU eine viel zu enge Perspektive wäre.
Dabei wurde die wichtiger werdende Rolle des Europäischen Parlaments, wurde die Rolle der (Kultur-)Wirtschaft, wurden die europäisch wirksam werdenden Folgen je nationaler Kulturpolitiken (etwa der Film- und Musikförderung) noch gar nicht erwähnt.

Aber immerhin lassen sich einige wichtige Erkenntnisse formulieren:
Die europäische Kulturarena kennt sehr viel mehr Akteure, Inhalte, Interessen und Einflussfaktoren, als der Blick auf die Generaldirektion „Kultur“ vermuten lässt.
Es lohnt sich, die inzwischen in der Politikwissenschaft etablierte Dreigliedrigkeit de Begriffsbestimmung von Politik (policy, politics; polity) auch auf die europäische Kulturpolitik anzuwenden und systematisch nach Inhalten, Zielen und Konzepten, nach Akteuren und Handlungsformen und nach Institutionen zu fragen.
Als gemeinsamer Kern kulturpolitischer Aussagen von Europa-Rat und EU lassen sich die folgenden Ziele und Bereiche identifizieren:
Schaffung eines Bewusstseins über die europäische Geschichte,
Förderung und Schutz der Vielfalt der Sprachen,
Förderung und Schutz des Reichtums des Kulturerbes aber auch
die Bedeutung des freien Austausches von Personen und Kulturgütern,
die Verpflichtung auf Menschenrechte und demokratische Strukturen.

In einem zweiten Schritt erscheint daher die Frage sinnvoll, ob und wie auf nationaler Ebene diskutierte Konzepte von Kulturpolitik auch auf der europäischen Ebene sinnvoll angewandt werden können (Abschnitt 3). Doch soll vorab die oben angesprochene Frage nach relevanten Akteuren, speziell nach der Rolle eines (wie auch immer gearteten) „Staates“ auf Europa-Ebene beleuchtet werden.

2. Was heißt Integration?

„Integration“ meint üblicherweise die Bildung übergeordneter Einheiten, in die sich Einzelne oder Gruppen einordnen. In sozialer Hinsicht kann dies die Einordnung von Einzelnen oder Gruppen in vorhandene Gemeinschaften oder Gesellschaften sein. Man kann sich etwa in ökonomischer Hinsicht in übergeordnete und/oder übergreifende (Wirtschafts-)Systeme einordnen. Man spricht zudem von politischer Integration, wenn sich politische Gebilde ein gemeinsames Dach geben, unter dem sie sich mit Teilbereichen ihres Tätigkeitsfeldes (z. B. militärisch wie bei der NATO) oder auch insgesamt (etwa in einem föderalen System) einordnen.

Bei der Rede von einer „Europäischen Integration“ wird dabei fast ausschließlich der Weg von der Montanunion über die EWG bis zur EU gemeint. Dieser Prozess wird auch als Weg der europäischen Einigung bezeichnet, was insbesondere das Faktum hervorhebt, dass Friedenssicherung in einer traditionell kriegsreichen Region ein zentrales Anliegen der Einigungsbestrebungen war.

Dieser Weg einer europäischen Einigung, dieser Prozess der europäischen Integration wurde zunächst und bis heute erfolgreich ökonomisch beschritten. Man hat zwar zwischenzeitlich auch mit einem eigenen Militärbündnis (EVG) experimentiert. Dies ist jedoch gescheitert.
Man hat schließlich aus einem ökonomischen Bündnis ein politisches Bündnis konstruiert. Allerdings ist ein bislang letzter Schritt, diesem neu geschaffenen politischen Gebilde „Europäische Union“ eine Art Verfassung (es ist bloß von einem Verfassungsvertrag die Rede) zu geben, einstweilen gescheitert. „Europäische Integration“ bedeutet heute eine weitgehend gelungene ökonomische und eine in Grenzen funktionierende politische Integration.

