Auch bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik haben sich die Perspektiven mit dem Amtsantritt Harry Vogts entschieden geweitet. Vogt, Musikredakteur beim Westdeutschen Rundfunk und seit elf Jahren zuständig für die künstlerische und inhaltliche Gestaltung der Wittener Kammermusiktage, nimmt das „Neue“ im Titel als ständige Herausforderung. Neue musikalische und klangliche Ausdrucksmöglichkeiten, die vor allem die Live-Elektronik den Komponisten zur Verfügung stellt, aber auch die Vernetzung der Musik mit anderen, oben genannten Kunstformen fanden und finden in der Wittener Programm-Dramaturgie in oft überraschenden Querverbindungen ihren Niederschlag.
Ein Kammermusikfestival, auch eines für neue Musik, präsentierte sich früher in strengen Grenzen: Neue Werke für traditionelle kammermusikalische Besetzungen, mit und ohne Klavier oder kleinem Schlagzeug, Streicher und Bläser getrennt oder pikant gemischt, gelegentlich ein Vokalist oder ein Kammerchor. Das war alles. Das hat sich gründlich geändert. Auch Kammermusiker drängt es zum Musiktheater – das Wort Oper wird tunlichst vermieden. Und die dramaturgischen Köpfe in den Festivaldirektionen nutzen die Chance und verwandeln die Musica-Nova-Stätten in medienästhetische Laboratorien, in denen Musik experimentierfreudig mit den Errungenschaften der Neuzeit, mit Live-Elektronik, mit Film, Video und Malerei, mit Tanz und Theater , Pantomime, Performance und Installationen gekreuzt erscheint. Auch bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik haben sich die Perspektiven mit dem Amtsantritt Harry Vogts entschieden geweitet. Vogt, Musikredakteur beim Westdeutschen Rundfunk und seit elf Jahren zuständig für die künstlerische und inhaltliche Gestaltung der Wittener Kammermusiktage, nimmt das „Neue“ im Titel als ständige Herausforderung. Neue musikalische und klangliche Ausdrucksmöglichkeiten, die vor allem die Live-Elektronik den Komponisten zur Verfügung stellt, aber auch die Vernetzung der Musik mit anderen, oben genannten Kunstformen fanden und finden in der Wittener Programm-Dramaturgie in oft überraschenden Querverbindungen ihren Niederschlag. So beschäftigen sich die Wittener Kammermusiktage immer wieder auch mit dem Musiktheater, präsentieren Werke, die aus Musik, Klängen, Texten, Licht und Spielaktionen neue Formen eines nicht-narrativen musikalischen Theaters gewinnen, wo die Einheit aus Klängen, Licht und gestischen Zeichen im Raum für sich einen eigenständigen szenischen Ausdruck findet. In den so „komponierten“ Räumen können aber auch andere Aktionen stattfinden, „Spiele“ zwischen Figuren, Sprachexerzitien, auch Psychoanalytisches wie in Salvatore Sciarrinos vor zwei Jahren in Witten uraufgeführtem Einpersonenstück „Infinito nero“, für Stimme und Ensemble, das die Obsessionen einer Nonne in komplizierten kompositorischen Strukturen reflektiert.In diesem Jahr hatten Georges Aperghis und Silvia Fómina neue Werke für die szenische Präsentation in Witten geschrieben. „Machinations“ nennt Aperghis, 1945 in Athen geboren und seit 1963 in Paris lebend, sein „Musiktheater“ für Stimmen, Live-Elektronik und Videoprojektion. Auf der Bühne sitzen vier Frauen an vier einzelnen quadratischen Tischen – siehe unser Bild oben auf dieser Seite. Nur Köpfe, Hände und ein Stück der Oberkörper sind sichtbar. Die vier beginnen, in Phonemen zu sprechen, stammelnd, stotternd, rhythmisch gehackt.. Allmählich bilden sich einzelne Worte heraus, Satzbrocken. Affekte äußern sich, es entsteht „Sprache“. Mit „Sprache“ werden auch Gegenstände bezeichnet, die die Menschengeschichte begleiten: Laub, Steine, Sand, Muscheln, Federn, Knochen, Hände, Haare – die Frauen hantieren mit diesen Gegenständen, die über kleine Videokameras auf großen Bildschirmen erscheinen, die über den Frauenköpfen hängen. Man sieht auch, wie die Frauen Knöpfe, Kastanien oder kleine Stöckchen nebeneinander legen, wie früher beim Zählen. Dabei ergeben sich auf den Bildschirmen Anordnungen „wie aus einem Computer“, doch behält alles einen spielerischen, zufälligen Gestus, ist mehr Fantasiespiel als berechnete Planung.
