„Das imperative Werk“ – gibt es das noch? Gab es das je? Das Musikstück, das gänzlich aus der Imagination des Autors entsteht, ohne „Mithilfe“ eines Interpreten? Wobei Mithilfe ja auch allein im Gewärtigen und Erfahren der Fähigkeiten von ausführenden Musikern liegen kann, Erfahrungen, die dann bewusst oder unbewusst abgespeichert in den Kompositionsprozess eines Werkes einfließen. Auch wenn nicht alles gleich „auf den Leib geschrieben“ sein muss (welch schöne Vorstellung eigentlich), sind wohl alle Kompositionen irgendwie „Gemeinschaftswerk“ zwischen erfindender und darstellender Intelligenz.
Um dieses schwer zu fassende „Irgendwie“, aber auch um die heute immer deutlicher zu Tage tretende Tendenz von expliziten Gemeinschafts- oder Ensemblekompositionen ging es beim Symposion der Münchner Gesellschaft für Neue Musik (MGNM), zu dem sich im vergangenen November im Münchner Orff-Zentrum unter der konzeptionellen Regie von Christoph Reiserer namhafte Komponisten, Musikwissenschaftler und Interpreten zusammen- gefunden hatten.
Reiserer, selbst Komponist und Interpret, stellte in seinem Einführungsvortrag das „imperative Werk“ mit seinen eindeutigen Vorschriften zur Realisierung gegen das „offene Werk“, das die Aufgabe der Komposition anhand vorgegebener Materialien an den oder die Interpreten überträgt und grenzte diese gegen die Improvisation ab, die er als „Bereich ohne vorhergehende kompositorische Arbeit“ bezeichnete, obwohl improvisierende Musiker gerne auch von ihrem Tun als „real time composition“ sprechen.
Beim offenen Werk balanciert der Interpret auf einem dünnen Seil und positioniert sich zwischen dem „was mir plausibel ist“ (so die Pianistin Sabine Liebner, Maßstab setzende Interpretin zahlreicher Werke von Komponisten der New York School wie John Cage oder Christian Wolff) und „dem, was der Komponist vielleicht gemeint hat, aber nicht ausformuliert hat“. Aber: „genau der Spielraum zwischen Determination und Indetermination ist doch der Spielraum, den ich immer als Interpret auszufüllen habe. Hier ist er nur größer. Das reizt mich.“
Zoro Babel, auch er vereinigt in sich den Interpreten, Komponisten und Konzepterfinder, pflichtete emphatisch bei und lenkte den Blick auf das weite Feld der Koautorschaft, auf kreative Konstellationen also, wie sie beispielsweise in der Theaterarbeit gang und gäbe sind, in denen „längst nicht mehr klar ist, welcher Beitrag von wem stammt, und am Schluss steht dann Musik: Zoro Babel. Aber gerade dieses Miteinander ist es, was uns über uns und das Gegebene hinausführt.“
Für Laura Konjetzky, Komponistin und Pianistin, geht es in ihren „inszenierten Programmen“ auch über das „Darüberhinaus“, indem sie verschiedene Medien und eine auskomponierte Choreografie der Bewegungen des Interpreten miteinbezieht. Bernhard Weidner vertrat den Part des „Nur“-Komponisten und betonte, sich nicht als „Defizit-Modell“ zu sehen. Seine Aufgabe sei, so präzise wie möglich seine Vorstellungen, die für ihn ja immer ganz ausdrücklich mit seiner Person und seinem „In-der-Welt-sein“ zu tun haben, zu verschriftlichen, um eine sinnfällige Darstellung des Gedachten zu ermöglichen.
Dass bei der Frage um das „Gemeinschaftliche“ an Kompositionsprozessen der Computer als Instrument eine entscheidende Rolle spielt, zeigte die Aufführung zweier Gemeinschaftskompositionen, die die Gruppe TRIONYS (Rainer und Martin Bürck, Günter Marx) entwickelt hat: Der Rechner fungiert zum einen als kollektives „Gedächtnis“ der Gruppe, der die in zahllosen Sitzungen als Samples gesammelten, improvisatorisch gefundenen Materialien dann wieder für einen zweiten Strukturierungsprozess zur Verfügung stellt und verhält sich zum anderen in der Aufführung als maschineller Interpret, mit dem die menschlichen Interpreten auch wieder interagieren.
Dankt das Werk also ab und übernehmen Algorithmen die Führung? Michael Zwenzner, Musikwissenschaftler mit langer Verlagserfahrung, sieht das nicht so. Für ihn ist die Begriffsverbindung „Kreative Interpreten“ ein Pleonasmus. „Seitdem es komponierte, notierte Musik gibt, gibt es kreative Interpreten.“ Dass alternative Formen des kreativen Entstehungsprozesses den tradierten Kompositions- und Werkbegriff in Frage stellen, glaubt er nicht. „Ohne Kodifizierung eines Werkes wird der Begriff der Interpretation hinfällig. Interpretation bedeutet in jedem Fall und für jede einzelne Aufführung das Erbringen kreativer ‚Ergänzungsleistungen’ durch den Musiker.“
Dass eine „sportive Höchstleistungs-ideologie übersteigerten Körperkults und virtuoser Überbietungsstrategien“ die ursprüngliche Interpreten-Kollegialität und „kreative Komplizenschaft“ zwischen Komponist und Interpret im heutigen Musikbetrieb, auch dem Betrieb der Neuen Musik, zu überwuchern drohen, gab Zwenzner in seinem Referat zu bedenken. Vielleicht liege es ja auch daran, dass Musiker wie Interpreten heute verstärkt nach der Alternative der „Kollektivität“ suchten.