Sinnvoll ist nunmehr die Frage nach Möglichkeiten weiterer Integrationsformen. So spielt das Problem eines (einheitlichen und abgrenzbaren) Kulturraums Europa eine große Rolle. Viele meinen, dass ein solcher Raum – gekennzeichnet durch Vielfalt – immer schon aufgrund der gemeinsamen Geschichte existiert (vgl. Seibt: Die Begründung Europas; 2002 sowie Joas/Wiegand (Hg.): Die kulturellen Werte Europas; 2005). „Integration“ ist jedoch auch ein soziologischer Begriff und bezieht sich auf den Zusammenhalt einer Gesellschaft und die Teilhabe des Einzelnen an gesellschaftlichen Prozessen. Ganzheitsbegriffe wie „Gesellschaft“ korrespondieren nämlich mit Teilhabebegriffen („Partizipation“) auf der Seite des Einzelnen. Soziale, ökonomische, politische, kulturelle Teilhabe ist dabei als Menschenrecht abgesichert. Auch das aktuell diskutierte Konzept der Citizenship – nur missverständlich mit Staatsbürgerschaft übersetzt – ist ein Konzept der Teilhabe. Über die Teilhabe an einem Ganzen entsteht eine Identifikation mit diesem Ganzen, seinen Werten, Zielen und Prinzipien. „Identifikation“ ist der Prozess der Identitätsbildung. Dieser Prozess ist ein aktiver Prozess der Konstruktion, zu der wesentlich die kommunikative Aushandlung gehört. Man hat also ein dreipoliges Beziehungsgeflecht kollektives Handeln – öffentliche Kommunikation – kollektive Identitätsbildung. In Hinblick auf die EU wird deutlich, dass in diesem dreigliedrigen Bezugssystem die drei immer wieder genannten Defizitbereich anzusiedeln sind:
das Defizit an europäischer Identität,
das Defizit an europäischer Öffentlichkeit,
das Defizit an Demokratie.
Treffen diese Überlegungen zu, dann liegt das Grundproblem der EU nicht nur in unübersichtlichen und bürokratischen Regulierungsverfahren, die die Menschen abschrecken, an einem Mangel demokratischer Legitimation, an der Schwäche des Parlaments gegenüber dem exekutivlastigen EU-Politikverständnis: Die Grundlage all dieser Defizite wäre dann vielmehr in gesellschaftlichen Problemlagen zu suchen. Genauer: In einer nur rudimentär entwickelten europäischen Gesellschaft, zu der dann auch eine funktionierende Öffentlichkeit und eine lebendige Welt zivilgesellschaftlicher Organisationen gehören würde. Die EU hätte dann nicht nur ein politisches (und somit politikwissenschaftlich zu bearbeitendes) Problem, sie hätte vielmehr vor allem ein soziales (und somit soziologisch zu erfassendes) Problem. „Integration“ bleibt in dieser Sichtweise dann auch der Schlüsselbegriff, so dass in einer soziologischen Perspektive Möglichkeiten einer (sozialen) Integration zu betrachten wären. Dazu zählt man üblicherweise eine Integration über Werte, über Recht, über Sprache, über Lebensstile, über Ökonomie, über gemeinsame äußere Feinde.
Im Hinblick auf die kulturelle Dimension könnte man dann fragen, ob und wie kulturelle Aktivitäten, die durch eine geeignete Kulturpolitik anzuregen wären, solche Prozesse der (sozialen) Integration angestoßen werden können. Hierbei könnte hilfreich sein, nationale Konzeptionen von Kulturpolitik im Hinblick auf eine Relevanz für die EU zu überprüfen. Dies kann hier allerdings nur kursorisch geschehen.

3. Konzeptionen von Kulturpolitik

In der noch jungen Geschichte von Kulturpolitik haben sich unterschiedliche Konzeptionen und Verständnisweisen ausgebildet, die hier – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – benannt werden sollen.

