Eines der Hauptprobleme beim Komponieren ist es, die musikalische innere Welt so in Noten zu übertragen, dass sie von anderen verstanden und umgesetzt werden kann. Wie schwierig das ist, beweist schon die Interpretationsgeschichte von berühmten klassischen Werken. Je weniger dasteht, desto freier ist der Interpret, deswegen kann zum Beispiel Bach so unterschiedlich gespielt werden (meistens allerdings leider immer unterschiedlich langweilig im mezzoforte und gepflegtem, historisch falschen Pedallegato). Wenn mehr drinsteht, mag der Interpret zwar auf den ersten Blick weniger Freiheiten haben, in Wirklichkeit sind aber auch die Interpretationen ausführlich bezeichneter Werke so unterschiedlich wie deren Interpreten.
Beethoven – der für seine Zeit sehr penibel (wenn auch nur für seine Kopisten leserlich) notierte – ist ein Paradebeispiel. Als einer der ersten Komponisten benutzte er Metronomzahlen, die dann aber erst einmal über ein Jahrhundert ignoriert wurden, bis Artur Schnabel den Versuch wagte, sie umzusetzen. Ein paar Jahrzehnte später wiederum behauptete die Pianistin Grete Wehmeyer, dass sie als halb so langsam zu verstehen seien, was eher zur Verwirrung als zur Klärung beitrug. Trotz seiner genauen Bezeichnung klingt jede Beethoveninterpretation anders. Gottseidank! Denn man merkt, dass der große Beethoven das interpretierende Individuum mitgedacht hat, ja sich sogar wünscht. Eine komplett festgelegte, immer gleich klingende Interpretation wäre ihm ein Gräuel gewesen. So etwas gab es zu seiner Zeit auch nicht, was heute anders ist.
Viele junge Komponisten komponieren heute mit einer Art Absolutheitsanspruch – sie wollen, dass es exakt so klingt, wie es ihnen ihre MIDI-Programme auf dem Computer vorspielen. Diese Programme können perfekt den Takt halten, komplexeste rhythmische Modulationen realisieren, treffen garantiert jeden Ton … aber eines können sie nicht: ihr Spiel überzeugend emotional anreichern. Jedes Rubato ist hier nicht empfunden, sondern entspricht einem bewusst „ungenauen“ Algorithmus, der auf mathematische Weise dem normalen Takt entgegenläuft. Das ist aber nie mit Emphase oder Ausdruck angereichert, sondern entspricht allein dem Wunsch der Programmierer, die synthetische Musik nicht ganz so „gerade“ klingen zu lassen.
Daher sind Partituren junger Komponisten oft emotional verödet. Das Fagottsolo mag auf fünf Systemen mit hunderten von Multiphonics fast schon absurd genau notiert sein, der Spieler weiß, WAS er spielt, aber nicht, WIE er es spielen soll. Daher sind auch Proben Neuer Musik meistens nur noch aufs „exakte Abliefern“ ausgerichtet, der Ausdruck kommt zuletzt oder nie. Sogar in der klassischen Musik ist das im Zeitalter perfekter Aufnahmen immer mehr der Fall – das Geheimnis des emotional berührenden Spielens oder Singens geht immer mehr verloren, und sehnsüchtig hört man sich alte Aufnahmen an, in denen das noch funktioniert.
Meine Studenten sind immer ganz erstaunt, wenn ich ihnen daher rate: Schreibt rein, was ihr euch hier als Ausdruck vorstellt, schreibt nicht nur die schnöde Metronomzahl und eine Nullangabe wie „schnell“ oder „langsam“! Denkt euch etwas aus, schreibt „schleichend“, „warm“, „geheimnisvoll“, „grummelnd“, „ängstlich“ zur Tempoangabe hinzu, regt die Fantasie der Spieler an, damit sie sich wirklich Mühe geben, einen echten Affekt (und nicht nur technische Spieleffekte) zu erzeugen! Nutzt das reiche wunderbare italienische Vokabular, das uns unsere Vorgänger hinterlassen haben, schreibt „perdendosi“, „mormorando“, „lusingando“ – allein schon im Wörterbuch nachzuschauen wird dem heutigen Interpreten neue Anregungen geben! Alles ist besser als das abstrakte und oft seelenlose Notenbild, das allein Realisierung, aber keine Hingabe fordert. Und mit dem Mut zur innigen Emotion entsteht vielleicht auch wieder eine innigere Musik, als es heute der Fall ist. Musik, die nicht nur für Wettbewerbsjurys und Kollegen geschrieben wird, sondern die sich wirklich zum Ziel setzt, einen Hörer mitzureißen und zu bewegen. Das würde ich mir wünschen!