Hinter den Bildschirmen sind vier Lautsprecher postiert, rechts sitzt der Regisseur am Computer: das „männliche Prinzip“. Es kontrolliert das Spiel der Frauen, manipuliert und akzentuiert Stimmen und Reden, sendet eigene Bildzeichen aus der Computersprache auf die Videoschirme.
Bewusst verzichten Aperghis und sein Text-Mitarbeiter Francois Regnault auf alles Narrative und konkret Ausdeutbare. Die „Zeitreise“, die sie ankündigen, führt von einfachen Formen des Spielens mit Naturgegenständen über das „intelligente“ Würfelspiel und die „Kunst“ der Automaten bis zu heutigen Computerprogrammierungen. Aperghis und Regnault wollen nicht den alten Dualismus von Mensch und Maschine beschwören, vielmehr möchten sie in einer eher unbestimmten Form die Wahrnehmungsfähigkeit schärfen: Wie heute der Computer tradierte Ordnungsvorstellungen verändert und neu strukturiert. Das „weibliche“ Prinzip behauptet dabei für Aperghis eine bewahrende Funktion. Frauen seien auch Mütter, dem Ursprung näher. Sie tragen noch die Laute in sich, mit denen der Mensch einst die Dinge, die er sah und ergriff, bezeichnete, ihnen den „Namen“ gab. Das klingt, so wie Aperghis es in einem begleitenden Kommentar formuliert, scheinbar „reaktionär“, beschwört ein uns eher antiquiert anmutendes Frauenbild. Gleichwohl erscheint es nicht unwichtig, im Dualismus „Männlich – Weiblich“ zugleich das Widerstandspotenzial zu erkennen, das sich, wie hier im „Spiel“, der völligen „Maschinisierung“ des Menschen – des Lebens – zu widersetzen vermag.
Diese zweifellos aktuelle und auch brisante Thematik wird von den beiden Autoren jedoch nicht kritisch-aggressiv, vielmehr spielerisch-leicht und streckenweise äußerst poetisch vorgetragen. Alle Ausdruckselemente befinden sich in schwebender Balance, auch im „Dialog“ mit dem „Klangraum“, den der Komponist Aperghis aus Sprachstrukturen, rhythmischen Mustern und Computerimprovisationen erstellt. Von dem gemeinsam mit dem Pariser Ircam-Institut hergestellten „Machinations“-Theater geht eine eigenartige, kühl-faszinierende Wirkung aus, eine technizistische Magie gleichsam, die nicht zuletzt deshalb zu bannen vermochte, weil die Aufführung sich durch höchste technische Perfektion auszeichnete. Die vier „Stimmen“ mit der famosen Donatienne Michel-Dansac an der Spitze (auf unserem Foto die dritte von links) sowie Geneviève Strosser, Sylvie Sa- coun und Sylvie Levesque breiteten Aperghis’ Sprech-und Lautpartitur virtuos und mit subtilen rhythmischen und klangfarblichen Valeurs aus. Olivier Pasquet spielte und sprach den „Computer“. In Witten fand das Werk, das auch in Paris gezeigt wurde, beim Publikum einhellige Zustimmung.