Kulturpolitik als Staatshandeln
Kulturpolitik dient in diesem Verständnis dem starken Interesse des Staates und der jeweiligen Machthaber, eigene Ziele und Vorstellungen durchzusetzen. Außerstaatliche, etwa zivilgesellschaftliche Akteure spielen keine Rolle. Aufgabe ist die Herstellung von Massen-Loyalität einer meist nationalistischen Politik. Die EU hat aufgrund ihrer Exekutiv-Lastigkeit durchaus eine Tendenz zu einer solchen staatszentrierten Sichtweise. Ein Gegengewicht zur Dominanz der Kommission ist jedoch die immer noch vorhandene und weitgehende nationale kulturpolitische Souveränität, die Vielzahl der EU-Mitlieder und eine auch vorhandene Tradition der Konsultation mit außerstaatlichen Akteuren. Zudem gewinnt das Europäische Parlament gerade in Fragen der Kultur- und Medienpolitik an Gewicht.

Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik
Ein solcher Ansatz wurde idealtypisch vom Europa-Rat entwickelt. Er legt nahe, mit (zivil)-gesellschaftlichen Gruppen zu kooperieren, weil man nur mit diesen gesellschaftliche Entwicklungsprozesse vorantreiben kann. Offensichtlich liegt es nahe, dass bei der Beseitigung der drei Hauptdefizite der EU und einer notwendigen entsprechenden Veränderung der gesellschaftlichen Grundlagen, die diese verursachen, ein solcher Politikansatz zu empfehlen ist.

Kulturpolitik als Politik der Anerkennung
Ein solcher Ansatz kann als spezifische Ausrichtung der letztgenannten Konzeption verstanden werden. Hier geht es etwa darum, die Vielfalt von Lebensweisen auch in der Förderpolitik zu berücksichtigen. Wichtig ist jedoch dabei, nicht nur eine ohnehin schon stattfindende Ausdifferenzierung zu unterstützen, sondern gleichzeitig ein Gemeinsames zu fördern. Das Motto der EU lautet nämlich „In Vielfalt geeint“; Artikel I-8 des Verfassungsentwurfs).

Kulturpolitik als kulturelle Ordnungspolitik
Dieses Politikverständnis ist zweifellos hochrelevant für die EU. Es wird hierbei (wie oben beschrieben) nur allzu oft übersehen, dass es hierbei gerade nicht die für Kultur zuständigen Ressorts sind, die kulturpolitisch besonders wirksam sind. Es geht daher darum, noch offensiver als bisher das Instrument der Kulturverträglichkeitsklausel anzuwenden.

Kulturpolitik ist kulturelle Wirtschaftspolitik
Wer das Programm der deutschen Bundesregierung zur EU-Präsidentschaft durchliest, wird keinen Mangel an der Hervorhebung der Rolle der Kultur- und Kreativwirtschaft feststellen können. Es wird daher auf zweierlei ankommen: Zum einen im Sinne der von der EU zu ratifizierenden Konvention zur kulturellen Vielfalt kleine kulturwirtschaftliche Aktivitäten vor den großen Global Players im Kultur- und Medienbereich zu schützen, d. h. insbesondere, energisch den Schutz der Medien und der Kultur gegenüber der WTO zu betreiben. Zum anderen geht es darum, Kulturwaren als Waren besonderer Art zu begreifen, d. h. sie als Teile der Daseinsvorsorge zu verstehen (mit Konsequenzen etwa auf die Dienstleistungsrichtlinie).

Kulturpolitik als kulturelle Bildungspolitik
Hier muss die EU ihre Tendenz überwinden, Bildung vorrangig unter der Perspektive ökonomischer Verwertbarkeit zu sehen. ‚Employability’ ist natürlich ein wichtiges Bildungsziel. Die ganzheitliche Entwicklung der Persönlichkeit geht jedoch weit darüber hinaus und ist Teil der europäischen Geschichte und Identität.


