Warum ist es so schwer, wirklich interessante und originelle Musik zu erfinden? Hier der Versuch einer Antwort: Fürs Komponieren braucht man eine solide Mischung aus handwerklichem Können und der Fähigkeit, einerseits existierende musikalische Sprachen, Schriften und Techniken zu kennen und neu interpretieren oder amalgamieren zu können, dabei aber immer wieder ungewöhnliche Entscheidungen zu treffen, die das schon Bekannte entweder grundsätzlich verändern oder zumindest interessante neue Impulse geben.
Als Musiker benutzen wir oft Begriffe wie „Ausdruck“, „Intuition“, „Spannung“ und „Qualität“ und versuchen diesen einen objektiv messbaren Wert zu verleihen. Leider ist es nicht so einfach – was der einen Hörerin ausdrucksvoll erscheint und sie innerlich berührt, mag dem nächsten Hörer abgeschmackt und banal vorkommen. Musikalische Prägung spielt eine große Rolle, die Kultur, in der wir aufwachsen und natürlich auch die Scheuklappen, die entstehen, wenn man sich vielleicht zu intensiv auf einen einzigen musikalischen Stil festlegt. Und was ist „intuitiv“? Man könnte etwas Komplexes einerseits vollkommen zufällig ins Klavier klimpern oder es durch Systeme oder Algorithmen wohlfeil begründen – das Ergebnis kann oft exakt gleich klingen! Und was ist „spannend“? Für den einen ist es ein „Hineinhorchen in die Stille“, für die andere ist exakt diese Formulierung vielleicht esoterischer Quatsch und sie wünscht sich, dass man irgendwie mitgerissen wird. „Qualität“ wird wiederum oft dadurch bemessen, ob das Hergestellte auf „richtigen“ oder „falschen“ (=soliden) Entscheidungen beruht. Für viele akademisch geprägte Komponierende ist eine Oktave unerträglich, dann gibt es aber Werke, die sich nicht das Geringste um solche „Regeln“ scheren und trotzdem hervorragend funktionieren.
Es gibt Komponierende, die alles „richtig“ machen und ganz klar in einem bestimmten Stil komponieren, mit dem sie sich identifizieren (was übrigens nicht unbedingt heißt, dass sie diese Musik selbst gerne hören würden, auch das gibt es). Schreiben sie automatisch „gute“ Musik? Nein. Denn es „richtig“ zu machen, ist allein noch nicht interessant für einen Hörenden, das ist ungefähr so, wie wenn man einen Film vor allem dann gut findet, wenn die Kamerafrau die Filmrolle immer richtig eingelegt hat. Es „richtig“ zu machen, sagt rein gar nichts über ein Kunstwerk aus. Und was ist überhaupt „richtig“? Sind das nicht Kriterien, die auch immer kulturell geprägt sind und sich auch historisch verändern? Kunst ist keine empirische Wissenschaft – sie ist ein freies Spiel mit Möglichkeiten.
Es gibt immer ein Ennui mit dem, was schon existiert (zumindest im ungeduldigen Abendland – unser Fluch wie auch Segen). Es gab einen Zeitpunkt, an dem außergewöhnliche Spieltechniken auf Instrumenten frisch wirkten, heute gibt es tausend Lehrbücher mit hunderttausend Flöten-Multiphonics… und es ist zunehmend langweilig geworden, diese einst interessanten Möglichkeiten auszuloten. Und wann wird etwas als „neu“ wahrgenommen? Nicht etwa, wenn es komplett außerhalb von allem steht, was man kennt (dann versteht man gar nicht das Neue daran, weil es keinerlei Bezugspunkt gibt), sondern eher dann, wenn etwas, was schon latent da ist, zu neuen Spitzen getrieben wurde. Ein Schönberg zum Beispiel hat keineswegs eine komplett neue Musik erfunden, sondern hat Tendenzen, die sich vorher schon in der Spätromantik abzeichneten, relativ simpel systematisiert. Damit hat er es Komponierenden etwas leichter gemacht, nicht mehr in alte harmonische Muster zu verfallen, mit denen man sich nur noch schwer von der Masse absetzen konnte. Serielle Musik trieb diese Methodik dann auf die „Spitze“, was eine Zeitlang auch interessant war, aber dann auch wieder überhaupt nicht mehr, da plötzlich alles gleich klang. Zu jedem Zeitpunkt wartet man also immer auf etwas Originelles, das in irgendeiner Form eine „Zuspitzung“ darstellt und damit Aufsehen und Wirkung erzielt. Das Gespür für die richtige „Zuspitzung“ zur richtigen Zeit macht den Erfolg eines Komponierenden aus.
Und warum ich das alles erzähle? Weil ich all dies ständig meinen Studierenden erzähle, um ihnen Mut zu machen, dass es nicht den einen „richtigen“ Weg gibt, sondern dass sie sich diesen in gewisser Weise selbst erkämpfen müssen. Und das oft gegen das Naserümpfen von denen, die meinen, dass sie die Weisheit mit Löffeln gefressen haben.