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BRDDRatlos

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Zehn Jahre zusammen. „Ost bleibt Ost. West bleibt West“, provozierte das BR-nmz-Magazin „taktlos“ und wollte unterstellen, dass die Mauer aus unseren Köpfen und Taten noch nicht heraus ist (eine Dokumentation dazu finden Sie im Dossier unserer Allgemeinen Ausgabe). Die versammelten Debattanden wollten sich darauf nicht festlegen lassen. „Ja, ja, damals gab es schon so manches, jetzt aber heißt es am Status quo anzupacken. Das Überleben ist ohnehin schwer genug“, lautete in etwa der Common Sense. Der Blick nach vorn wurde protegiert, neu einrichten wolle man sich. Altes helfe da nur wenig. Und in dieser Überzeugung wollte man auch fortdauernde Barrieren zwischen Ost und West nicht mehr sehen, nicht anerkennen. Woran liegt das, fragt man sich. Sind wir durch solche Scheuklappen nicht wieder einmal im Begriff, eine Chance, die aus Reibung von Heterogenem, von Widerstandspotentialen hervorwachsen könnte, zu verspielen? Als man 1989 auf der Mauer tanzte, dachten doch die wenigsten, die frohgemut in die Zukunft blickten, daran, dass nun der Osten einverleibend untergebuttert würde. Man rechnete mit neuen Energien, mit Mechanismen der Befruchtung, mit Weitung, größeren Horizonten. Kulturell müssen wir nach zehn Jahren einsehen, dass davon so gut wie nichts eingelöst wurde. Warum? In den 80ern befand sich die westdeutsche, westeuropäische Avantgarde (oder zumindest die Produzenten der Neuen Musik) im Dauertrauma umgreifender Ratlosigkeit. Wenn die einen ihr „Anything goes“ verkündigten, führten die anderen diesen Satz auf seine innere Wirklichkeit eines „Nichts geht mehr“ zurück. Im Geplänkel dieser Auseinandersetzung, in das so gut wie alle schöpferischen Musiker involviert waren, ließen sich glasperlenspielartig Positionen abstecken, man jonglierte mit Postmodernismen und anderen Theoremen und redete sich beruhigend ein, dass alles nur Schattengefechte in einer Übergangsphase seien. In dies Vakuum aber stieß die Wiedervereinigungs-Wende. Plötzlich hatte man es von Seiten des Ostens mit wirklicher, besser noch real existierender Ratlosigkeit zu tun. Denn dort waren alle Regelsysteme mit einem Mal außer Kraft gesetzt worden. Alle Formen künstlerischer Auseinandersetzung, seien es affirmative oder auch die versteckten, verkleideten oder auch offen kritischen, liefen plötzlich ins Leere. Freilich gelang es manch Affirmativen in Form des damals sprichwörtlichen Wendehalses neue Brotherrn anzubaggern; ohne zumindest kleineren Gesichtsverlust ging das aber selten ab. Die kritischen Geister aber mussten häufig erkennen, dass Stil, oft auch die Stoßrichtung nicht mehr en vogue waren. Der nun in aller Deutlichkeit aufgebrochene Rechts-Links-Wirrwarr trug zudem seinen Teil zur allgemeinen Verunsicherung bei. Zwei verschiedene Ratlosigkeiten trafen also aufeinander, Ratlosigkeit wurde zur Potenz erhoben. Heraus kam die gesamtdeutsche Impotenz, die wir alle heute wahrnehmen. Es scheint wie bei der Staatsverschuldung zu sein: Würde man die Schulden Ost und die Schulden West um das Jahr 1990 zusammenzählen, so käme man wohl bei weitem nicht auf den Betrag, auf den sich die heutigen Gesamtschulden belaufen. Ebenso ist die ins Quadrat genommene Ratlosigkeit weit größer als die Summe ihrer Ost und West-Anteile. Fraglos hat sich ja im Grunde viel geändert und das „taktlos“-Motto vom „Alles beim Alten“ hatte hierin seinen provokanten Stachel. Alte Leit- und Feindbilder sind durchwegs nicht mehr aufrechtzuerhalten. Doch gerade dadurch aber, dass in diesem Vakuum so gut wie keine neuen Energien (etwa durch Projekte gegenseitigen Zusammentragens, dialektischen Austauschs) erschlossen wurden, dass sich nur der Zustand des In-der-Luft-Hängens perpetuierte, entsteht der Eindruck, als sei die Mauer nie gefallen. Sie ist jedoch gefallen, aber bislang ist es weder gelungen, die ehemalige Grenzlinie perspektiverweiternd zu überqueren, noch wenigstens aus den Trümmern ein phantasievolles Gemäuer zu errichten. Schuld sind wir selbst.

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