4. Die Mitteilung zur Kulturpolitik und die Kulturprogramm der EU

Im Mittelpunkt der Kulturprogramme steht KULTUR 2007 mit einer Laufzeit von 2007 bis 2013 und einem Volumen von 408 Mio. Euro. Es hat die drei schon benannten Ziele:
Unterstützung der Mobilität von Menschen aus dem Kultursektor,
Unterstützung des Vertriebs von Kunstwerken,
Förderung des interkulturellen Dialogs.
Zur Kultur im weiteren Sinne gehören auch die Bildungsprogramme der EU (Allgemeinbildende Schule, Hochschule, Berufsbildung), die jugendpolitischen Programm („Jugend in Aktion“) und die Medienprogramme. Eine Rolle spielen auch die Strukturfonds. Ein Höhepunkt der bisherigen Kulturpolitik der Kommission ist die „Mitteilung an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen“ vom 10.5.2007. Diese Überschrift nennt die relevanten Akteure im politischen System der EU. Vorangegangen war im Jahr 2006 das Angebot einer Kultur-Konsultation, das anscheinend nur wenige wahrgenommen haben (Ergebnisse stehen abrufbar im Netz).

Die 15-seitige Mitteilung besteht aus fünf Abschnitten (1. Einleitung, 2. Beitrag der EU zur Kultur, 3. Ziele einer europäischen Kulturagenda, 4. Neue Partnerschaften und Arbeitsmethoden, 5. Schlussfolgerung), auf die hier nur kursorisch eingegangen werden kann.

Die Mitteilung verwendet verschiedene Konzepte von Kultur. Sie startet mit der – mit einschlägigen Zitaten aus der Literatur unterlegten – „Definition“: „Kultur ist die Seele der menschlichen Entwicklung und Zivilisation. Die Kultur lässt uns hoffen und träumen, indem sie unsere Sinne anregt und neue Sichtweisen der Wirklichkeit bietet.“ Diese Begriffsbestimmung zielt offensichtlich nicht auf Kultur insgesamt, sondern ist eher eine poetische Beschreibung von Kunst. Daher wird im Text eine weitere Definition angeschlossen, die der Begriffsbildung der UNESCO entspricht und die nur sehr begrenzt mit dem zitierten Eingangssatz etwas zu tun hat: „Kultur soll verstanden werden als eine bestimmte Anzahl unverwechselbarer geistiger und materieller Züge, die eine Gesellschaft und eine gesellschaftliche Gruppe kennzeichnet. Darunter fallen Literatur und die Künste, aber auch Lebensweisen, Wertesysteme, Traditionen und Überzeugungen.“ Diesen folgt ein Zitat von Dario Fo, das sich wieder ausschließlich auf die Künste bezieht.

Die Kommission ist also weitgehend unentschieden in ihrer Kulturbestimmung. Sie weiß offensichtlich nicht, ob sie von Kunst oder von Lebensweisen sprechen soll. Selbst der „weite“ Kulturbegriff wird dabei noch eigenartigerweise eingeschränkt durch die Rede von einer „bestimmten Anzahl unverwechselbarer … Züge …“, wobei sich sofort die Frage ergibt, welches diese offenbar feststehende Anzahl ist, wer sie festlegt, wo man sie nachlesen kann. Im UNESCO-Kontext ist spätestens seit der Weltkonferenz in Mexiko im Jahre 1982 von der Kultur als „Gesamtheit(!) der unverwechselbaren geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Eigenschaften einer Gesellschaft oder sozialen Gruppe“ die Rede (siehe etwa die Präambel der Universellen Erklärung zur kulturellen Vielfalt aus dem Jahre 2001). Entweder hat sich die Kommission etwas bei der vorgenommenen Einschränkung gedacht oder sie hat nur schlampig abgeschrieben. In jedem Fall ist das Pendel zwischen engem (Kultur = Kunst) und weitem Kulturbegriff (Kultur = Lebensweise) kein Zeichen sorgfältigen Arbeitens. Aber vielleicht ist diese Präambel nur ein ideologisches Warmlaufen, das man schnell überlesen soll. Immerhin wird als eine zentrale Referenz die UNESCO-Konvention zur kulturellen Vielfalt angegeben.