Die Komponistin Silvia Fómina, 1962 in Argentinien als Tochter russischer Emigranten geboren und seit 1989 Privatschülerin von György Ligeti, erstellte im Auftrag des Westdeutschen Rundfunks einen Auszug aus „Schah Mat“, einer von den Salzburger Festspielen georderten „Deconstructive Chess Opera“. Unter dem Titel „Endspiel: Ouvertüre“ wurde in Witten ein textlich eigenständiger Ausschnitt von „Schah Mat“ vorgestellt. In „Endspiel“ erscheinen sechs Solostimmen, ein Kommentator und Figuranten. Sie gruppieren sich um ein und auf einem Schachbrett, das die Spielfläche darstellt. Das Arditti String Quartett stellt das „Orchester“, Primarius Irvin Arditti sitzt im weißen Arbeitsanzug mitten auf dem Schachbrett unter den Akteuren, die drei anderen spielen vom Rand aus. Silvia Fómina beschreibt ihr Konzept wie folgt: Die Figuren bewegen sich exakt nach den Regeln des Schachspiels. Aus dem Kontrast von extremer Zwangsläufigkeit in der Bewegung und der Unvorhersagbarkeit textlich-musikalischer Reaktion auf diese Zwänge ergibt sich die zeitlich-räumliche Struktur der Aufführung. Jede der abgeschlossenen Szenen zielt darauf, die menschlichen Bewegungs- und Sprachcharakteristika durch Wort, Klangbewegung und Stille zu kultivieren... In den Texten sind die Standardthemen okzidentaler Endspielstimmung – Langeweile, Veränderungsangst, Überflussgefühl, Bewegungslosigkeit – in die plane Sprache aphoristischer Äußerung übertragen. Im Spiel wird dann der Schwarze König vom Turm mattgesetzt. Der Turm benutzt dabei die jiddische Sprache – wie der Text insgesamt eine mehrsprachliche Struktur aufweist. Der König ist als pfauenhafter Vogelmensch kostümiert – Verweis auf barocke Divertissements, zugleich auf feudale Herrschergewalt. Auch in den Kostümen ist das „Endspiel“ zwischen den Zeiten beziehungsvoll ausgespannt.
In Silvia Fóminas Kammeroper enthalten die „Endspiel“-Situationen neben gesellschaftskritischen Implikationen zugleich eine existenzielle Dimension, die aus eigenen, leidvollen Erfahrungen gewonnen wurde. Dieses existenzielle Grundgefühl findet sich auch in der klanglich subtil aufgefächerten Musik, die in ihrer Pentatonik etwas Schwebendes, Ausbalanciertes gewinnt, ein Gleichgewicht, das jedoch in jedem Augenblick verloren gehen kann. Der Absturz droht immer. Wie stark die Komponistin sich von politischen und gesellschaftlichen Phänomenen bedrängt fühlen kann, das zeigte sie mit ihrem persönlich gesprochenen „Nachwort“ zur Aufführung. Als Jüdin muss sie auf bedenkliche Vorgänge in der politischen Szene der Gegenwart so empfindsam reagieren. Es ist auch eine Frage der Sensibilität. Wobei man, gerade wenn man diese Sensibilität spürt, es beklagen muss, dass die szenische Ausführung in Witten, vermutlich aus ungenügenden Probenzeiten, ziemliche Wünsche offen ließ. Ein erfahrener Regisseur hätte die szenischen Arrangements sicher perfekter und damit zugleich überzeugender realisieren können. Die musikalische Seite der Uraufführung lag bei den Ardittis und den Neuen Vocalsolisten Stuttgart in besten Händen. Jörg Bussmanns Bühnenentwurf, seine Lichtregie sowie die fantasievolle Ausstattung Jo van Nordens sicherten der Aufführung zumindest optisch das professionelle Niveau.