Die EU beansprucht in derselben Präambel, ein erfolgreiches soziales und kulturelles Projekt zu sein, eine „sanfte Macht“, die sich auf die Menschenrechte, auf Solidarität, Toleranz, Meinungsfreiheit, Respekt, Vielfalt und Dialog der Kulturen stützt. Man muss an dieser Stelle einfach erwähnen, dass die EU in wirtschaftlicher Hinsicht alles andere als eine „sanfte Gewalt“ ist und vielmehr in allen Wirtschafts-Verhandlungen gemeinsam mit den USA alles daran setzt, dass die Armut in Afrika, Asien und Südamerika z. B. durch eine uneffektive Subventionspolitik im Agrarbereich immer größer wird. Will man eine weltweite Politik des Friedens und der Armutsbeseitigung, dann müsste sich der wirtschaftspolitische Kurs der EU völlig verändern. Dies zu erwähnen ist an dieser Stelle wichtig, wenn man ein Ziel der zukünftigen Kulturpolitik der EU, Kultur verstärkt als Medium der Außenpolitik zu sehen, bewerten will: Es soll nämlich offensichtlich mit der „sanften Macht“ einer kulturellen Repräsentation die harte Macht der Handelsvereinbarungen verdeckt werden. Hier wird Kultur zur bloßen Ideologie und zur Verschleierung einer brutalen Interessenspolitik.

Da offensichtlich die beiden Kulturdefinitionen im ersten Abschnitt nicht genügen, beginnt der zweite Abschnitt mit einer weiteren Definition: „Kultur“ erfasst die schönen Künste, die Kunstwerke, Kulturgüter und -dienstleistungen. Sie hat aber auch eine „anthropologische Komponente“: Sie ist Grundlage für eine symbolische Welt von Bedeutungen, Überzeugungen, Werten und Traditionen. Auch hier hat man vermutlich kursierende Begrifflichkeiten vermischt oder verwechselt. Entweder ist Kultur – etwa in Anschluss an Ch. Geertz – selbst die symbolische Welt, oder man spricht von den Künsten als Trägern der Bedeutungen, Werte etc.

Es folgt eine Auflistung der Kultur(politik)-Aktivitäten der EU, bei der es wichtig ist, dass der Einfluss der Ressorts außerhalb des Kulturressorts in den Blick genommen wird: Urheberrecht; Binnenmarkt und Beihilferegelungen v.a. in Hinblick auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
In Hinblick auf die Akteure werden die Empfehlungen des Ausschusses der Regionen und des Wirtschafts- und Sozialausschusses zur Rolle der Zivilgesellschaft erwähnt. Daraus wird als wichtiges strategisches Ziel die Entwicklung neuer Partnerschaften und Methoden der Zusammenarbeit abgeleitet.

Der Abschnitt über eine offensive kulturelle Außenpolitik ist stark von dem oben geäußerten Problem (Vorrang der Repräsentation; Kampf um Aufmerksamkeit im internationalen Wettbewerb), also einer stark instrumentalisierten Rolle von Kultur geprägt (S. 8).

Drei Zielbereiche werden (in Abschnitt 3) genannt:
Förderung kultureller Vielfalt und des interkulturellen Dialogs,
Förderung von Kultur als Katalysator für Kreativität im Rahmen der Lissabon-Strategie,
Förderung von Kultur als Teil internationaler Beziehungen.
Auf dieser Basis sollen „Stakeholder“, also auch zivilgesellschaftliche Organisationen, einbezogen werden. Vor allem soll als neue Steuerungsform die Methode der offenen Koordinierung nunmehr auch im Kulturbereich angewandt werden.

Inhaltlich gefüllt werden die drei Zielbereiche durch bekannte Strategien, etwa durch Förderung der Mobilität von Künstlern und Kunstwerken, durch eine Förderung der Schlüsselkompetenzen für lebenslanges Lernen, durch eine Förderung der Kulturwirtschaft u.a. durch eine Einbeziehung von Kultur in die Allgemeine Bildung (als „konkretes Input/Tool“).

Abschnitt 4 (Neue Partnerschaften und Arbeitsmethoden) klingt dabei ausgesprochen viel versprechend: „Die Kommission strebt an, einen strukturierten Dialog mit dem Sektor aufzubauen …“. Man will den Sektor „kartographieren“, ein Kulturforum einrichten, „Kulturbotschafter“ ernennen, Debatten anregen.

In der Binnensteuerung geht es um die Einführung der Methode der offenen Koordinierung. Man will eine „empirische Politik“ einführen, womit offensichtlich eine Verbesserung von empirischen Bestandsaufnahmen und Evaluationen gemeint ist. Und man will die Überprüfung der Kulturverträglichkeit (Abschnitt 4.4) verbessern.

5. Bewertung und Forderungen

„Europa“ und Europäische Union“ sind nicht dasselbe. Europa als Idee und Realität existiert schon lange, auch die Auseinandersetzung darüber, was alles zu Europa gehört. Die EU als eine politische Organisationsform eines Teils von Europa ist von diesem zu unterscheiden. Insbesondere betreffen fast alle Vorbehalte gegenüber „Europa“ nicht den Kulturraum, sondern die spezifische politische Organisationsform der EU. Vielleicht kann man sagen, dass diese Organisationsform nicht sonderlich gut geglückt ist. Vor der Gründung der Vereinigten Staaten gab es etwa von philosophiekundigen, lebenserfahrenen Politikern eine substantielle Auseinandersetzung über die richtige Verfassung in den berühmt gewordenen Federal Papers. In allen Nationalstaaten gab es verfassungsgebende Versammlungen, die sich die zukünftige politische Ordnung vor deren Inkrafttreten überlegt haben. Die EU ist pragmatisch als Wirtschaftsverband entstanden. Die Logik wirtschaftlichen Handelns prägt bis heute das politische Handeln der EU, und es ist zweifelhaft, ob dies jemals auszumerzen sein wird. Und trotzdem lohnt sich ein positives Verhältnis zu ihr. Denn es gibt keine andere Form. Es ist die Form, die sich entwickelt hat und die wir vielleicht sogar haben wollten.

Die EU als politisches Projekt ist ein völlig neuer Versuch, verschiedene eigenständige Staaten zu einem politischen Gebilde zusammen zu fassen. Man spricht davon, dass die EU ein politisches Gebilde „sui generis“ sei. Vermutlich war der Weg – entgegen der oft kolportierten Aussage Monets, beim nächsten Mal mit Kultur beginnen zu wollen – richtig, zuerst mit der ökonomischen Integration zu beginnen. Denn freie Märkte lassen sich nüchterner begründen als eine „Einheit in der kulturellen Vielfalt“. Vor allem lassen sich einfachere passfähige Ordnungsinstrumente entwickeln. Vielleicht sollte man es auch bei diesem ökonomischen Schwerpunkt belassen. Denn möglicherweise steht dem Versuch, eine emotionale Beziehung zu einer ambitionierteren EU zu entwickeln, das anthropologisch begründbare Argument entgegen, dass sich Emotionalität nur auf Nahräume beziehen kann. Dies schließt gerade nicht aus, zu Europa (als Kulturraum) eine positive Beziehung zu entwickeln. Ein solche pragmatische Sicht auf die EU würde diese auch von allzu weitreichenden, vermutlich nicht zu realisierenden Forderungen nach einer EU-bezogenen europäischen Identität entlasten.

In jedem Fall sollte die politische Organisationsform EU europäische Werte zu realisieren versuchen. Dazu gehören etwa (im Anschluss an O. Höffe):
Werte einer spezifischen politischen Kultur (freiheitliche Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gerechtigkeit, Volkssouveränität, starke Zivilgesellschaften, Gewaltenteilung, eine lebende politische Öffentlichkeit),
Werte einer spezifischen wissenschaftlich-philosophischen Kultur: Curiositas als Grundprinzip, eine besondere Rolle der Geisteswissenschaften, ein spezifisches Bildungsverständnis,
Werte einer spezifischen ökonomischen Kultur: Ressourceneffizienz, Sozialstaatlichkeit, Selbstachtung und Selbstverwirklichungen, Ökologie.
Es gehören hierzu die Grundwerte der Aufklärung wie Kritik, Vernunft, Freiheit und Fortschritt.
Insbesondere muss die Kulturpolitik der europäischen Union den oben genannten Werten verpflichtet sein. Es gehört dazu der Respekt vor der Mehrsprachigkeit, die Rolle der Menschenrechte, der Toleranz und ein Entwicklungstrend in Richtung Weltbürgertum.
Weitere kulturpolitische Grundwerte bzw. Leitziele sind die folgenden:
Das Recht auf Teilhabe (mit der Schaffung der notwendigen Voraussetzungen zu ihrer Realisierung), Friedenssicherung als vielleicht wichtigstes Ziel der EU, der Respekt vor der Vielfalt der Kulturen auch im Sinne von „Kultur als Lebensweise“,
die Erhaltung der kulturpolitischen Souveränität der Mitglieder.
Die Mitteilung zur Kulturpolitik könnte durchaus einen Paradigmenwechsel in der Kulturpolitik der Kommission einläuten. Natürlich stört die Beliebigkeit der Kulturbegriffe. Natürlich wird an fast keiner Stelle davon abgesehen, die Relevanz der jeweils angesprochenen kulturellen und kulturpolitischen Aktivitäten für die Wirtschaft hervorzuheben. Natürlich liegt der gesamten Mitteilung daher ein instrumentelles Verständnis von Kultur zugrunde. Dies gilt auch und gerade dort, wo es um die (neue) Rolle von Kultur in der Außenpolitik geht.

Trotzdem kann man diese Mitteilung als Schritt in die richtige Richtung betrachten:
Es wird ein weites Verständnis von Kulturpolitik vertreten, das die hohe kulturpolitische Relevanz kulturfremder Ressorts betont. Dies ist ein Erkenntnisstand, von dem die meisten nationalen Diskurse noch weit entfernt sind.
Man bemüht sich zudem um eine Art Kohärenz der Kulturprogramme i.e.S. (also einschließlich der Bildungs- und Jugendprogramme). Gerade in diesem Feld hat kürzlich eine Auftragsstudie der Universität Luxemburg eine weitgehende Unübersichtlichkeit festgestellt.
Man will Kultur und kulturelle Bildung stärker im Kernbereich der EU-Politik verankern (auch wenn entsprechende Haushaltskonsequenzen noch nicht vollzogen sind).
Man sieht Kultur(politik) im Kernbereich gesellschaftlicher Problem- und Konfliktlagen (Gewalt, Ausschluss von Teilhabe, Armut, Friedenssicherung). Daraus ergibt sich notwendig ein Verständnis von Kulturpolitik als Gesellschaftspolitik (auch wenn im Text immer wieder ein Kunstdiskurs – gerade bei den ausgewählten Zitaten – in den Vordergrund tritt).
Man sieht Kulturpolitik daher im Kontext der großen Defizitfelder der EU: eine mangelnde Öffentlichkeit, eine fehlende kulturelle Identität und eine mangelhafte politische Legitimation.
Insbesondere sieht man – vielleicht gerade aus den letztgenannten Gründen – die Notwendigkeit neuer Partnerschaften und Regulierungsformen.
Für die Zivilgesellschaft ist diese Mitteilung eindeutig ein Angebot, sich mehr und besser in Prozesse der europäischen Politik einzuklinken. Dies ist leicht möglich, denn wesentliche Themen des Deutschen Kulturrates finden in dieser Mitteilung eine Resonanz:
Die immer wieder notwendig zu betonende besondere Rolle kultureller Güter und Dienstleistungen (einschließlich der Konsequenzen für den Binnenmarkt und die Debatte über Dienstleistungen von allgemeinem Interesse),
die besondere Rolle des Kulturbereichs als Arbeitsmarkt und Wirtschaftsfaktor, allerdings auch die oft prekäre Situation der Beschäftigten,
die Rolle der Künste als wichtigem Teil der Kultur,
die Rolle der kulturellen Bildung in allen Prozessen der formalen und non-formalen Bildung,
eine offensive Nutzung der Kulturverträglichkeitsklausel,
die Chancen der neuen UNESCO-Konvention zur kulturellen Vielfalt,
die Debatte über die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft („Leitkultur“),
die wachsende Rolle der Zivilgesellschaft und ihrer Organisationen.
Der Deutsche Kulturrat wird das Diskussionsangebot, das in dieser Mitteilung steckt, annehmen und eine umfassende Positionierung erarbeiten.

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